Auf dem Weg ins Jenseits: die Reise in den "Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm
La découverte d'un nouveau monde par les héros des contes des frères Grimm.
Dass die Reise ein konstitutives Merkmal des Märchens und das Gerüst seiner Handlung bildet, hatte bereits Wladimir Propp 1946 in seinen Historischen Wurzeln des Zaubermärchens, dem historischen Pendant zu der 1928 erschienen Morphologie des Märchens, erkannt : "Die Komposition des Märchens beruht auf der Bewegung des Helden im Raum." (Propp, 1983, 56).
Tatsächlich löst die Abreise des Helden die eigentliche Märchenhandlung aus, sei es, weil er verjagt wird, wie in "Frau Holle" (KHM 24), oder die Flucht ergreift, wie in "Der Liebste Roland" (KHM 56), oder aber, weil er aus freien Stücken in die weite Welt geht, etwa um das Fürchten zu lernen (KHM 4) oder um das Wasser des Lebens zu suchen (KHM 97). Die 1812-1815 zum ersten Mal veröffentlichte Grimmsche Märchensammlung, die zu Lebzeiten der Grimms um das fünffache erweitert und sieben Mal neuaufgelegt wurde, ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Man denke zum Beispiel an "Hänsel und Gretel" (KHM 15): solange die Kinder zu Hause bleiben, kann die böse Stiefmutter ihnen nicht wirklich schaden; erst als sie das Haus verlassen, beginnt die eigentliche Handlung.
Vor allem kommt die Reise einem Ausnahmezustand gleich, einem Bruch im gewöhnlichen Lauf der Dinge. Dieser Bruch ist aber notwendig: Bliebe der Held zu Hause, würde er weder den Drachen bekämpfen noch die Königstochter heiraten, wie es im Märchen "Die zwei Brüder" (KHM 60) geschieht. Denkt man an die volkstümlichen Glaubensvorstellungen, die sich in den europäischen Märchen niedergeschlagen haben, so stellt man fest, dass die Raumvorstellung durch das Gegensatzpaar Haus versus Weg bestimmt wird. Auf der Reise verlässt man das Vertraute, den Bereich der schützenden Ahnen, und bewegt sich in Richtung des Unbekannten und Gefährlichen.
Ein anderer Gegensatz ist für die Zaubermärchen bezeichnend: jener zwischen der ursprünglichen Welt des Helden und der wunderbaren Welt, in die er sich begibt und die allgemein als Jenseits bezeichnet werden kann. Unter diesem Begriff versteht das Märchen sowohl diese wunderbare Welt, als auch die Welt der Toten, ob sie christlich oder andersartig religiös gefärbt ist, oder nicht.
I. Der Märchenheld: ein Reisender
I.1 Die Reise als Hauptkennzeichen des Märchenhelden
Wie bereits eingangs angedeutet, spielt die Reise im Märchen eine wesentliche Rolle. Oder, wie es der Schweizer Märchenforscher Max Lüthi formulierte:
Der Märchenheld ist seinem Wesen nach ein Wandernder. [Er] [...] löst sich von seinem Zuhause, er wandert aus, fast immer allein. (Lüthi, 1981, 113)
Auch für Katalin Horn ist das Auf-dem-Wege-sein (Horn, 1997, 339) das Hauptmerkmal des Märchenhelden, denn fast immer begibt sich der Held der Zaubermärchen auf eine Reise in eine ferne Welt.
Die Reise in die andere Welt, bzw. ins Jenseits, ist unterschiedlich motiviert, und es gibt in den Märchen sowohl freiwillige als auch unfreiwillige Reisen. Fast immer ist es aber eine Reise ins Unbekannte: Der Held weiß meistens nicht, wo der Ort liegt, den er erreichen muss, und lässt sich von dem Weg führen.
Karten sind im Märchen eine sehr seltene Erscheinung: In den Kinder- und Hausmärchen kommen Karten nur einmal vor, im Märchen "Die Rabe" (KHM 93). Dort sucht der Held das goldene Schloss von Stromberg, in welches die von ihrer Mutter verfluchte Königstochter verbannt worden ist. Sein Weg führt ihn zu Riesen, von denen einer ihm seine Hilfe anbietet:
Ich will auf meiner Landkarte nachsehen, darauf sind alle Städte, Dörfer und Häuser zu finden. Er holte die Landkarte, die er in der Stube hatte, und suchte das Schloss, aber es stand nicht darauf. (Grimm, 1856, 2, 54)
Nach langem Suchen auf "noch andere[n] alte[n] Karten" (S. 55) finden sie das Schloss, "aber es war viele tausend Meilen weit weg" (S. 55) - solche Hinweise kommen im Märchen auch selten vor. Dennoch trägt ihn der Riese in zwei Stunden dort hin.
I.2 Unterschiedlich motivierte Reisen bei Helden und Heldinnen
Wer reist denn im Märchen und warum ? In den Grimmschen Märchen reisen hauptsächlich Männer: Die reisenden Märchenheldinnen machen etwa ein Drittel aus (35,63 %). Dies hat natürlich mit der streng patriarchalischen Gesellschaftsstruktur zu tun, die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts für ganz Europa charakteristisch war, wo die Frau in den häuslichen Bereich gehörte.
Während die Reise bei den männlichen Helden oft keiner besonderen Motivation bedarf (oft will der Held einfach in die weite Welt, um sein Glück zu suchen, wie das tapfere Schneiderlein aus dem gleichnamigen Märchen, KHM 20), verhält es sich bei weiblichen Hauptfiguren anders. Bei diesen geht es meistens um die Erlösung der Brüder ("Die sieben Raben", KHM 25, "Die sechs Schwäne", KHM 49) oder, wie im Märchen "Das singende springende Löweneckerchen" (KHM 88), der deutschen Variante des französischen Feenmärchens "La Belle et la Bête", um die Erlösung des Geliebten.
Bei den männlichen Helden überwiegen in der Grimmschen Sammlung die Reisen, während derer der Held einen Auftrag erfüllen soll oder auf die Probe gestellt wird. So zum Beispiel im Märchen "Der Teufel mit den drei goldenen Haaren" (KHM 29): Einem Kind armer Eltern, das mit einer Glückshaut geboren wurde, wurde prophezeit, er werde die Königstochter heiraten. Der König erfährt zufällig davon und versucht, sich den unerwünschten Schwiegersohn vom Halse zu schaffen. Da die Vermählung doch stattfindet, schickt der König seinen Schwiegersohn in die Hölle: Nur wenn er ihm drei goldene Haare von dem Haupte des Teufels zurückbringe, dürfe er seine Frau behalten.
Der Held (ob männlich oder weiblich) kann auch verstoßen oder verjagt werden, so in "Hänsel und Gretel" (KHM 15) oder in "Hans mein Igel" (KHM 108). Seltener wird der Held ins Jenseits eingeladen, wie in "Der Gevatter Tod" (KHM 44), wo der Tod sein Patenkind in seine "unterirdische Höhle" führt, was diesem schließlich zum Verhängnis wird.
Bei den weiblichen Helden ist die Reise ins Jenseits oft auch mit Flucht verbunden, z. B. der Flucht vor einer inzestuösen Beziehung, wie in "Allerleirauh" (KHM 65), wo der König seine Tochter begehrt. Das bekannteste Beispiel bleibt aber ohne Zweifel "Schneewittchen" (KHM 53), die vor dem Hass und Neid ihrer Stiefmutter in den Wald flieht, wo sie bei den sieben Zwergen Zuflucht findet, nachdem ihr der Jäger das Leben geschenkt hat.
Von den Einladungen ins Jenseits wird später die Rede sein: Zu finden sind sie bei Grimm im zweiten Wichtelmännermärchen (KHM 39-2) und in "Marienkind" (KHM 3).
Die folgenden Beispiele werden es uns ermöglichen, einen besseren Überblick über das Weltbild des Märchens zu gewinnen.
II. Das märchentypische Weltbild
Max Lüthi unterschied zwischen drei Hauptformen des Jenseits im Märchen: Überwelten (d.h. in den Lüften, über der Menschenwelt liegende Welten), Unterwelten (unter der Erde und unter dem Wasser liegende Welten) und Fernwelten (Lüthi, 1984, 9-14). Zu diesen drei Kategorien lassen sich jedoch noch andere Lokalisierungen hinzufügen, mit denen jeweils besondere Vorstellungen zusammenhängen: so zum Beispiel auch Berge und Inseln. Jedenfalls stellt man fest, dass die Welt des Märchens sozusagen aus drei übereinanderliegenden "Etagen" besteht, die aber voneinander gar nicht so dicht getrennt sind, wovon die Übergänge zeugen, die zwischen ihnen bestehen.
Alle Lagen des Jenseits haben jedoch eines gemeinsam: ihre Distanz - ob wirklich vorhanden oder durch ein symbolisches Hindernis dargestellt - zur ursprünglichen Welt des Helden; so liegt das Jenseits in "Schneewittchen" (KHM 53) "über den Bergen, bei den sieben Zwergen" (Grimm-Rölleke, 1993, 1, 272-273). Die Grenze zum Jenseits und deren Überwindung spielt in den Märchen oft eine große Rolle.
II.1 Eine mehrschichtige Welt
Das unterirdische Jenseits liegt nicht unbedingt sehr weit von der Menschenwelt: In dem Märchen "Die drei Federn" (KHM 63), wo der König drei Federn in die Luft wirft, um seinen Söhnen den Weg zu weisen, fällt die Feder des jüngsten Bruders, des Dummlings, bald zur Erde (Grimm-Rölleke, 1993, 1, 343). Doch neben ihr bemerkt der Junge eine Falltür, die ihn zu Itschen - also zu Kröten - führt, die ihm zu wunderbaren Gegenständen und schließlich zu einer Braut verhelfen. Hier liegt das Jenseits also unmittelbar unter der Menschenwelt.
Während sich in diesem Beispiel das Jenseits sozusagen auf einen einzigen Raum beschränkt, bildet es in anderen Märchen eine eigene Welt, wie in dem Märchen von den zertanzten Schuhen (KHM 133): Die Königstöchter steigen dank einer geheimen Treppe, die sich in ihrem Schlafgemach befindet, in eine Unterwelt hinab, wo es wunderbare Wälder gibt. Dann müssen sie noch über einen See fahren, um das Schloss zu erreichen, in welchem sie mit verwünschten Königssöhnen tanzen.
Da ging die älteste an ihr Bett und klopfte daran; alsbald sank es in die Erde, und sie stiegen durch die Öffnung hinab, eine nach der anderen, die älteste voran. [...] wie sie unten waren, standen sie in einem wunderprächtigen Baumgang, da waren alle Blätter von Silber und schimmerten und glänzten. [...] Sie kamen darauf in einen Baumgang, wo alle Blätter von Gold, und schließlich in einen dritten, wo sie klarer Demant waren; [...] Sie gingen weiter und kamen zu einem großen Wasser, darauf standen zwölf Schifflein, und in jedem Schifflein saß ein schöner Prinz, die hatten auf die zwölfe gewartet [...]. Jenseits des Wassers aber stand ein schönes, hellerleuchtetes Schloss, woraus eine lustige Musik erschallte von Pauken und Trompeten. (Grimm-Rölleke, 1993, 2, 219-220)
Hier haben wir es mit einer der seltenen Beschreibungen des Weges ins Jenseits zu tun.
Das Märchen "Frau Holle" (KHM 24) spielt an einer Schnittstelle zwischen zwei Welten: Obwohl die Heldin zu Frau Holle durch einen Brunnen gelangt, lässt die Beschreibung der dortigen Welt eher auf eine unterirdische Welt als auf eine Wasserwelt schließen.
Sehen wir uns die Wegbeschreibung genau an. Als das arbeitsame Mädchen die blutige Spule im Brunnen abwaschen wollte, hat sie diese ins Wasser fallen lassen; die Stiefmutter drängt sie deshalb, in den Brunnen zu gehen:
Hast du die Spule hinunterfallen lassen, so hol sie auch wieder herauf. Da ging das Mädchen zu dem Brunnen zurück und wusste nicht, was es anfangen sollte; und in seiner Herzensangst sprang es in den Brunnen hinein, um die Spule zu holen. Es verlor die Besinnung und als es erwachte und wieder zu sich selber kam, war es auf einer schönen Wiese, wo die Sonne schien und vieltausend Blumen standen. Auf dieser Wiese ging es fort [...]. (Grimm-Rölleke, 1993, 1, 150-151)
Im Gegensatz zu dem, was ihre Lage im Brunnen erwarten lässt, handelt es sich um eine weite und offene Welt (Vaillant, 2003, 216). Das räumliche Verhältnis beider Welten zueinander auf der vertikalen Achse wird aber umgekehrt, sobald Frau Holle die Arbeit erwähnt, die das Mädchen bei ihr verrichten muss:
Du musst nur achtgeben, dass du mein Bett gut machst und es fleißig ausschüttelst, dass die Federn fliegen, dann schneit es in der Welt; (Grimm-Rölleke, 1993, 1, 151)
Die Brüder Grimm begleiten diesen Satz mit folgendem Kommentar in einer Fußnote: "Darum sagt man in Hessen, wenn es schneit, die Frau Holle macht ihr Bett". Später, als die Heldin den Wunsch äußert, nach Hause zurückzukehren, heißt es: "Ich muss wieder hinauf zu den Meinigen" (Grimm-Rölleke, 1993, 1, 152). Als sie sich aber auf den Weg macht, führt Frau Holle sie zu einem großen Tor, durch welches sie wieder in die Menschenwelt gelangt:
Darauf ward das Tor verschlossen, und das Mädchen befand sich oben auf der Welt, nicht weit von seiner Mutter Haus... (Grimm-Rölleke, 1993, 1, 152).
Wie wir sehen, ist hier das Verhältnis beider Welten zueinander äußerst komplex, denn die Sprache beharrt auf der Lage der Welten übereinander - wobei die Welt der Frau Holle gleichzeitig über und unter der Menschenwelt liegt -, während die Bewegung der Heldin horizontal verläuft.
Zu den Wasserwelten kann man zusammenfassend festhalten, dass sie sich von der Welt der Menschen überhaupt nicht unterscheiden, außer durch die Bezeichnung der dort lebenden Figuren ("Frosch" im Froschkönig-Märchen (KHM 1), "Nixe" in "Die Nixe im Teich" (KHM 181)). Im Text des Märchens wird aber nirgends gesagt, dass der Held sich unter Wasser befindet. Das Wasserelement dient also lediglich dazu, bestimmte Wesen und deren spezifische Symbolik zu inszenieren. Ansonsten wird in den Märchen die Welt der Menschen einfach in eine Welt unter Wasser verlagert und viele Texte unterstreichen die Tatsache, dass es dort genauso hell ist, wie oben auf der Erde. Außer dem oben zitierten Frau Holle-Märchen (KHM 24), gilt dies für das Märchen "Die Wassernixe" (KHM 79). Dort fallen zwei Geschwister in einen Brunnen, wo sie von einer Wassernixe ausgebeutet werden:
Dem Mädchen gab sie verwirrten Flachs zu spinnen, und es musste Wasser in ein hohles Fass schleppen, der Junge aber sollte einen Baum mit einer stumpfen Axt hauen; und nichts zu essen bekamen sie als steinharte Klöße. Da wurden zuletzt die Kinder so ungeduldig, dass sie warteten, bis eines Sonntags die Nixe in der Kirche war, da entflohen sie. (Grimm-Rölleke, 1993, 1, 390)
Die Ähnlichkeit dieser Unterwelt mit der Welt der Menschen ist auffällig, zumal dort nicht nur die Natur die Gleiche ist, sondern auch die Bräuche der Einwohner, was den Glauben betrifft: Sogar die Nixe, ein ebenfalls von Gott geschaffenes Wesen, geht am Sonntag in die Kirche.
Das zweite Wichtelmännermärchen (KHM 39-2) ist das einzige in der Sammlung, das eine Beschreibung des Wohnortes der Zwerge in den Bergen liefert und über die Einladung eines Menschen ins Jenseits berichtet. Dort wird ein fleißiges und armes Mädchen von Wichtelmännern brieflich eingeladen, "ihnen ein Kind aus der Taufe zu heben".
Das Mädchen wusste nicht, was es tun sollte, endlich auf vieles Zureden [und weil man ihm sagte], so etwas dürfte man nicht abschlagen, so willigte es ein. Da kamen drei Wichtelmänner und führten es in einen hohlen Berg, wo die Kleinen lebten. (Grimm-Rölleke, 1993, 1, 217).
Es folgt eine sehr detaillierte Beschreibung, die natürlich mit dem kindlichen Adressaten der Grimmschen Märchensammlung, aber auch mit der Übertragung in den Märchenstil der Biedermeierzeit zu tun hat. Das Hauptmerkmal dieser Jenseitsform ist, außer ihrer Lage, die Tatsache, dass die Zeit dort langsamer verfließt als in der Menschenwelt (drei Tage bei den Wichtelmännern entsprechen sieben Jahren bei den Menschen). Das junge Mädchen aus diesem Märchen gehört also zu den begünstigten Sterblichen, denen die Möglichkeit gegeben wird, ins Jenseits zu reisen und von dort zurückzukehren. Mit diesem Ausdruck bezeichnete MacCulloch die Menschen, die sich für eine bestimmte Zeit oder für immer in die keltischen síd, d. h. in die wunderbaren unterirdischen Paläste der Feen, begeben konnten (MacCulloch, The Religion of the Ancient Celts, 1911, 65). In diesem Märchen haben wir es also nicht mit einem üblichen Zaubermärchen zu tun, das über eine Reise in eine wunderbare Gegend berichtet. Die hier vorhandene Erzählung steht der Sage viel näher, insofern als sie von dem Glauben an Ortgeister zeugt, die die Menschen in ihrem Alltag umgeben und manchmal in ihr Leben eingreifen können.
Die Tatsache, dass in diesem Märchen der Wohnort der Zwerge im Inneren eines Berges situiert wird, geht auf die germanische Mythologie zurück. Die Edda erzählt nämlich, dass die Zwerge und die Berge aus der Leiche des Urriesen Ymir entstanden sind: Bei dessen Tod wurden seine Knochen zu Bergen, sein Schädel zum Himmel, und die Zwerge seien aus der Verwesung seines Körpers entstanden (Lecouteux, 1997, 100-101). Diese Assoziation der Zwerge mit den Bergen ist ebenfalls in der Sage vom König Herla aus dem 12. Jahrhundert zu finden (Brémond, 1989, 157-164).
II.2 Die Inszenierung der Reise und die Reisemöglichkeiten
Das Märchen benutzt zahlreiche Ausdrücke aus dem Wortfeld der Reise und erwähnt alle möglichen Reisemittel, von den gängigsten wie "wandern" oder "reiten" zu den ungewöhnlichsten. So wird häufig die Entfernung dank Zaubergegenständen im Nu überwunden: Das Märchen kennt fliegende Teppiche, aber auch Sättel, Hüte oder Zauberstiefel, die dieselbe Funktion erfüllen. Das berühmte Märchen vom "Gestiefelten Kater", in welchem die Stiefel jedoch nicht als Reisemittel dienen, gehörte ursprünglich auch zur Grimmschen Sammlung, wurde aber ab der zweiten Ausgabe 1819 wegen einer zu großen Ähnlichkeit mit den französischen Fassungen von Perrault und Mme d'Aulnoy weggelassen.
In den Märchen "Der Trommler" (KHM 193), "Die Kristallkugel" (KHM 197) und "Der König vom goldenen Berg" (KHM 92) benutzt aber der Held Zauberstiefel, um das ferne Jenseits zu erreichen. Im Märchen "Die goldene Gans" (KHM 64) kommt auch ein wunderbares Schiff vor, "das zu Wasser und zu Lande [fährt]" (Grimm-Rölleke, 1993, 1, 350).
Die konkreten Mittel der Reise hängen eng von der jeweiligen Lage der anderen Welt ab, doch sehr oft kann die ungeheure Entfernung durch einen Flug, bzw. einen Ritt auf einem Helfertier, überwunden werden. Der Zauberritt kommt dann dem Flug gleich. So reitet im Märchen "Der goldene Vogel" (KHM 57) der Held auf dem Schwanz eines Fuchses; dies ist übrigens auch der Fall in "Hurleburlebutz", das von den Grimms aus der Märchensammlung bereits nach der ersten Ausgabe 1812 entfernt wurde.
Findet eine Verbannung der Helden als Folge einer Verfluchung statt, wie im Sieben-Raben-Märchen (KHM 25), so erfolgt die Reise ins Jenseits als Flug, da sich die Helden in Vögel verwandeln. Ähnliche Verwandlungen sind in motivverwandten Märchen wie "Die sechs Schwäne" (KHM 49) oder "Die zwölf Brüder" (KHM 9) zu finden.
Die von den Helden zurückgelegte Distanz wird sehr selten erwähnt, während Zeit- und Ortangaben oft vorkommen. So in "Brüderchen und Schwesterchen" (KHM 11) ("Sie gingen den ganzen Tag über Wiesen, Felder und Steine...", Grimm-Rölleke, 1993, 1, 80) oder im Märchen "Der Königssohn, der sich vor nichts fürchtet" (KHM 121):
Ich will in die weite Welt gehen, da wird mir Zeit und Weile nicht lang, und ich werde wunderliche Dinge genug sehen. Also nahm er von seinen Eltern Abschied und ging fort, immer zu, von Morgen bis Abend, und es war ihm einerlei, wohinaus ihn der Weg führte (Grimm-Rölleke, 1993, 2, 166).
Diese Beispiele zeigen deutlich, wie eng Raum und Zeit bei der Erwähnung der Reise zusammenhängen. All diese Wendungen, gekoppelt mit zahlreichen Wiederholungen, zeigen, dass die räumliche Bewegung meistens durch feststehende Ausdrücke wiedergegeben wird, die mit dem Verfließen der Zeit zu tun haben und von einer langen Tradition zeugen.
Eine andere Möglichkeit, ins Jenseits zu gelangen, wenn es über der Welt der Menschen liegt, besteht darin, an einem Baum oder einer sehr hohen Pflanze hinaufzusteigen.
Das Märchen "Der Dreschflegel vom Himmel" (KHM 112) berichtet über den Ausflug eines Bauern in den Himmel. Kurz zuvor hatte der Bauer unterwegs einen Rübsamen verloren.
Indessen, wie er wieder des Wegs zurückkam, war aus dem Korn ein Baum gewachsen, der reichte bis an den Himmel. Da dachte der Bauer: "Weil die Gelegenheit da ist, musst du doch sehen, was die Engel da droben machen, und ihnen einmal unter die Augen gucken". Also stieg er hinauf und sah, dass die Engel oben Hafer droschen, und schaute das mit an. (Grimm-Rölleke, 1993, 2, 136)
Dieses Motiv des himmelhohen Baums kommt in den deutschen Märchen selten vor. Es handelt sich aber um ein typisches Motiv des ungarischen Märchens (Kovács, 1977, 1, 1381-1386), hinter welchem man den Topos von dem Axis mundi, der Verbindung zwischen Erde und Himmel, erkennen kann, der insbesondere dem schamanischen Denken eigen ist.
Dieses Märchen beruht auf dem Wunsch, das zu sehen, was kein Mensch zu seinen Lebzeiten zu sehen vermag; das Motiv des himmelhohen Baumes dient hier aber lediglich dazu, unwahrscheinliche Ereignisse miteinander zu verknüpfen.
III. Himmel und Hölle: zwei besondere Formen des Jenseits
Man muss gleich zu Beginn anmerken, dass diese beiden Begriffe in den Märchen nicht immer im religiösen Sinne verstanden werden: Der Himmel kann einfach eine höhere Welt bezeichnen, die über der Menschenwelt in den Lüften liegt. Die Hölle ihrerseits kann entweder die Totenwelt bezeichnen, die traditionsgemäß unterirdisch situiert wird (wie in der Antike), oder aber das Reich des Teufels und der Verdammten. Beide Fälle kommen in unserem Korpus vor.
Wenn es um Himmel und Hölle im religiösen Sinne geht, muss man auf die mittelalterliche Visionsliteratur zurückgreifen und auf deren Unterscheidung zwischen Reisen in corpore und in spiritu. Die meisten Reisen in den Himmel oder in die Hölle finden im Märchen in corpore statt, eine der wenigen Ausnahmen ist Grimms Märchen "Meister Pfriem" (KHM 178), wo die Reise nur im Traum stattfindet. Allgemein ist im Märchen die Tatsache, dass ein Sterblicher in die Hölle "mit Leib und Seele" reisen kann, überhaupt nicht problematisch, was ebenso für den Himmel gilt.
Und selbst wenn der Himmel als die Welt der Engel und die Hölle als die der Verdammten dargestellt wird, funktionieren diese Welten ganz genau wie die anderen Formen des Jenseits (Über- und Unterwelten): Ihre Schilderung trägt keine besonders christlichen Charakterzüge, und dorthin gelangt man auf die gleiche Art und Weise.
Zunächst stellt man fest, dass der Held nicht immer nach seinem Tod in den Himmel bzw. in die Hölle reist, sondern als Lebender. Die Reise des Helden in die Totenwelt als Verstorbener kommt in ca. 16 % der Grimmschen Märchen vor.
III.1 Die Reise eines Lebenden in den Himmel
Aus dem mittelalterlichen Weltbild haben die Märchen als mündlich überlieferte Erzählungen unter anderem die Vorstellung beibehalten, dass der Himmel etwas Festes ist und als Boden für andere Welten dienen kann. Dabei bezeichnet das deutsche Wort "Himmel" sowohl den Himmel als Teil des Universums als auch das Paradies.
Im Märchen "Marienkind" (KHM 3) wird die Heldin, ein kleines Mädchen, von der Jungfrau Maria in den Himmel genommen. Sehen wir uns den Anfang dieses Märchens genau an:
Vor einem großen Walde lebte ein Holzhacker mit seiner Frau, der hatte nur ein einziges Kind, das war ein Mädchen von drei Jahren. Sie waren aber so arm, dass sie nicht mehr das tägliche Brot hatten und nicht wussten, was sie ihm sollte zu essen geben. Eines Morgens ging der Holzhacker voller Sorgen hinaus in den Wald an seine Arbeit, und wie er da Holz hackte, stand auf einmal eine schöne große Frau vor ihm, die hatte eine Krone von leuchtenden Sternen auf dem Haupt und sprach zu ihm: "Ich bin die Jungfrau Maria, die Mutter des Christkindleins: du bist arm und dürftig, bring mir dein Kind, ich will es mit mir nehmen, seine Mutter sein und für es sorgen". Der Holzhacker gehorchte, holte sein Kind und übergab es der Jungfrau Maria, die nahm es mit sich hinauf in den Himmel. Da ging es ihm wohl, es aß Zuckerbrot und trank süße Milch, und seine Kleider waren von Gold und die Englein spielten mit ihm (Grimm-Rölleke, 1993, 1, 36).
Das Himmelreich wird als Ort des materiellen Überflusses und des leichten Lebens im Gegensatz zu der Armut des kleinen Mädchens auf Erden beschrieben. Was die Reise als solche betrifft, so geschieht sie im Nu.
Als sich die Jungfrau eines Tages auf eine Reise begibt, darf das Mädchen alle Türen aufschließen, um die Herrlichkeiten des Himmels zu betrachten, nur die eine Tür nicht - dem Verbot gehorcht das Mädchen nicht. In jeder Wohnung des Himmelreiches wohnt ein Apostel "und war von großem Glanz umgeben". Hinter der letzten Tür befindet sich aber das Schönste: "... es sah da die Dreieinigkeit im Feuer und Glanz sitzen" (Grimm-Rölleke, 1993, 1, 37). Das Mädchen kann der Versuchung nicht widerstehen, den Glanz zu berühren, sein Finger wird ganz golden, was ihre spätere Vertreibung aus dem Paradies verursacht.
Eine solche Beschreibung kommt sonst nie vor, selbst wenn der Himmel in anderen Märchen auch mit Engeln verbunden ist (im vorher erwähnten Märchen "Der Dreschflegel vom Himmel" müssen die Engel auch arbeiten).
In "Marienkind" und "Der Dreschflegel vom Himmel" haben wir es mit einer Reise in corpore zu tun, nach welcher die jeweilige Hauptfigur zu ihrem Leben in der Menschenwelt zurückkehrt.
III.2 Die Reise in den Himmel im Traum
In "Meister Pfriem" (KHM 178) hingegen findet die Reise in den Himmel im Traum statt: "Meister Pfriem träumte in einer Nacht, er wäre gestorben und befände sich auf dem Weg nach dem Himmel" (Grimm-Rölleke, 1993, 2, 336).
Selbst dort findet dieser Besserwisser an allem etwas zu tadeln: Zwei Engel tragen einen Balken nicht der Länge nach, sondern quer, zwei andere tragen Wasser in einem durchlöcherten Fass... Die wunderlichen Dinge, die Meister Pfriem beobachtet, wurden in der Vita des Hl. Arsenius beschrieben, wo sie die Eitelkeit des menschlichen Tuns verdeutlichen sollten.
Entgegen Meister Pfriems Erwartungen ist der Himmel also keineswegs ein Ort der Vollkommenheit und der Mann ist wie immer unzufrieden, so dass er sehr erleichtert ist, als er hinausgeschoben wird. Das Märchen endet mit den Worten, die er beim Erwachen ausspricht: "Es ist nur ein Glück, dass ich nicht wirklich gestorben bin" (Grimm-Rölleke, 1993, 2, 338). Seine Reaktion ist derjenigen völlig entgegengesetzt, über die die Visionsliteratur berichtet: Dort bedauern die Reisenden, in die Welt der Menschen, also ins Leben zurückkehren müssen, nachdem sie ihr Los nach dem Tod erblickt haben. Meister Pfriem aber hat die Gelegenheit verpasst, sich zu bessern und ist nicht in der Lage, aus seinem Traum Schlüsse zu ziehen, so dass man ahnt, dass seine Reise in den Himmel auch die einzige dorthin sein wird.
III.3 Die Reise der Seele in den Himmel nach dem Tod
Dieses Thema wird eher in legendenartigen Märchen oder in Lügenmärchen behandelt, eher als in eigentlichen Zaubermärchen. Anders als die christlichen Legenden, die "als Zeugnisse[...] über Leben und Taten der Heiligen" (Jolles, 1974, 24) zu betrachten sind und bei den Gläubigen eine entsprechende Autorität haben, inszenieren legendenartige Märchen Elemente bzw. Figuren, die zwar mit dem christlichen Glauben zusammenhängen, aber die in eine Handlung eingebettet sind, die nach den üblichen Gesetzen des Märchens funktioniert und vor allem keinen Wahrheitsanspruch haben. Während legendenartige Märchen gleichzeitig auf Belehrung und Unterhaltung abzielen, dominiert letzteres Ziel bei Lügenmärchen eindeutig. Wie es deren Bezeichnung schon besagt, geht es dort um eine Aneinanderreihung von unwahrscheinlichen Begebenheiten, die hauptsächlich dem Prinzip der absoluten Freiheit der Erzählerphantasie gehorcht.
Nicht alle Erzählungen, die über eine Reise der Seele berichten, sagen deutlich, dass der Held ein Verstorbener ist, so dass man den Eindruck hat, dass es sich noch um einen Lebenden handelt.
In der Regel wird der Weg als solcher überhaupt nicht erwähnt, wie zum Beispiel in "Das Bürle im Himmel" (KHM 167):
's isch emol es arms fromms Bürle gstorbe und chunt do vor d'Himmelspforte. Zur gliche Zit isch au e riche, riche Herr do gsi und het au i Himmel welle. (Es war einmal ein armes frommes Bäuerlein gestorben und kam da vor die Himmelspforte. Zur gleichen Zeit ist auch ein reicher, reicher Herr dagewesen und wollte auch in den Himmel.). (Grimm-Rölleke, 1993, 2, 311)
Der Weg, den die Seele zurücklegen muss, um in den Himmel zu gelangen, kommt überhaupt nicht in Frage, ist die Seele ja auch immateriell.
Genauso geht es im Märchen "Der Schneider im Himmel" (KHM 35) um die Reise einer Seele in den Himmel nach dem Tod, was aus den ersten Zeilen hervorgeht:
Es trug sich zu, dass der liebe Gott an einem schönen Tag in dem himmlischen Garten sich ergehen wollte und alle Apostel und Heiligen mitnahm, also dass niemand mehr im Himmel blieb als der heilige Petrus. Der Herr hatte ihm befohlen, während seiner Abwesenheit niemand einzulassen, Petrus stand also an der Pforte und hielt Wache. Nicht lange, so klopfte jemand an. Petrus fragte, wer da wäre und was er wolle. "Ich bin ein armer ehrlicher Schneider", antwortete eine feine Stimme, "der um Einlass bittet". "Ja, ehrlich", sagte Petrus, "wie der Dieb am Galgen [...]. Du kommst nicht in den Himmel, der Herr hat mir verboten, solange er draußen wäre, irgend jemand einzulassen". "Seid doch barmherzig", rief der Schneider, [...]. "Seht, ich hinke und habe von dem langen Weg daher Blasen an den Füßen, ich kann unmöglich wieder umkehren. [...]". (Grimm-Rölleke, 1993, 1, 192-193)
Obwohl es sich um die Seele eines Verstorbenen handelt, zeugen die Blasen an den Füßen von dem beschwerlichen Weg in den Himmel - diese Seele scheint also leibhaft zu sein.
III.4 Die Reise in die Hölle
In den Kinder- und Hausmärchen bezeichnet der Begriff "Hölle" eine mehr oder weniger christlich gefärbte Welt der Toten: Er umfasst sowohl das Reich der Toten, wie in der griechischen bzw. römischen Antike, als auch den christlichen Ort der Verdammung der Sünder.
Diese Reichweite des Begriffs lässt sich auch sprachlich erklären. In der Tat haben die altdeutschen Wörter halja und hella - die von einem Verb abgeleitet sind, das "verbergen, verheimlichen" bedeutet, und von denen das Wort Hölle herrührt - bis zum 10. Jahrhundert lediglich eine "Unterwelt" bezeichnet, in welcher die Verstorbenen hausten. Erst im XIII. Jahrhundert bekam das Wort Hölle seine heutige Bedeutung als "Verdammungsort" (Bächtold-Stäubli, 1987, 4, 184-185).
Obwohl die Grimmsche Sammlung zahlreiche Märchen enthält, deren Handlung sich zum Teil in der Hölle abspielt, berichten nur sehr wenige über den Weg dorthin.
"Der Teufel mit den drei goldenen Haaren" (KHM 29) erwähnt zwar eine "Wanderschaft" (Grimm-Rölleke, 1993, 1, 170), doch von deren Verlauf erfahren wir nur Weniges: Berichtet wird nur über drei Städte, wo dem Helden ein Auftrag in Form einer Frage aufgegeben wird. Der restliche Weg wird einfach nicht erwähnt, sodass der Eindruck einer sprunghaften Entwicklung der Handlung von einer Etappe zur anderen entsteht.
Voll Zorn sprach der König: "wer meine Tochter haben will, der muss mir aus der Hölle drei goldene Haare vom Haupt des Teufels holen; bringst du mir, was ich verlange, so sollst du meine Tochter behalten". Damit hoffte der König, ihn auf immer loszuwerden. Das Glückskind aber antwortete: "Die goldenen Haare will ich wohl holen, ich fürchte mich vor dem Teufel nicht". Darauf nahm er Abschied und begann seine Wanderschaft.
Der Weg führte ihn zu einer großen Stadt, wo ihn der Wächter an dem Tore ausfragte, was für ein Gewerbe er verstände und was er wüsste. [...] Da ging er weiter und kam vor eine andere Stadt, da fragte der Torwächter wiederum, was für ein Gewerb er verstünde und was er wüsste. [...] Da ging er weiter und kam an ein großes Wasser, über das er hinüber musste. Der Fährmann fragte ihn, was er für ein Gewerb verstände und was er wüsste. [...]
Als er über das Wasser hinüber war, so fand er den Eingang zur Hölle (Grimm-Rölleke, 1993, 1, 170).
In der Wassergrenze erkennt man einen bereits aus der griechischen Antike bekannten Topos. Davon abgesehen bereitet der Weg dem Helden keine Schwierigkeiten.
Im Allgemeinen stellt man also fest, dass das Märchen gerade dann sehr wortkarg ist, wenn sich der neugierig gespannte Leser eine Beschreibung wünschen würde. Dieses Gattungsmerkmal bezeichnete Wladimir Propp als "Weigerung, von dem Raum eine epische Beschreibung zu geben" (Propp, 1983, 57). Dies trifft auch für das Märchen "Des Teufels rußiger Bruder" (KHM 100) zu, wo sich ein armer Soldat bei dem Teufel für sieben Jahre verdingt:
Der Soldat sprach: "Frisch dran, wenn's nicht anders sein kann", und ging mit dem Männchen fort, das führte ihn geradewegs in die Hölle hinein (Grimm-Rölleke, 1993, 2, 83).
Nach der Untersuchung dieser Märchen dominiert wiederum der Eindruck eines sehr leichten Überganges aus einer Welt in die andere, und zwar in beide Richtungen. Als einzige Ausnahme sei hier "Der Gevatter Tod" (KHM 44) erwähnt, wo nur der personifizierte Tod jederzeit in sein Reich gelangen und es wieder verlassen kann: Als sein Patenkind ihm dorthin folgt, löscht der Tod wie aus Versehen die Kerze aus, die für dessen Leben steht.
Schlussbemerkung: zu den Funktionen der Märchen von Jenseitsreisen
In diesem letzten Abschnitt soll versucht werden, die Frage nach der Funktion dieser Märchen zu beantworten. Tatsächlich kehrt der Märchenheld fast immer aus dem Jenseits zurück, selbst wenn es sich um den Himmel oder die Hölle handelt.
Die Reisemittel unterscheiden sich manchmal auf dem Hin- und auf dem Rückweg. In Märchen wie "Der Teufel mit den drei goldenen Haaren" (KHM 29) verlaufen Hin- und Rückreise jedoch völlig symmetrisch. Dies ist in den Märchen am deutlichsten, wo der Held in eine Unterwelt durch ein Loch in der Erde hinuntersteigt, aber aus dieser Welt durch einen Flug zurückkehrt. Nicht zufällig muss der Held fliegen: Meistens drängt dann die Zeit, da seine verräterischen Brüder oder ein anderer Nebenbuhler im Begriff sind, seine Braut zu heiraten. Dem Helden des Märchens "Dat Erdmänneken" (KHM 91) gelingt dies dank einer Zauberflöte, die lauter "Erdmänneken" - also Erdgeister - erscheinen lässt; jeder von ihnen fasst den Helden an einem Haar und "sau fleiget se mit ünne herupper his up de E[e]re" (so flogen sie mit ihm herauf auf die Erde) (Grimm, 1857, 2, 43). Im Märchen "Der starke Hans" (KHM 166) wird ein ähnlicher Flug dank einem Zauberring bewirkt:
[Hans] steckte [den Ring] an, und als er ihn am Finger umdrehte, so hörte er plötzlich etwas über seinem Kopf rauschen. Er blickte in die Höhe und sah da Luftgeister schweben, die sagten, er wäre ihr Herr, und fragten, was sein Begehren wäre. Hans war anfangs ganz verstummt, dann aber sagte er, sie sollten ihn hinauftragen. Augenblicklich gehorchten sie, und es war nicht anders, als flöge er hinauf. (Grimm-Rölleke, 1993, 2, 310)
Einige Reisen bleiben jedoch ohne Rückkehr, wie in den Märchen "König Drosselbart" (KHM 56) oder "Die Gänsehirtin am Brunnen" (KHM 188). In diesen Fällen hat der Held durch seine Heirat nämlich eine neue Heimat gewonnen.
Man kann sich dennoch fragen, warum die Rückkehr in die Menschenwelt ein so oft wiederkehrendes Kennzeichen der Jenseitsreisen ist.
Die Jenseitsreise als Widerspiegelung der Reise der Seele nach dem Tod
In seiner 1911 veröffentlichten Untersuchung Jenseitsmotive im deutschen Volksmärchen äußerte Hans Siuts die "Absicht, [...] eine außerordentlich wichtige Quelle [des] deutschen Volksmärchens in den volkstümlichen Anschauungen vom Jenseits nachzuweisen" (Siuts, 1911, V).
Für den Leser bzw. Zuhörer des Märchens liegt jedoch die Parallele zwischen der Reise des Helden und der Jenseitsreise des Verstorbenen nicht unbedingt auf der Hand. In der Tat haben sich die Kinder- und Hausmärchen im Laufe ihrer Bearbeitung durch die Brüder Grimm von der lebendigen, mündlichen Überlieferung immer mehr entfernt, und mit der Zeit ist auch der tiefe, eigentliche Sinn vieler Motive verlorengegangen. Trotzdem kann die Jenseitsreise des Helden als Euphemisierung des Abstiegs des Verstorbenen in die Welt der Toten aufgefasst werden. Dafür spricht die auffallende Ähnlichkeit der materiellen Mittel der Reise - ob im Boot oder zu Pferde -, mit Begräbnisritualen, die sowohl in Europa, als auch in vielen anderen Erdteilen dokumentiert sind. In diesem Kontext wäre zum Beispiel die Bestattung in einem bootförmigen Sarg zu erwähnen oder die Ausstattung des Verstorbenen mit Proviant und Schuhen für die Reise ins Jenseits, sowie der in vielen Kulturen existierende Brauch, einen Ritter mitsamt Pferd und Rüstung zu begraben.
Die Bestattung im Sarg erwähnt Jacob Grimm in seiner Deutschen Mythologie als einen "im Norden", also in den skandinavischen Ländern, sehr verbreiteten Brauch:
Wie feste wurzel dieser gebrauch im Norden gefasst hatte, darf man daraus entnehmen, dass leichen auch im schif begraben wurden, ohne zweifel, damit sie auf ihrer reise in die unterwelt da, wo sie an ein wasser kommen würden, das fahrzeug zur hand hätten (Grimm, 1875-1878, 618, Fußnote).
Über Vorstellungen der Germanen, was die "lange, dunkle reise" der Verstorbenen zur Todesgöttin Hel betrifft, berichtet Jacob Grimm ebenfalls Folgendes:
[...] schuh, schiff, fährgeld, diener, pferde und kleider nehmen [die toten] aus ihrer heimath mit auf den helweg. Einige reiten, andere fahren, ganze haufen seelen rotten sich zusammen [...] (Grimm, 1875-1878, 699-700).
Denkt man an die Todesauffassung, die aus den Märchen hervorgeht, so lässt sich diese folgendermaßen skizzieren: Der Tod wird nicht als Unterbrechung, als abruptes Ende aufgefasst, sondern lediglich als Orts- bzw. als Formwechsel. Dafür sprechen die zahlreichen Verwandlungen der Helden, die in Situationen stattfinden, in denen der Held eigentlich sterben müsste. So erscheint im Märchen "Die schwarze und die weiße Braut" (KHM 135) eine Ente, als die Heldin von ihrer Nebenbuhlerin ins Wasser geworfen wird:
Wie nun die Braut aufstand und aus dem Wagen sich herausbückte, da stießen sie die beiden hinaus, dass sie mitten ins Wasser stürzte. Als sie versunken war, in demselben Augenblick, stieg eine schneeweiße Ente aus dem Wasserspiegel hervor und schwamm den Fluss hinab. (Grimm-Rölleke, 1993, 2, 231)
Diese Todesauffassung spiegelt den grundlegenden Optimismus des Märchens wider, der den Tod und dessen Endgültigkeit leugnet.
Diese Überzeugung nimmt der Leser bzw. Zuhörer am Ende des Märchens mit. Mit anderen Worten hat im Märchen das Leben das letzte Wort, was die berühmte Schlussformel "Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute klar" ausdrückt. So ist das Märchen für Katalin Horn eine "Hoffnungsdichtung" (Horn, 1984, 37) und für die französische Volkskundlerin und Märchenforscherin Nicole Belmont "ein geheimer Ratgeber der Menschen" (Belmont, 1999, 227).
Genauso wie die Reise ins Jenseits für den Märchenhelden durch die unterwegs zu bestehenden Proben einen initiierenden Charakter hat, kann den Märchen von Jenseitsreisen ebenfalls eine Erziehungsfunktion zugeschrieben werden. Sie beantworten nämlich auf ihre eigene Art und Weise die Frage nach dem Werden der Menschen nach dem Tod. Zu einer Zeit, in welcher die Wissenschaften noch nicht so weit fortgeschritten und vor allem nicht so demokratisiert waren, konnten solche Erzählungen eine etwas akzeptablere Erklärung für den Tod von Kindern und Jugendlichen liefern, der von älteren Leuten immer als sehr ungerecht empfunden wurde. So konnten Märchen Hoffnung und Trost, Unterhaltung und Spaß spenden. Diese Rolle spielen sie hoffentlich in unserer sehr profan gewordenen Welt ab und zu immer noch.
Die Jenseitsreise gehört sicherlich zu den faszinierendsten Märchenmotiven. Die Ver- und Erklärung des Todes, die diesen ins Buch aufgenommenen Volkserzählungen eigen ist, trägt dem universalen Wunsch des Menschen Rechnung, über die unvermeidbar vergehende Zeit Herr zu sein.
Bibliographische Hinweise
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Lecouteux, Claude, Les nains et elfes, Paris, Imago, 1988 (2ème édition 1997), p. 100-101.
Lüthi, Max, Es war einmal... Vom Wesen des Volksmärchens, Vandenhock & Ruprecht, 1981.
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MacCulloch, J. A., The Religion of the Ancient Celts, Edinburgh, 1911.
Propp, Vladimir, Les racines historiques du conte merveilleux, traduit du russe par Lise Gruel-Apert, Paris, Gallimard/NRF, 1983 (parution en russe : 1946).
Siuts, Hans, Jenseitsmotive im deutschen Volksmärchen, Leipzig, Eduard Avenarius, 1911 (Teutonia. Arbeiten zur germanischen Philologie, 19. Heft).
Vaillant, Pascal, "Sémiotique implicite de l'espace dans les contes des frères Grimm : la vérité est au fond du puits", dans G. Barrier et alii (éd.), Sémiotiques non verbales et modèles de spatialité, Presses Universitaires de Limoges, 2003, p. 211-226.
Pour aller plus loin
Grimm, Jacob et Wilhelm, Contes pour les enfants et la maison, 2 vol., édition intégrale commentée, établie et traduite par Natacha Rimasson-Fertin, éditions José Corti, 2009.
Rimasson-Fertin, Natacha, "L'autre monde et ses figures dans les Contes de l'enfance et du foyer des frères Grimm et les Contes populaires russes d'A. N. Afanassiev", thèse de doctorat soutenue à l'Université Stendhal-Grenoble 3 (2008).
Le texte de la thèse est accessible à l'adresse suivante : http://tel.archives-ouvertes.fr
Natacha Rimasson-Fertin, "À la croisée des chemins : le carrefour dans les contes des frères Grimm et d'A. N. Afanassiev", in : Marie-Madeleine Martinet et alii, Le Chemin, la Route, la Voie. Figures de l'imaginaire occidental à l'époque moderne, Paris, Presses de l'Université Paris-Sorbonne, 2005, p. 443-459.
Zumthor, Paul, La mesure du monde. Représentation de l'espace au Moyen Age, Paris, Seuil, coll. Poétique, 1993.
Document d'accompagnement
Brüder Grimm, "Die Wichtelmänner - Zweites Märchen" (KHM 39-2) Quelle: Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen, hg. von Heinz Rölleke, Stuttgart, Reclam, 1993 (Erstausgabe 1980), Bd. 1, S. 217-218.
Der Text
Pour écouter le texte : grimmsmaerchen.net
Es war einmal ein armes Dienstmädchen, das war fleißig und reinlich, kehrte alle Tage das Haus und schüttete das Kehricht auf einen großen Haufen vor die Türe. Eines Morgens, als es eben wieder an die Arbeit gehen wollte, fand es einen Brief darauf, und weil es nicht lesen konnte, so stellte es den Besen in die Ecke und brachte den Brief seiner Herrschaft, und da war es eine Einladung von den Wichtelmännern, die baten das Mädchen, ihnen ein Kind aus der Taufe zu heben. Das Mädchen wusste nicht, was es tun sollte, endlich auf vieles Zureden, und weil sie ihm sagten, so etwas dürfte man nicht abschlagen, so willigte es ein. Da kamen drei Wichtelmänner und führten es in einen hohlen Berg, wo die Kleinen lebten. Es war da alles klein, aber so zierlich und prächtig, dass es nicht zu sagen ist. Die Kindbetterin lag in einem Bett von schwarzem Ebenholz mit Knöpfen von Perlen, die Decken waren mit Gold gestickt, die Wiege war von Elfenbein, die Badwanne von Gold. Das Mädchen stand nun Gevatter und wollte dann wieder nach Haus gehen, die Wichtelmännlein baten es aber inständig, drei Tage bei ihnen zu bleiben. Es blieb also und verlebte die Zeit in Lust und Freude, und die Kleinen taten ihm alles zuliebe. Endlich wollte es sich auf den Rückweg machen, da steckten sie ihm die Taschen erst ganz voll Gold und führten es hernach wieder zum Berge heraus. Als es nach Haus kam, wollte es seine Arbeit beginnen, nahm den Besen in die Hand, der noch in der Ecke stand, und fing an zu kehren. Da kamen fremde Leute aus dem Haus, die fragten, wer es wäre und was es da zu tun hätte. Da war es nicht drei Tage, wie es gemeint hatte, sondern sieben Jahre bei den kleinen Männern im Berge gewesen, und seine vorige Herrschaft war in der Zeit gestorben. |
Analyse
In diesem Märchen wird ein arbeitsames Mädchen von den Zwergen eingeladen, um bei der Taufe eines Kindes die Rolle der Patin zu übernehmen. Dieses Motiv erscheint zum ersten Mal im 16. Jahrhundert und ist gewöhnlich in Volkssagen zu finden. Da die Zwerge und die sonstigen jenseitigen Wesen sich in der Regel den Menschen nicht zeigen, kann diese Ausnahmesituation als Ehre und Belohnung verstanden werden, weil dieses Mädchen so tüchtig und fleißig ist. Wie im Frau Holle-Märchen wird hier der Fleiß von den Jenseitigen mit sowohl Gold als auch mit der außergewöhnlichen Erfahrung einer Jenseitsreise belohnt. Die Merkmale dieser Jenseitsreise sind einerseits der unterschiedliche Ablauf der Zeit im Jenseits, die im Vergleich mit der Zeit der Menschen fast stillzustehen scheint, andererseits die Tatsache, dass die Heldin sich weder im Traum noch nach ihrem Tod ins Jenseits begibt und danach in ihr vorheriges Leben zurückkehrt. Es handelt sich hier also um eine Entrückung der Heldin in eine andere Welt. Diese Entrückung erfüllt eine ähnliche Funktion wie der Traum in anderen Märchen (z. B. "Meister Pfriem", KHM 178): In beiden Fällen wird bei dieser Gelegenheit einem Menschen eine Wahrheit offenbart, die den anderen verborgen bleibt.
Pour citer cette ressource :
Rimasson-Fertin Natacha, "Auf dem Weg ins Jenseits: die Reise in den "Kinder- und Hausmärchen" der Brüder Grimm ", La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), novembre 2011. Consulté le 05/11/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/litterature/mouvements-et-genres-litteraires/jeunesse-et-contes/auf-dem-weg-ins-jenseits-die-reise-in-den-kinder-und-hausmarchen-der-bryder-grimm