Vous êtes ici : Accueil / Littérature / Mouvements et genres littéraires / Jeunesse et contes / «Der gestiefelte Kater» und sein kulturgeschichtlicher Transformationsprozess (anhand von Charles Perrault, den Gebrüdern Grimm und Janosch)

«Der gestiefelte Kater» und sein kulturgeschichtlicher Transformationsprozess (anhand von Charles Perrault, den Gebrüdern Grimm und Janosch)

Par Teresa Hiergeist : Lectrice d'allemand - ENS de Lyon
Publié par mduran02 le 03/05/2010

Activer le mode zen

Der Aufsatz vergleicht drei verschiedene Varianten des Märchens ((Der gestiefelte Kater)), von Perrault, den Gebrüdern Grimm und Janosch vor ihrem jeweiligen kulturellen Hintergrund. Er zeigt auf, wie sehr Erzählungen mit dem gesellschaftlichen Kontext verbunden sind, dem sie entstammen. Perraults Fassung steht in einem dialogischen Verhältnis zur Gesellschaft der Repräsentation des 17. Jahrhunderts. Die Version der Gebrüder Grimm betont bürgerliche und christliche Werte. Janoschs Fassung schließlich zeichnet den Siegeszug des Individuums im postmodernen Kontext nach. Jede Zeit projiziert ihre eigenen Probleme und Werte auf ihre Erzählungen, so dass diese zu einem wertvollen kulturellen Dokument werden. Dadurch eignen sich Märchen besonders gut zur Sensibilisierung der Schüler für unterschiedliche Mentalitäten sowie interkulturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede.

Der gestiefelte Kater zeigt einige Vorteile gegenüber seiner einfachen Base, der Mäusekatze: Er versteht es, seinen Jagdinstinkt mit dem Marketingkonzept des "uptrading" zu verbinden. Statt Mäusen fängt er für den König die am Markt wesentlich höher bewerteten Rebhühner. Dazu verwendet er noch Arbeitsmittel und Taktiken, die eine enorme Produktivitätserhöhung garantieren. Darüber hinaus ist er auch zu anderen Transaktionen befähigt: Sein Meisterstück sind die von ihm durchgeführten Übernahmeverhandlungen mit dem Besitzer großer Substanzwerte (Zauberer) zugunsten seines Herrn. Sie werden rasch mit einem "unfriedly takeover" abgeschlossen. Dann folgt noch eine sehr freundliche "Fusion" (Heirat) zwischen der Königstochter rund dem nun von Besitz und äußeren Standesinsignien ebenbürtigen Müllerssohn. (Wunderer, 2007, 191)

"Kinder brauchen Märchen", proklamiert Bruno Bettelheim 1982 in seinem gleichnamigen Buch, denn sie liefern dem Nachwuchs Sinn und die Fähigkeit "die inneren Kraftquellen zu erschließen" (Bettelheim, 2006, 9). Liest man aber den oben stehenden Auszug aus Rolf Wunderers Der gestiefelte Kater als Unternehmer. Lehren aus Management und Märchen, bekommt man den Eindruck, dass dies nicht ganz richtig sei: Nicht nur Kinder, sondern auch führende Wirtschaftsköpfe brauchen anscheinend Märchen. Figuren wie der gestiefelte Kater werden für sie zum Idealtypus der erfolgreichen Geschäftsführung. Doch auch damit noch nicht genug: In der Psychologie haben Märchen seit Jahren als Quelle zum Unterbewussten Konjunktur. So heißt es etwa in Verena Kasts Märchen als Therapie: "Diese Geschichten sagen auch etwas aus über unsere Probleme, die stellvertretend an anderen Menschen deutlich werden, von ihnen allenfalls auch gelöst werden." (Kast, 1993, 9). Ob als pädagogische Anleitung für den Nachwuchs, als Vorbild im Unternehmen oder als Quelle zum Unterbewussten, eins ist klar: Märchen sind voll im Trend - und das seit mehreren hundert Jahren. Trotzdem darf man sich an dieser Stelle nicht dazu verleiten lassen, eine suprahistorische Kontinuität für die Erzählgattung zu proklamieren. Der Ursprung vieler Märchen ist unklar und wird auf orale Erzähltraditionen zurückgeführt, bei denen die Autorschaft anonym bleibt und eine schriftliche Fixierung erst später erfolgt. Köhler-Zülch spricht für das Beispiel des gestiefelten Katers in verschiedenen Kulturen und zu verschiedenen Zeiten von über 500 verschiedenen Erzählvarianten (Köhler-Zülch, 1995, 363).

Im Folgenden sollen drei schriftlich fixierte Versionen des Märchens Der gestiefelte Kater analysiert und verglichen werden: Perraults Le Chat botté, Der gestiefelte Kater der Gebrüder Grimm und die gleichnamige Erzählung von Janosch. Die drei Erzählungen wurden jeweils in einem zeitlichen Abstand von etwa 150 Jahren, in unterschiedlichen sozialen Milieus niedergeschrieben und richten sich jeweils an ein spezifisches Publikum. Aufgezeigt werden soll, welche Wandlungsprozesse inhaltlicher, formaler und rezeptionsästhetischer Art der Stoff im Laufe der Geschichte durchgemacht hat und inwiefern sich diese in den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext integrieren lassen. Während Perraults conte das Sittengemälde einer aufstiegsorientierten Gesellschaft der Repräsentation darstellt, werden in der Grimmschen Edition gerade christliche Werte wie Nächstenliebe in den Vordergrund gestellt. Der finale Reichtum ist hier eine Belohnung für die Tugenden der Hauptfigur. Bei Janosch letztendlich wird das Märchen grundlegend verkehrt: Nicht mehr Besitz und Aufstieg, sondern gerade ihr Gegenteil - Armut und Einfachheit - werden hier als erstrebenswert vermittelt. Die verschiedenen Erzählungen reflektieren jeweils die sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ihrer Zeit und werden so zum Indikator kultureller Prozesse.

1. Mythos Märchen

Es gibt keine Erzählgattung, um die sich so viele Mythen ranken wie um Märchen. Im Volksmund gelten sie als "uralte Geschichten" und sind daher eng mit den Identitätskonstruktionen der jeweiligen Nation verwoben und stark emotional besetzt. Als ahistorisch hat sie Felicitas Hoppe bezeichnet, weil sie nie aus der Mode zu kommen scheinen (Hoppe, 2009, 162). Märchen bilden einen Teil des kulturellen Gedächtnisses und haben für ihre jeweiligen Rezipienten universellen Charakter und eine rituelle Funktion, die die Rückbindung des Individuums an seine soziale Gruppe fördert. Lilyane Mourey hierzu:

Les contes appartiennent au corpus des mythes dont les caractéristiques sont de renvoyer à « une nuit des temps », à un espace universel, à un collectif large et indéterminé de producteurs d'histoires et à une fonction sociale précise : initiation, sécurisation, intégration. (Mourey, 1978,11)

Kulturelle Gruppen haben die Tendenz, die Bedeutung ihrer Märchen zu zementieren, ihnen eine inhaltliche Konstanz zuzuordnen, um ihrer eigenen Identität einen Hauch von Ewigkeit zu verleihen und sich so in der Vergangenheit Wurzeln zu geben.

In der Tat aber sind Märchen keineswegs so überzeitlich wie es auf den ersten Blick scheint. Als Perrault sich Ende des 17. Jahrhunderts den Contes widmet, tut er dies aus einem weitgehend literaturpolitischen Impetus heraus. Sein Rückgriff auf populäre Erzählformen steht in engem Zusammenhang mit der Querelle des Anciens et des Modernes. Seine Konzentration auf die Errungenschaften der eigenen Nation in Form von Volkserzählungen ist als Widerstand gegen die kulturelle Vormachtstellung antiker Autoren zu lesen. Seine Erzählungen sind wie ein Beweis für das, was er rund zehn Jahre zuvor stolz in seinem Gedicht Le siècle de Louis le Grand verkündet hat: "Et l'on peut comparer sans craindre d'estre injuste,/ Le Siecle de Louis au beau Siecle d'Auguste." (Perrault, 1964, 165). In Deutschland hingegen datiert die Begeisterung für das Märchen erst im ausgehenden 18. Jahrhundert und geht dort einerseits mit der antirationalistischen Einstellung der Romantik, andererseits mit der Sehnsucht nach einer kompakten deutschen Identität nach dem Modell Frankreichs einher (Neuhaus, 2005, 2). Märchen sind damit eng mit ihrem gesellschaftlichen Kontext, der Suche nach individueller Transzendenz und nationalen Orientierungsangeboten verwoben. Die französischen Contes entsprechen also, obwohl sie dieselben Stoffe behandeln, nicht den deutschen Märchen. Die beiden Begriffe sind historisch mit völlig unterschiedlichen kulturellen Konnotationen besetzt.

Aber nicht nur die äußere Form, auch der Aussagegehalt der Texte ist keineswegs überzeitlich fixiert. Jeder Leser interpretiert in das Märchen die Probleme und Werte seiner eigenen Zeit hinein. Helga Krüger geht in ihrer vergleichenden Studie zu Perrault und Grimm sogar so weit, den einzelnen Märchen Allgemeingültigkeit und historische Kontinuität zu attestieren. Sie meint, dass "man sie als Leerformeln betrachten kann, denen je nach Bedarf vom Publikum spezifische Bedeutungen assoziiert werden." (Krüger, 1969, 29). Eine nicht unerhebliche Rolle spielen in diesem Kontext natürlich auch diejenigen, die das Märchen adaptieren und niederschreiben. Eine schriftliche Fixierung und Übertragung bedeutet niemals eine wortwörtliche Übernahme, sondern immer auch die Integration in die eigenen kulturellen Strukturen und den spezifischen Wertekanon. Märchen wandeln sich mit ihren Erzählern, ihren Schreibern und ihren Lesern.

2. Gesellschaftliches Theater und literarische Autonomiebestrebungen - Perraults "Le Chat botté" (1697)

2.1 Zur Spezifizität von "Le Chat botté" im Kontext der "Contes"

Perraults Contes zeichnen sich durch die Kombination zweier Grundelemente aus. Sie spielen einerseits in einem sozialen Milieu, das weitgehend realistisch geschildert wird, integrieren darin andererseits aber ein fantastisches, zauberhaftes Element. Auch Le Chat botté lässt sich in dieses Muster fügen, bildet jedoch hinsichtlich der Wahl des Protagonisten, seiner Charakterisierung, seiner erzählerischen Rolle, des Chronotopos und der Handlungsstruktur eine Ausnahme. Diese Spezifizität der Erzählung soll im Folgenden kurz dargelegt werden.

Die Contes zeichnen sich allgemein dadurch aus, dass ihr Personeninventar sehr begrenzt und auf eine aristokratische Umgebung reduziert ist. In sieben der elf Märchen Perraults spielt ein junges Mädchen die Hauptrolle, meistens eine Prinzessin, die am Ende eines langen Leidensweges ihre amourösen Hoffnungen verwirklicht sieht (Krüger, 1969, 49). Die einzige Ausnahme eines männlichen Helden bildet Le petit Poucet, wobei hier die Hauptfigur typisch männlicher Attribute wie Stärke und Größe beraubt ist. Le Chat botté stellt einen Grenzfall dar, da es sich bei dem Protagonisten um ein Tier handelt, das allerdings menschliche und maskuline Züge trägt.

Weiterhin sind Perraults Erzählungen stark protagonistenzentriert. Die Hauptfigur und ihre Aktionen stehen so ausschließlich im Vordergrund, dass die explizite Ausgestaltung von Raum und Zeit, die Nebenfiguren weitestgehend ausgeblendet werden. Die Handlung bleibt auf das Wesentliche reduziert. Dies wird auch daran deutlich, dass Nebenfiguren nicht mit Eigennamen benannt werden. Für sie werden Berufsbezeichnungen (Holzfäller, Müller, Kutscher etc.) verwendet. Spielt das Märchen am Königshof, so herrschen auch hier generische Bezeichnungen (Prinzessin, König etc.) vor. In Le Chat botté hingegen ist die Protagonistenrolle nicht so eindeutig festgelegt wie sonst in den Contes. Wie bereits der Titel anzeigt, ist der Kater der eigentliche Protagonist und Rhythmusgeber der Erzählung, nicht sein Besitzer. Trotzdem ist es natürlich nicht er, der am Ende als Belohnung die Prinzessin heiraten darf, sondern der Müllerssohn. Der Held ist hier also in zwei verschiedene Instanzen gespalten.

Die Hauptfigur der Contes ist im Normalfall kein komplexer Charakter. Sie bleibt meist auf eine einzige Charaktereigenschaft festgelegt und verändert sich nicht. Ihr Handeln ist dadurch geradlinig und transparent. So ist etwa in Le Chat botté die Schläue hervorstechende Charaktereigenschaft des Katers. Sie verlässt ihn in keiner Situation. Trotzdem bewahrt der Kater nicht durchgehend seinen kühlen Kopf. Als sich der ogre auf seine Aufforderung hin in einen Löwen verwandelt, gerät er außer sich vor Angst und flüchtet aufs Dach. Mit dieser Reaktion durchbricht der Protagonist die Grenzen seines Typs und entwickelt widersprüchliche Züge. Auch die für Perraults Erzählungen typische Gut-Böse-Dichotomie wird nicht stringent durchgehalten. Zwar werden Kater und Müllerssohn für ihr Werben um den König belohnt, jedoch bedienen sie sich dabei unlauterer Mittel. Sie erreichen seine Gunst hauptsächlich durch Manipulation und Hinterlist.

Auch die Ortswahl weicht in Le Chat botté von Perraults Norm ab. Der Großteil der Contes spiegelt das soziale Milieu der Hofaristokratie wider. Höfische Feste, Verhaltensformen und Moralcodices werden in ihren verschiedensten Formen durchdekliniert (Krüger, 1969, 45). In Le Chat botté erreicht der Protagonist erst am Ende der Handlung das Königsschloss, den typischen Handlungsort des Märchens. Er beginnt allerdings am anderen Ende der sozialen Leiter, im populären Ambiente eines Müllers. Insofern ist diese Erzählung dynamischer als die meisten anderen, da sie den gesellschaftlichen Statuswandel mit den damit verbundenen Ortswechseln erzählt. Natürlich dürfen in den Contes fantastische Elemente nicht fehlen. Übernatürliche Wesen dringen in den Alltagskontext der Figuren ein und ermöglichen die Überwindung normalerweise unüberwindbarer Schranken (z.B. Feen, die Wünsche erfüllen) oder bedrohen die heile Lebenswelt der Figuren (z.B. der ogre). Le Chat botté hat nur eine sehr reduzierte märchenhafte Komponente. Als typische Märchenfigur kann nur der Menschenfresser angesehen werden. Der Anthropomorphismus des Katers entbehrt zwar nicht des Wunderbaren, jedoch ist der Kater an sich keine zauberhafte Figur. Die Struktur ist hier eher die einer Fabel à la Äsop oder La Fontaine. Das Tier als personifizierte Schläue handelt als Stellvertreter seines Herrchens.

2.2 "Le Chat botté" als Sittengemälde gesellschaftlicher Repräsentation

Zur Person wird der Kater in dem Moment, in welchem er menschliche Attribute wie Sprache und Kleidung annimmt. Sobald der Kater seine Stiefel trägt, wird er von allen wie ein Mensch behandelt. Er wird zum König vorgelassen und als Freund des Hofes akzeptiert. Stiefel galten im 17. Jahrhundert als Zeichen eines gentilhomme zu Pferde, so Yvette Saupé (Saupé, 1997, 206). Sobald der Kater seine gesellschaftliche Handlungsfähigkeit in Form der Schuhe erlangt hat, verkehrt sich das traditionelle Hierarchieverhältnis zwischen ihm und seinem Besitzer grundlegend. Das Tier bestimmt mit seiner energischen Tatkraft das Leben seines Herrchens vollends.

Während dieses in Resignation versunken bereits seinen Tod vor Augen sieht, beeindruckt der Kater durch Aktivismus, der den Müllerssohn mitreißt und ihn in die Position des rein Gehorchenden drängt. Die Verwandlung des Müllerssohnes in einen Adeligen letztendlich kommt über dieselben äußerlichen Attribute zustande wie beim Kater selbst: Er bekommt einen neuen Namen (Sprache) und neue Kleidung, welche der Kater über eine List vom König erschleicht. Mit dieser Etikette ausgestattet besteht für die Außenstehenden ab sofort kein Zweifel mehr daran, dass er ihresgleichen ist und auch über dieselben Rechte verfügt:

Comme les beaux habits qu'on venait de lui donner relevaient sa bonne mine (car il était beau, et bien fait de sa personne), la fille du Roi le trouva fort à son gré. (Perrault, 2006, 239)

Sobald auch noch Statussymbole wie Ländereien und ein Schloss hinzukommen, gerät der König in Verzückung ("Comment, Monsieur le Marquis, s'écria le Roi, ce château est encore à vous ! Il ne se peut rien de plus beau que cette cour et que tous ces bâtiments qui l'environnent." (Perrault, 2006, 242)) und ist so sehr beeindruckt, dass er ihn kurzerhand mit seiner Tochter verheiratet.

Perraults Erzählung haftet in dieser Hinsicht eine gewisse Ambivalenz an, drückt sie doch aus wie ein Betrüger auf dem schnellsten Wege von einem mittellosen Nichts zum Verwandten des Königs werden kann. Dieses Fazit entbehrt nicht eines gewissen ironischen Zynismus. Le Chat botté ist das Sittengemälde einer Gesellschaft, die sich von Reichtum und Schein blenden lässt, es ist die Karikatur eines Königs, der seine Tochter einem Müllersohn zur Frau gibt, weil er ihn für reich hält; einer Prinzessin, die sich sofort verliebt, nur weil sie einen Mann hohen Standes vor sich glaubt; eines glänzenden Helden, der hinter den Kulissen die stumme Marionette seines Katers ist und mechanisch dessen Befehle ausführt. Auch vor dem Kater selbst macht diese Ambivalenz nicht halt. Die Tatsache, dass er am Ende zum "grand Seigneur" ernannt wird, dem ein angenehmer Lebensstil zueigen ist ("et ne courut plus après les souris, que pour se divertir" (Perrault, 2006, 242)) weist daraufhin, dass sein Handeln nicht nur dem Wohl seines Herrchens gedient hat, sondern auch seine eigenen egoistischen Interessen im Blick hatte.

Le Chat botté ist die Beschreibung des Siegeszugs eines rücksichtslosen Betrügers. Trotz der hintangefügten Moralités bleibt die Bedeutung der Erzählung relativ offen. Zwar wird angemerkt "Fleiß und Wissen taugen mehr als erworbene Güter" ("l'industrie et le savoir-faire valent mieux que des biens acquis" Perrault, 2006, 243), doch enthält dieses Fazit keine negative Wertung. Es könnte genauso gut als Lob von Manipulation und List gelesen werden, die Kater und Herrchen zum positiven Ziel führen. Perrault erhebt nicht den pädagogischen Zeigefinger, vielmehr porträtiert er mit einer gewissen impassibilité eine Gesellschaft der Repräsentation, in der Kleider Leute machen und der gewinnt, der mit dem größten Geschick lügt.

2.3 "Le Chat botté" als Indikator für literarische Modernität

Le Chat botté transportiert also die Aussage, dass Eigeninitiative, geschickte Täuschung und Einfallsreichtum zu materiellem und sozialem Kapital führen können. Völlig zweitrangig ist dabei, dass sich der Kater nicht immer lauterer Mittel bedient, um an sein Ziel zu gelangen. Vielmehr sind es ausgerechnet seine geschickten Täuschungsmanöver und seine herausragende Manipulationsfähigkeit, die ihn zum Ziel führen. Damit bedient der Conte ein moralisches Register, das dem christlichen Wertekodex ausdrücklich widerspricht. Die Verhaltensinstruktion ist vielmehr pragmatisch orientiert und auf eine hierarchisch angelegte Gesellschaft gerichtet. Mit einer solchen Moral wendet sich Perrault eindeutig an ein erwachsenes Publikum (Mourey, 1978, 3). Intention ist keinesfalls, eine didaktische Botschaft zum tugendhaften Leben zu vermitteln. Seine Contes sind eher die realistische Darstellung einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft, in der Status und Ansehen alles bedeuten.

Das Motiv des gesellschaftlichen Aufstiegs, das auch in anderen Erzählungen Perraults wieder auftaucht, ist in der Tat für die damalige Zeit aktuell. Im 17. Jahrhundert liegen die Wurzeln der Umstrukturierung und Horizontalisierung der vertikal und absolutistisch strukturierten Bevölkerungsstruktur. "Die Gliederung der französischen Gesellschaft in Klerus, Aristokratie und Volk, die nach der Verfassung zur großen französischen Revolution weiter bestand, war realpolitisch gesehen, bereits seit Mitte des 17.

Jahrhunderts durch die geschichtliche Entwicklung überholt", schreibt Helga Krüger (Krüger, 1969, 102). Eine Interpretation von Le chat botté als Reflex durchlässig gewordener sozialer Standesgrenzen erscheint in diesem Kontext sinnvoll. Allerdings: Da sowohl das Lesepublikum als auch Perrault selbst zu den gehobenen Kreisen Frankreichs gehören, kann angenommen werden, dass die Vorstellung des Emporkömmlings aus dem niederen Volk keine Utopie ständischer Durchlässigkeit, sondern durchaus eine Bedrohung für das elitistisch geprägte Selbstbild der Aristokratie darstellte. Es ist nicht auszuschließen, dass Perrault Le Chat botté auch mit einer kritischen Intention verfasst hat. Warum aber hat sich Perrault dann überhaupt den Volkserzählungen angenommen, wenn er doch einer Klasse angehörte, die alles daran setzte sich von den niedrigen Schichten zu distanzieren?

In der Tat ist belegt, dass die adligen Leserkreise den Contes wegen ihrer negativen Einstellung zum niederen Volk lange Zeit keine Beachtung schenkten. Erst als Perrault sich der Texte annahm, fanden sie auch in den Literatursalons Anklang, sogar in einem solchen Maß, dass in der Zeit von 1696 bis 1709 das gehobene Publikum eine frenetische Begeisterung für Märchenliteratur aller Art zeigte (Krüger, 1969, 114). Ein Grund für diesen Gesinnungswandel könnte in der Querelle des Anciens et des modernes liegen. Perrault ahmt mit den Contes eben explizit nicht antike Autoren nach, sondern legt die Betonung auf die eigene zeitgenössische Erzähltradition. Nicht mehr die sorgfältig ausformulierten und klassisch konstruierten Handlungen sind es, die sein Schreiben bestimmen, sondern gerade eine populäre und orale Tradition. Die Publikation der Contes ist für Perrault also einem literaturideologischen Interesse geschuldet, die ihm zu einer neuen, autonomen schriftstellerischen Identität verhilft.  Die literarische Distinktion von den Stilprinzipien der Antike und die Autonomie des literarischen Feldes werden ihm wichtiger als die absolute Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Standesgrenzen. Eine wackelig gewordene soziale Statusposition wandelt Perrault lieber in das kulturelle Kapital autonomen Literaturschaffens um. Das Elitebewusstsein und seine eigene Identität zieht er mittlerweile lieber aus dem literarischen als aus dem gesellschaftlichen Bereich. So werden Perraults Contes zum Botschafter einer Gesellschaft im Moment ihrer Veränderung, aber auch zum Sprachrohr eines Literaten auf dem Weg zu Modernität und Autonomie.

3. Die Erlösung des Bürgertums - "Der gestiefelte Kater" der Gebrüder Grimm (1812)

Auch bei den Gebrüdern Grimm erscheint Der gestiefelte Kater in der ersten Auflage der Kinder- und Hausmärchen 1812. Später wird das Märchen aufgrund seiner angeblich starken Ähnlichkeit mit Perraults Fassung aus der Sammlung gestrichen (Köhler-Zülch, 1995, 385). Trotzdem gilt Der gestiefelte Kater heute noch als eines der berühmtesten Grimmschen Märchen. Es folgt ein Vergleich der besprochenen Fassung Perraults mit der Version der Gebrüder Grimm, was textuelle Differenzen und divergente kulturelle Rahmenbedingungen angeht.

3.1 Reduktion von Realismus und Repräsentation

Ein bezeichnender Unterschied zwischen der Perraultschen und der Grimmschen Fassung ist, dass der französischen ein stärkerer Realismus zueigen ist. Perrault zeigt einen ausgesprochenen Sinn für Einzelheiten. Er nennt beispielsweise den Müllersohn nicht wie die deutsche Version generisch "der Graf", sondern gibt ihm den Namen Marquis de Carabas.  Über zahlreiche Detailinformationen schafft er eine degré zéro-Situation im Sinne Roland Barthes', die dem Leser einen realistischen Eindruck vermittelt. Die Begründung, warum der Müllersohn dem Kater vertraut und ihm von seinem letzten Geld die gewünschten Schuhe anfertigen lässt, ist bei Perrault logischer als bei Grimm. Dort heißt es:

Il lui avait vu faire tant de tours de souplesse, pour prendre des rats et des souris, comme quand il se pendait par les pieds, ou qu'il se cachait dans la farine pour faire le mort, qu'il ne désespéra pas d'en être secouru dans sa misère. (Perrault, 2006, 236)

Die Handlungen des Katers beim Mäusejagen werden anschaulich geschildert, so dass es zumindest möglich erscheint, dass sich seine Schläue auch auf die Menschenwelt übertragen könne. In der Grimmschen Fassung hingegen ist die Entscheidung für das Vertrauen in die Fähigkeiten des Katers eher Zufall: "Der Müllerssohn verwunderte sich, dass der Kater so sprach, weil aber eben der Schuster vorbeiging, rief er ihn herein und ließ ihm ein paar Stiefel anmessen." (Grimm, 1812, 148). Hierzu passt, dass die Thematik der oben angesprochenen gesellschaftlichen Repräsentation über Sprache und Kleidung bei Gebrüdern Grimm stark reduziert ist. Es ist nicht mehr so, dass ausschließlich der Habitus soziale Anerkennung verschafft. So findet sich bei Grimm eine Szene eingefügt, in welcher zwei Wachen darüber diskutieren, ob sie den Kater zum König vorlassen sollen. Trotz seiner Stiefel wird der Kater in der deutschen Version als Tier identifiziert. ("Bist du toll, ein Kater zum König? - Der König hat doch oft lange Weil, vielleicht macht ihm der Kater mit seinem Brummen und Spinnen Vergnügen." (Grimm, 1812, 149)). Man lässt sich bei den Gebrüdern Grimm nicht mehr so leicht vom Schein der Stiefel täuschen: Der Kater bleibt ein Kater.

Auch der Prozess der Akzeptanz des Katers durch den König ist bei Perrault realistischer geschildert. Hier dauert es sehr lange, bis sich der Kater die Gunst des Königs erkämpft hat. Nur Schritt für Schritt gewinnt er sein Vertrauen, was sich durch immer größere Zuwendungen des Königs zeigt: Bekommt er beim ersten Mal ein mündliches Dankeschön, so wird ihm beim zweiten Kommen zu trinken angeboten. "Le chat continua ainsi pendant deux ou trois mois." (Perrault, 2006, 238), heißt es. Die Betonung liegt auf der Anstrengung, die der Kater unternehmen muss, um in den königlichen Kreisen akzeptiert zu werden. In der Grimmschen Version hingegen bringt der Kater nur einmal ein paar Rebhühner und wird damit gleich mit Gold aus der Schatzkammer reich entlohnt (Grimm, 1812, 150). Nach all den Mühen seiner Überzeugungsarbeit kommt bei Perrault die Bewunderung des Königs durch die direkte Rede viel stärker zum Ausdruck als bei den Grimms. Der Ausruf "Comment, Monsieur le Marquis, ce château est encore à vous" (Perrault, 2006, 237) und nicht das Gold ist letztendlich der Lohn für die Aufwendungen im gesellschaftlichen Maskenball. Ausladend wird deshalb die Überwältigung des Königs, die Opulenz des vorbereiteten Mahles, die "grande salle" und die Verzückung der Tochter angesichts dieses Habitus geschildert.

Grimms Märchen hingegen handelt diese Passage in nur einem Satz sehr nüchtern ab:

Der König stieg aus und verwunderte sich über das prächtige Gebäude, das fast größer und schöner war, als sein Schloss, der Graf aber führte die Prinzessin die Treppe hinauf in den Saal, der ganz von Gold und Edelsteinen flimmerte. (Grimm, 1812, 155)

Unterschiedlich verhält es sich auch mit dem Ausgang des Märchens. Bei Perrault wird der Kater zum "Grand Seigneur", der selbst keinen Finger mehr rühren muss und Mäuse nur noch zum Spaß fängt. Er ist der eigentliche Gewinner der Erzählung. In der Grimmschen Variante wird der Kater erster Minister. Er behält seine beratende Funktion bei und bleibt seinem Besitzer weiterhin hierarchisch untergeordnet. Während bei Perrault die Komponente der gesellschaftlichen Repräsentation und des Aufstiegs durch Manipulation - und damit der Kater - im Vordergrund stehen, liegt bei den Grimms der Fokus auf der Figur des Müllerssohnes und seiner Exode aus der unverschuldeten Armut.

3.2 "Der gestiefelte Kater" als Zeugnis einer christlichen Heilsgeschichte

Der Müllerssohn scheint bei Grimm eine zentralere Rolle zu spielen als bei Perrault. Dies geschieht dadurch, dass der Text die Identifikation mit der Figur gezielt fördert. Durch die Inszenierung seiner erblichen Benachteiligung als groben Schicksalsschlag erweckt er das Mitleid des Lesers:

Der arme Müllerssohn aber saß zu Haus am Fenster, stützte den Kopf auf die Hand und dachte, dass er nun sein letztes für die Stiefeln des Katers weggeben, und was werde ihm der großes dafür bringen können. (Grimm, 1812, 115; Hervorhebungen T.H.)

Das Ziel der Handlung ist nicht wie bei Perrault der gesellschaftliche Aufstieg, sondern die Überwindung einer lebensbedrohlichen Armut. Die Demut des Müllerssohnes wird mit etwas Geduld letztendlich belohnt, seine finanzielle Benachteiligung ausgeglichen. Der Kater ist  keine egoistische Figur, die nach immer mehr Macht für seinen Besitzer und sich selbst strebt, sondern vielmehr ein rettender Engel in der Not. Insofern kommt die Grimmsche Version des Märchens dem christlichen Wertekanon viel näher. "Dir wird bald geholfen sein" (Grimm, 1812, 148), verkündet der Kater pathetisch das zukünftige, ferne Heil, während in der französischen Version das Glück unmittelbar greifbar und präsent ist ("Vous n'êtes pas si mal partagé que vous croyez." (Perrault, 2006, 236)). Sobald der französische Müllerssohn über das entsprechende Knowhow zum sozialen Aufstieg (den Kater) verfügt, ist sein Problem sozusagen gelöst. Die Probleme des deutschen Müllers lösen sich erst mit dem ersten Goldsack, den der Kater mit nach Hause bringt. Die Ausgangslage ist also eine andere.

Um nicht am heilsbringenden Image des deutschen Katers zu kratzen, ist die Angst von Perraults Kater vor dem Löwen ausgespart. Bei der Verwandlung des Zauberers in das Raubtier bewahrt der Kater eine stoische Ruhe. Jegliche Form von charakterlicher Ambivalenz wird vermieden. Der deutsche Kater ist der uneingeschränkt gute Held, der Retter der Armen, der transzendente Lohn für irdisches Leid. Auch die Schlussmoral fällt logischerweise bei den Gebrüdern Grimm völlig weg. Sie treffen keine Aussage über die Gesellschaft, thematisieren vielmehr die christliche Idealvorstellung davon, dass Glück auch für den Mittellosen möglich ist, weil es den Kater gibt, der einen rettet.

Dieser stärker ausgeprägte utopische Effekt des Grimmschen Märchens befördert auch einen stärkere Betonung der fantastischen Elemente. Alles, was der Kater angreift, gelingt ihm spielend. Trotz der Rebhuhnknappheit fängt er die Tiere mit einer Leichtigkeit, die an schlaraffenlandähnliche Zustände erinnert: "Die Rebhühner kamen gelaufen, fanden das Korn und eins nach dem andern hüpfte in den Sack hinein." (Grimm, 1812, 149). Von dem Tag an, an dem der Kater dem König die ersten Rebhühner bringt, genießt er dessen vollste Zuneigung und Akzeptanz, als würde auch der König im Kater eine Art Glücksbringer erkennen:

So ging es alle Tage, und der Kater brachte alle Tage Gold heim, und ward so beliebt wie einer bei dem König, dass er aus- und eingehen durfte und im Schloss herumstreichen, wo er wollte. (Grimm, 1812, 150)

Perraults Kater hingegen muss sich seine Beute hart erarbeiten: "Il attendit que quelque jeune lapin, peu instruit encore des ruses de ce monde, vînt se fourrer dans son sac pour manger ce qu'il y avait mis." (Perrault, 2006, 236). Die königliche Anerkennung gewinnt er erst nach und nach - eine Tatsache, die deutschen Ohren bisweilen sehr unmärchenhaft erscheint.

3.3 Zensur von Brutalität und Sexualität

Grimms Märchen kommt eine erzieherische Funktion zu. Es betont die christlichen Tugenden und spielt mit der Heilsbringerfigur. Dem entspricht auch, dass alle diejenigen Elemente, die brutal oder grausam erscheinen, aus dem Text gekürzt oder euphemistisch ausgedrückt werden. So wird etwa die anschauliche Metapher "Ihr werdet alle in so feine Stücke zerhackt wie eine Wurst" ("Vous serez tous hachés menu comme chair à pâté", Perrault, 2006, 239) im Deutschen durch das neutralere: "dann werdet ihr alle totgeschlagen" (Grimm, 1812, 152) ersetzt. Der deutsche Müllerssohn spricht auch nicht wie sein französischer Kollege davon, dass er in seiner Not die Katze aufessen werde. Auch das kannibalistische Element des ogre ist in der deutschen Version durch einen Zauberer ersetzt. Genauso wird mit Anspielungen auf geschlechtliche Attraktion verfahren. Die heiße Liebe, in der die Prinzessin zum comte entbrennt ("Le Comte de Carabas ne lui eut pas jeté deux ou trois regards fort respectueux, et un peu tendres, qu'elle en devint amoureuse à la folie" (Perrault, 2006, 239)) wird im Deutschen keusch auf er gefiel ihr recht gut (Grimm, 1812, 152) zurückgeschraubt. Interessant ist in diesem Kontext auch die Szene, in der der König am See vorbeifährt, in welchem der Müllerssohn badet. Ruft der Kater bei Perrault: "Au secours, au secours, voilà Monsieur le Marquis de Carabas qui se noie." (Perrault, 2006, 238), so heißt es im Deutschen:

Ach! allergnädigster König! Mein Herr, der hat sich hier im See gebadet, da ist ein Dieb gekommen und hat ihm die Kleider gestohlen, die am Ufer lagen, nun ist der Herr Graf im Wasser und kann nicht heraus, und wenn er länger darin bleibt, wird er sich verkälten und sterben. (Grimm, 1812, 151)

Das Problem ist hier von der Lebensbedrohung durch Ertrinken auf die Schamebene verschoben. Obwohl die französische Version objektiv gesehen eine viel unmittelbarere Gefahr ausdrückt, ist die deutsche doch um Einiges dramatischer und die Vorstellung, der Müllerssohn müsse nackt aus dem Wasser kommen, erscheint durch die vielen Interjektionen ungleich schlimmer, als wenn er ertränke. Der Grimmsche Text zensiert - wohl im Kontext pädagogischer Intentionen - die Nacktheit und unterstreicht damit die Macht der Scham. Der "Herr Graf" nähme eher eine Erkältung und selbst den Tod in Kauf, als dass er in der Öffentlichkeit ohne Kleidung gesehen würde.

3.4 Grimms Märchen als bürgerliches Projekt

Die Grundidee der Gebrüder Grimm ist eine ganz andere als die Perraults. Ihren eigenen Angaben zufolge versuchten die Grimms, den Reichtum und die Vielfalt eines deutschen Kulturgutes wie des Märchens in einer Zeit zu bewahren, in der Industrialisierung und Verstädterung die Lebensbedingungen der Bevölkerung grundlegend veränderten (Mourey, 1978, 22). Der Modus ist dabei ein nostalgischer.

Grimms Märchen sind der Versuch, im Kontext einer fortschreitenden Heterogeneität sozialer Lebensbedingungen einen deutschen Nationalcharakter zu bewahren. Die Grimms glaubten, diesen im einfachen Volk und seinen Geschichten zu finden. Die Namen ihrer Gewährspersonen notierten sie dabei nicht. Sie sollten hinter dem Konzept des anonymen Volksgeistes zurücktreten (Rölleke, 2008, 80). Jedoch wurden die oral tradierten Geschichten keineswegs so wortwörtlich übertragen, wie Wilhelm Grimm selbst behauptet hat:

Wir haben aus eignen Mitteln nichts hinzugesetzt, keinen Umstand und Zug der Sage selbst verschönert, sondern ihren Inhalt so wiedergegeben, wie wir ihn empfangen hatten. Dass der Ausdruck und die Ausführung des Einzelnen größtenteils von uns herrührt, versteht sich von selbst, doch haben wir jede Eigentümlichkeit, die wir bemerkten, zu erhalten gesucht (Schof, 1979, 171).

In der Tat sind es nur geringe Veränderungen, die sich im Vergleich zur französischen Fassung ergeben. Diese jedoch haben zu einem völlig anderen Endresultat geführt. Denn die "getreue, unverfälschte Wiedergabe" (Rölleke, 2008, 19), auf die immer wieder referiert wird, ist in Wirklichkeit die Anpassung des Stoffes an bürgerliche Lesererwartungen. Diese Kreise sind es nämlich, aus denen die Gebrüder Grimm selbst stammen und die die Kinder- und Hausmärchen auch hauptsächlich rezipieren. Ihnen liefern diese ein ideales Identifikationsangebot, dadurch dass diese christliche Werte und die engstirnige, biedermeierliche Weltanschauung des 19. Jahrhunderts (vgl. das Tabu von Gewalt und Sexualität) vertreten (Rölleke, 2008, 28). Der gestiefelte Kater zeigt, wie der brave Mann zu seiner Belohnung kommt, indem er sein Schicksal demütig auf sich nimmt. Dadurch vermittelt es Tugenden, die das Bürgertum auch an seinen Nachwuchs weitergeben wollte. Dadurch werden die Grimmschen Märchen zum Medium bürgerlicher Wertevermittlung. Ihre moralische und pädagogische Komponente ist trotz des fehlenden Fazits am Ende viel stärker ausgeprägt als bei Perrault.

4. Dekonstruktion des Märchens - "Der gestiefelte Kater" von Janosch (1996)

Über 100 Kinderbücher hat Horst Eckert im Laufe seines Schriftstellerlebens unter dem Pseudonym "Janosch" geschrieben und illustriert. In Janosch erzählt Grimms Märchen wagt er sich an das traditionsträchtigste deutsche Kinderbuch, mit dem Vorsatz, es in die Gegenwart zu transponieren. Dabei ergeben sich teilweise gravierende Unterschiede zur Vorgängerversion.

4.1. Der gestiefelte Kater als Mittel der Transzendierung des Ich

"Ein Mann hatte drei Söhne" (Janosch, 1996, 115) - Janosch beginnt sein Märchen mit der gleichen Floskel wie die Gebrüder Grimm. Damit aber ist es mit den Gemeinsamkeiten der beiden gestiefelten Kater bereits getan. Janoschs Version ist sowohl inhaltlich, als auch sprachlich stark abgewandelt. Die Familie, in der die Erbschaftsgeschichte spielt, ist extrem wohlhabend ("fünf Fabriken, siebenundzwanzig Häuser und Autos und Landbesitz und Seen und Wälder"). Auf diese hyperbolische Aufzählung folgt in barocker Manier die Ent-täuschung und Nichtung all dieses Besitzes durch den Tod: "Und dann starb er [derVater]" (Janosch, 1996, 115). Der dritte Sohn wird nicht etwa deshalb erblich vernachlässigt, weil er der jüngste ist, sondern weil er unehelich gezeugt und nicht als Sohn anerkannt wurde. Es ist bei Janosch nicht mehr der finanzielle Mangel, der den jüngsten leer ausgehen lässt, sondern die gesetzlichen und moralischen Einschränkungen einer repressiven Gesellschaft. Die sozialen Parameter haben sich hier eindeutig verändert. Die Erwähnung unehelicher Kinder wäre nach dem moralischen Kodex des 17. oder 19. Jahrhunderts in einem Märchen unmöglich gewesen. Heute kann auch in der Literatur über solche Themen gesprochen werden, wenngleich dennoch innerhalb der Geschichte eine klare Stigmatisierung des unehelichen Sohnes stattfindet. Diese drückt sich auch über den Chronotopos aus. Während seine Brüder in einem prächtigen Haus wohnen, wohnt der jüngste Sohn "unten im Haus des Gärtners, zusammen mit seiner Mutter" (Janosch, 1996, 115). Während die anderen in Hülle und Fülle erben, erhält er nur das zum Überleben notwendige.

Die an diese Ausgangslage anschließende Handlungsstruktur unterscheidet sich stark von Grimms und Perraults Erzählung. Ist in deren Märchen der gestiefelte Kater Ausweg aus der Armut oder ebnet er den Weg des sozialen Aufstiegs, so sind Reichtum und gesellschaftliches Ansehen bei Janosch gar nicht erst erwünscht. Vielmehr werden Hans vom gestiefelten Kater nach und nach die negativen Seiten von Wohlstand, Statussymbolen und Besitz vor Augen geführt. Der Besitz führt bei den Brüdern zu Neid und Ärger. Es wird sogar die gesundheitsschädigende Wirkung des Reichtums betont, denn der Erstgeborene richtet sich mit der Aufforderung "Bring mir die Magenpillen!" (Janosch, 1996, 118) an seine Frau und stirbt letztendlich an einem Herzinfarkt. Statussymbole wie ein teures Auto oder ein Haus bereiten nur Sorgen, denn sie können kaputt gehen. Die Fixierung auf Statussymbole hindert das Individuum am spontanen Genuss, wie etwa der Dialog zwischen einem Ehepaar zeigt:

Manchmal denk ich mir, wir müssten wegziehen, in eine Gegend, wo immer die Sonne scheint. Sonne scheint, sagte der Mann. Und was wird aus dem Haus? Willst du das vielleicht mitnehmen? Ein Haus ist ein Haus, da kannst du nicht mehr weg. Sie können dich immer pfänden. (Janosch, 1996, 120)

Der Überfluss führt zu Langeweile, zwischenmenschlichen Kommunikationsproblemen und schlechter Laune.

Janoschs Version des gestiefelten Katers ist somit ein Plädoyer für die Bescheidenheit. Gerade weil Hans sich mit dem Wenigen zufrieden gibt und weil seine Bedürfnisse nach Kleidung, Wohnen und Essen nur rudimentär zufrieden gestellt werden, ist er glücklicher als seine reichen Geschwister. Auf gesellschaftliche Repräsentation wird hier gerade kein Wert gelegt. Wichtig für das Glück scheint nicht die Meinung der anderen oder eine öffentlich zur Schau getragene bürgerliche Tugendhaftigkeit, sondern die individuelle Selbstverwirklichung des Protagonisten. Statt ihm zu zeigen, wie er zu Reichtum kommt, meint der Kater bei Janosch: "Ich werde dir zeigen, was Reichtum taugt, ich bin reicher als reich, denn ich brauche nicht reich zu sein. Und das ist mehr. Obendrein bin ich noch lustig. Und gesund." (Janosch, 1996, 116). Analog zu dieser Einstellung spart Janosch auch die Episode aus, in der sich der Kater Stiefel wünscht. Dieser gibt sich mit so wenig zufrieden, dass er noch nicht einmal Stiefel braucht. Wahrer Reichtum und auch die Zauberkraft des Katers ist bei Janosch nicht materieller Art. Er liegt vielmehr im Auge des Betrachters, metaphorisch ausgedrückt durch das "Goldäuglein", ein kleines Insekt, in welches der Kater Hans verwandelt. Diese Verwandlung erlaubt Hans, seine eigene, beschränkte Perspektive zu verändern und über den Dingen zu schweben.

Vermittelte Perraults Fassung die Botschaft, dass zu Reichtum gelangt, wer hart daran arbeitet und ausreichend Schläue besitzt, so liest man aus Janoschs Version das exakte Gegenteil heraus: Wer sich nicht anstrengt, wer in jeder Lebenslage lässig bleibt, wird zwar nicht zum Helden, jedoch glücklich. Auch die Grimmsche Heilsaussage, dass dem Armen durch eine Mittlerfigur geholfen werde, ist völlig aus dem Text getilgt. Was sich in Janoschs Version im Laufe der Erzählung verändert, ist nicht der gesellschaftliche Status des jüngsten Sohnes, sondern vielmehr seine Sichtweise auf diesen. Propagiert wird die Befreiung von sozialen Schranken durch die Transzendierung der eigenen Position. Janoschs Erzählung bewegt sich somit wie das Goldäuglein selbst auf einer Metaebene zur ursprünglichen Problematik.

4.2 Vom Umgang mit der schwierigen Vergangenheit

Janoschs Text zeigt sich im Vergleich mit der Grimmschen Fassung ambivalent.

Einerseits findet eine klare Distanzierung vom Ausgangstext statt. Der ideologische, sprich bürgerliche Gehalt des Grimmschen Märchens wird vollkommen verändert. Insofern ist der Impetus der aktuellen Variante ein klar subversiver, der verkehrend auf die Tugenden des 19. Jahrhunderts Bezug nimmt. Andererseits enthält sich aber auch Janosch nicht einer moralischen Aussage, indem er sich in der Erzählung klar gegen kapitalistisches Streben und gesellschaftliche Repräsentation wendet. Die didaktische Grundhaltung aus dem 19. Jahrhundert bleibt also erhalten. Allerdings ergibt sich in dieser pädagogischen Haltung ein eklatanter Unterschied: Bei den Brüdern Grimm führten Tugenden wie Demut, Leidensfähigkeit und Bescheidenheit zu einer Belohnung von außen. Janoschs Hans ist da viel autonomer und selbstgenügsamer. Er kann sich durch eine Befreiung von sozialen Schranken selbst zum Glück führen. Er braucht keine Gesellschaft oder übersinnliche Instanz, die ihm sein Handeln vergilt. Es ist kein supraindividueller Wertekodex, der Hans zum strahlenden Sieger macht, sondern gerade die Distanzierung von diesem in einem radikalen Plädoyer für eine individualistische Lebensweise.

Diese Haltung ergibt Sinn, zieht man in Betracht, welche Rolle den Grimmschen Kinder- und Hausmärchen im Kontext des Nationalsozialismus zukam. Auf "urgermanische" Zeiten zurückdatiert sollten sie ein Zeugnis für die Kontinuität der deutschen Rasse über mehrere Jahrtausende hinweg ablegen und die Identität der Volksgemeinschaft in sich stärken. Im öffentlichen Diskurs wurden die Märchen auch als Zeichen arischer Überlegenheit über andere Länder bezeichnet, deren Erzählungen man lediglich die Bezeichnung "volkstümliches Erzählgut" zudachte (Hader, 2000, 151). Somit bildeten die Grimmschen Märchen neben Bräuchen und Riten einen der Grundpfeiler der volkskundlichen Nazi-Propaganda und wurden für das Regime zum wichtigen Vehikel der Abgrenzung der deutschen Nation nach innen und außen. Von dieser Funktion des Märchens als Stifter nationaler Identität versucht sich Janosch mit seiner Erzählweise klar zu distanzieren. Er kehrt sich von kollektiven Sinnmustern ab und unterstreicht die individuelle Komponente der Glücksfindung fernab von gesellschaftlichen Schranken und Verhaltensvorgaben. Heute, in einem postmodernen Kontext, der nationalstaatliche Grenzen durch Immigration und Arbeitskräftemobilität auflöst, lastet auf den Schultern des Märchens längst nicht mehr die Identität des ganzen Volkes. Über seine Metaposition erhebt sich das Goldäuglein über die historische Bürde der Gattung und eröffnet im Sinne Homi Bhabhas den dritten Raum eines autoreflexiven Dazwischen. Janoschs Der gestiefelte Kater zitiert die Grimmsche Fassung, um sich jedoch sogleich in einem dekonstruktiven Gestus über sie zu stellen.

5. Zusammenfassung und Ausblick

Es wurde aufgezeigt, dass die einzelnen Varianten des gestiefelten Katers nicht nur textuelle Unterschiede aufweisen, sondern dass sie sich auch in einen jeweils andersgearteten kulturellen Kontext einfügen. Damit vermitteln die drei Erzählungen auch völlig unterschiedliche Werte. Perraults Fassung stellt eine Gesellschaft der Repräsentation dar, in der der Müllerssohn sein wahres Gesicht hinter der Maske gesellschaftlichen Habitus verbirgt, um vorwärts zu kommen. Die Gebrüder Grimm legen die Betonung auf bürgerliche und christliche Tugenden, welche im Jenseits belohnt werden. Janosch zeichnet den Siegeszug des Individuums in einem postmodernen Umfeld nach.

Aber nicht nur die gesellschaftliche Einbettung unterscheidet die drei Erzählungen, sondern auch die Bedeutung, die die Texte für ihre Autoren haben. Perrault ermöglichen die contes Texte die Selbststilisierung als moderner Schriftsteller in einem immer autonomer werdenden literarischen Feld. Die Motivation der Gebrüder Grimm ist ganz im Gegensatz hierzu die Suche nach einer nationalen Identität, innerhalb welcher sie sich selbst als Schriftstellerpersönlichkeiten auflösen: Sie bezeichnen sich als bloße Sammler von Stoffen, die in der Bevölkerung bereits verbreitet haben. Janosch letztendlich setzt sich mittels seiner stark innovierenden Version mit der Vergangenheit auseinander, indem er zwar die Grimmsche Gattung zitiert, sich in seiner Position als individueller, gesellschaftskritischer Schriftsteller jedoch selbstbewusst über sie erhebt.

Bezieht man den kulturellen Entstehungsprozess der Märchen in die Interpretation mit ein, so kann von einer suprahistorischen und supranationalen Kontinuität des gestiefelten Katers keine Rede sein. Jede Zeit projiziert ihre eigenen Probleme und Werte auf ihre Erzählungen, so dass vom Wandel als Grundkonstante kultureller Prozesse ausgegangen werden muss. Als deutscher Erinnerungsort mit einer umstrittenen Vergangenheit eignen sich die Grimmschen Kinder- und Hausmärchen im Vergleich mit Perrault und Janosch optimal zur Heranführung französischer Schüler an die deutsche Nationalidentität(sproblematik) sowie zur Sensiblisierung für interkulturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede: Was auf den ersten Blick aussieht wie ein Perraultscher conte bekommt als deutsches Märchen eine ganz neue Bedeutung.

Bibliographie

Bettelheim, Bruno: Kinder brauchen Märchen; München: Dtv, 2006.

Brunold-Bigler, Ursula/ Bausinger, Hermann (Hg.): Hören Sagen Lesen Lernen;  Bern: Peter Lang, 1995.

Grimm, Jacob und Wilhelm: Kinder- und Hausmärchen. Berlin, 1812 (2. Auflage).

Hader, Valerie: Märchen als Propagandainstrument im Nationalsozialismus. Kommunikationshistorische Studie zur Bedeutung der Gattung Märchen innerhalb der faschistischen Kinder- und Jugendliteraturpolitik; Wien: Univ. Dipl. Arb., 2000.

Hoppe, Felicitas: Sieben Schätze. Augsburger Vorlesungen; Frankfurt: Fischer, 2009. Janosch: Janosch erzählt Grimms Märchen; Weinheim: Beltz & Gelberg, 1996.

Kast ,Verena: Märchen als Therapie; München: Dtv, 1993.

Köhler-Zülch, Ines: "Zum Puppenspiel 'Der Gestiefelte Kater' auf der Bühne sächsischer Wandermarionettentheater"; in: Ursula Brunold-Bigler/Hermann Bausinger (Hg.): Hören Sagen Lesen Lernen;  Bern: Peter Lang, 1995; S.359-394.

Krüger, Helga: Die Märchen von Charles Perrault und ihre Leser; Kiel 1969. Mourey, Lilyane: Grimm et Perrault. Histoire, structure, mise en texte des contes ; Paris : Lettres modernes, 1978.

Neuhaus, Stefan: Märchen; Tübingen: Francke, 2005.

Perrault, Charles: Contes; Paris: LGV, 2006 (1. korrigierte Auflage).

Perrault, Charles: Parallèle des anciens et des modernes en ce qui regarde les arts et les sciences; München: Eidos, 1964.

Rölleke, Heinz: Die Märchen der Brüder Grimm. Eine Einführung; Stuttgart: Reclam, 2008

Saupé, Yvette: Les Contes de Perrault et la mythologie. Rapprochements et influences; Tübingen : Papers on French Seventeenth Century Literature, 1997.

Schoof, Wilhelm: Zur Entstehungsgeschichte der Grimmschen Märchen; Hamburg: Dr. Ernst Hauswedell & Co., 1959.

Wunderer, Rolf: Der gestiefelte Kater als Unternehmer. Lehren aus Management und Märchen; Wiesbaden: Gabler, 2007.

Document d'accompagnement : illustrations du "Chat botté"/"Der gestiefelte Kater"

Die drei Illustrationen zu den Fassungen des gestiefelten Katers weisen bei genauerer Betrachtung auffallende Unterschiede in der Darstellung der Hauptfigur des Märchens auf. Auch an der Bebilderung lassen sich die Rollen ablesen, die der Kater in Perraults, Grimms und Janoschs Version einnehmen.

Zum vergrößern auf das Bild klicken.

1. Gustave Doré : "Le chat botté", 1697 : Originalillustration von Perraults Contes

Lechatbotte2.jpgDer gestiefelte Kater von Gustave Doré stammt aus dem Jahre 1697 und ist die Originalillustration der ersten Ausgabe von Perraults Contes. Es handelt sich dabei um einen Kupferstich, der in vielen Ausgaben nachträglich koloriert wurde. Der gestiefelte Kater erscheint auf diesem Bild in imposanter Gestalt. Bereits sein Körpervolumen ist ein Beweis für seine Macht und sein selbstbewusstes Auftreten in der Öffentlichkeit, das ihm und seinem Herrchen letztendlich zum gesellschaftlichen Aufstieg verhilft. Der Kater ist stattlich gekleidet, er trägt alle Attribute eines angesehenen Adeligen, einen Hut, ein prächtiges Hemd, eine goldene Gürtelschnalle und natürlich die Stiefel als Attribute des Edelmannes zu Pferde. Kein Wunder, dass diese Elemente bei Doré so stark ausgearbeitet sind. Schließlich spielen Repräsentation und Auftreten bei Perrault eine wichtige Rolle. Nur durch das Verbergen der wahren Persönlichkeit hinter einer adeligen Fassade gelangt Perraults Kater letztendlich zum ersehnten Erfolg. Der absolute Wille, die soziale Leiter bis ganz nach oben zu erklimmen, steht dem Kater ins Gesicht geschrieben.

2. Moritz von Schwind : "Der gestiefelte Kater", 1849 : Bilderbogen zu Grimms Märchen

Moritz2.jpgAnders sieht es bei Moritz von Schwinds Bilderbogen zu Grimms Märchen aus. Dieser lässt sich nicht ganz bis zur Urversion der Grimmschen Märchen zurückdatieren, zunächst unbebildert erschien. Allerdings handelt es sich um eine sehr häufig verwendete Illustration aus dem gleichen Jahrhundert. Der Bilderbogen zeigt unterschiedliche Szenen des Märchens auf einem Blatt. Am oberen Bildrand befindet sich auf drei kleinen Emblemen dargestellt die Vorgeschichte: der Kater, der den Müllerssohn tröstet, das Anlegen der Stiefel und der erste Erfolg des Katers, die Hasenjagd (von rechts nach links). In der Mitte des Bilderbogens ist die Szene dargestellt, in der der Kater den Feldarbeitern einschärft, sie sollen sein Herrchen vor dem König als Herr der Ländereien ausgeben. Im Hintergrund nähert sich bereits die Königskutsche. Der Weg führt letztendlich in den Vordergrund, wo sich die Belohungsszene abspielt, also der Müllerssohn, der im Begriff ist, um die Hand der Königstochter anzuhalten. Der Kater ist dabei im Gegensatz zu seinem französischen Kollegen ohne Kleidung und trägt lediglich die Stiefel und eine kleine Wandertasche. Die Grimmsche Märchen-Version legt ihren Schwerpunkt nicht auf den Habitus des Katers, sondern auf seine Funktion als magischen Erlöser. Die weiße Farbe des Fells ist nicht etwa Zufall: Sie konnotiert die heilsbringende Komponente des Katers (auch Jesus trägt in der christlichen Ikonographie stets ein weißes Gewand). Der Kater, der auf dem gesamten Bilderbogen sieben Mal auftaucht, ist stets von der Seite im Laufschritt gezeigt. Es scheint, als würde er seinem Herrchen immer vorauseilen, um dessen Glück zu besiegeln. Seine Präsenz an den wichtigen Stationen des Lebensweges seines Herrchens macht ihn zu einer Art Talismann. Die stärkere magische Komponente des Grimmschen Märchens drückt sich also auch in der Illustration aus.

3. Janosch : "Der gestiefelte Kater", 1997 : Originalillustration des Autors

Janosch petit.jpgJanosch ist in Deutschland für seine charakteristischen Illustrationen genauso bekannt wie für seine Geschichten. Er hat es sich natürlich auch nicht nehmen lassen, sein Märchenbuch selbst zu bebildern. Wie bei der Illustration der Gebrüder Grimm ist Janoschs gestiefelter Kater nackt, was zum Inhalt des Märchens passt, der suggeriert, dass man gerade mit wenig Besitz und ohne prunkvolle Statussymbole eher zum Glück gelangt. Als einziges Kleidungsstück trägt Janoschs Kater rote Stiefel - ein Attribut, das zwar im Text eine auffallend geringe Rolle spielt, jedoch notwendig ist, um die Intertextualität zu Grimms Märchen aufrecht zu erhalten. Schließlich definiert sich Janoschs Version gerade in Abgrenzung zu ihren Vorgängern. Der Kater ist nicht mehr blütenweiß wie in der Grimmschen Illustration, sondern grau, eventuell ein Indikator dafür, dass das Schwarz-Weiß-Denken und die Erlösungsvision der Romantik in der Postmoderne als überwunden anzusehen sind. Dem Tier steht der Schalk ins Gesicht geschrieben. Verschmitzt schaut er hoch zu Hans, als sei er gerade im Begriff, ihm seine revolutionäre Lebensphilosophie zu erklären. Janosch Kater ist ein selbstbewusster, eigensinniger, was seine Körperhaltung einleuchtend zum Ausdruck bringt. Er ist einer, der sein Glück abseits ausgetretener Pfade und gesellschaftlicher Konventionen sucht.

Les textes : Märchenanfang in den drei Fassungen

Die Textanfänge

Perrault, Charles: "Contes"; Paris: LGV, 2006 (1. korrigierte Auflage)

Un meunier ne laissa pour tout bien à trois enfants qu'il avait, que son moulin, son âne, et son chat. Les partages furent bientôt faits, ni le notaire, ni le procureur n'y furent point appelés. Ils auraient eu bientôt mangé tout le pauvre patrimoine. L'aîné eut le moulin, le second eut l'âne, et le plus jeune n'eut que le chat. Ce dernier ne pouvait se consoler d'avoir un si pauvre lot: "Mes frères, disait-il, pourront gagner leur vie honnêtement en se mettant ensemble; pour moi, lorsque j'aurai mangé mon chat, et que je me serai fait un manchon de sa peau, il faudra que je meure de faim." Le chat qui entendait ce discours, mais qui n'en fit pas semblant, lui dit d'un air posé et sérieux: "Ne vous affligez point, mon maître, vous n'avez qu'à me donner un sac, et me faire faire une paire de bottes, pour aller dans les broussailles, et vous verrez que vous n'êtes pas si mal partagé que vous croyez." (Perrault, 2006, 235/6)

Lire la suite dans l'édition de 1865 : gallica.bnf.fr

Grimm, Jacob und Wilhelm: "Kinder- und Hausmärchen". Berlin, 1812 (2. Auflage)

"Ein Müller hatte drei Söhne, seine Mühle, einen Esel und einen Kater; die Söhne mußten mahlen, der Esel Getreide holen und Mehl forttragen und die Katze die Mäuse wegfangen. Als der Müller starb, teilten sich die drei Söhne in die Erbschaft, der älteste bekam die Mühle, der zweite den Esel, der dritte den Kater, weiter blieb nichts für ihn übrig. Da war er traurig und sprach zu sich selbst: Ich hab es doch am allerschlimmsten gekriegt, mein ältester Bruder kann mahlen, mein zweiter kann auf seinem Esel reiten, was kann ich mit dem Kater anfangen? Laß ich mir ein paar Pelzhandschuhe aus seinem Fell machen, so ist es vorbei. Hör, fing der Kater an, der alles verstanden hatte, was er gesagt, du brauchst mich nicht zu töten, um ein paar schlechte Handschuhe aus meinem Pelz zu kriegen, laß mir nur ein paar Stiefel machen, daß ich ausgehen kann und mich unter den Leuten sehen lassen, dann soll dir bald geholfen sein." (Grimm, 1812, 148)

Weiter lesen : gutenberg.spiegel.de

Janosch: "Janosch erzählt Grimms Märchen"; Weinheim: Beltz & Gelberg, 1996

"Ein Mann hatte drei Söhne, fünf Fabriken, siebenundzwanzig Häuser und Autos und Landbesitz und Seen und Wälder. Und dann starb er. Das Erbe wurde verteilt an zwei seiner Söhne. Der dritte Sohn bekam nichts, denn seine Mutter war nicht die Gemahlin des Reichen, sie war nur das Dienstmädchen. Der älteste und der zweite Sohn hatten oben im Haus des Mannes gelebt, der jüngste Sohn unten im Haus des Gärtners, zusammen mit seiner Mutter. Wenn der Vater zu seinen Lebzeiten durch den Park gefahren war und sein Sohn ihm das Tor öffnete, hatte er ihn oft gegrüßt, indem er zweimal hupte. Der jüngste Sohn hieß Hans. Da nun der Mann tot war, bekam der älteste Sohn die eine Villa im Park, in der er wohnte, und er bekam drei Fabriken, vierzehn Häuser, dreizehn Autos, etliches Land und Wälder und Seen. Der zweite Sohn bekam die zweite Villa und den Rest. Das war etwas weniger, als der erste bekommen hatte, doch der erste war der ältere. Und jeder der beiden Söhne bekam sehr viel Geld. Hans aber bekam fast nichts. Er bekam nur das Wohnrecht auf Lebzeit in einer Stube im Haus des Gärtners, mietfrei, einschließlich Heizung für den Ofen. Dazu drei bescheidene Mahlzeiten wie etwa: Brot mit Margarine zum Frühstück, Kartoffeln und Quark zu Mittag und zum Abendbrot Brot mit Wurstaufschnitt. Außerdem alle fünf Jahre einen neuen Anzug mit Hut ebenfalls mittlerer Qualität. Und außerdem einen gestiefelten Kater, als ob sie ihn obendrein noch verhöhnen wollten. Da saßen sie nun: der erste Sohn oben im Park in der neuen Villa, der zweite oben im Park in der alten Villa, und Hans saß unten auf der Bank mit seinem gestiefelten Kater und ärgerte sich. 'Essen auf Lebzeit, pffff, da pfeif ich doch drauf', sagte er. 'Und einen Kater, aus dem ich mir bestenfalls im Winter einen Nasenwärmer aus Katzenfell mit Gummizug machen lassen kann. Und sonst nichts!' 'Gräme dich nicht, Kamerad', sagte der Kater, 'denn du hast den besten Teil geerbt und obendrein noch mich.'" (Janosch, 1996, 115/6)

Janosch: Janosch erzählt Grimms Märchen; Weinheim: Beltz & Gelberg, 1996
ISBN 978-3-407-78250-2, ab 8 Jahre.

Erläuterung

Die unterschiedliche kulturelle Verortung der drei Versionen des Gestiefelten Katers lassen sich bereits anhand der Romananfänge ablesen. Alle drei beginnen mit dem Tod des Vaters und der Aufteilung des Erbes. Der Müllerssohn reagiert allerdings jeweils leicht unterschiedlich auf die schlechte Nachricht, dass er lediglich den Kater geerbt hat. Die unterschiedlichen Formulierungen dieser Handlung geben den Texten jeweils andere Nuancen.

Bei Perrault reagiert der Müllerssohn auf die schlechte Nachricht, indem er sich in wirtschaftlichen Überlegungen ergeht. Sein Stil ist dabei nüchtern und objektiv, obwohl das ausbleibende Erbe eine konkrete existenzielle Bedrohung für ihn darstellt. Das ist bereits ein Hinweis darauf, dass die Thematik Perraults sehr viel mehr auf gesellschaftliches Kalkül ausgerichtet ist. Nur dadurch, dass der Müllerssohn vernünftig überlegt und dass später an seiner Stelle der Kater berechnend handelt, schafft er es, die soziale Leiter bis zum Königssohn emporzuklettern. Emotionen wären hier fehl am Platze. Es geht bei Perrault gerade darum, den anderen nicht die wahren Gefühle zu zeigen, sondern einen gesellschaftlichen Habitus vorzuspielen, den man im Grunde nicht besitzt und sie dadurch zu blenden. Deshalb bei Perrault der sehr viel kühlere Tonfall: Es ist die Stimme der Gesellschaft der Repräsentation des 18. Jahrhunderts, die hier spricht.

Ganz anders bei den Gebrüdern Grimm: Ihre Erzählung erregt beim Leser sehr viel mehr Mitleid, etwa durch die Verwendung von emotiven Lexemen ("Ich hab es doch am allerschlimmsten gekriegt."). Perraults Müllerssohn beklagt sein Schicksal eher, als dass er konstruktiv über Lösungswege nachdenken würde. Dadurch erscheint die Grimmsche Figur dem Leser viel passiver als die von Perrault. Sie weiß sich alleine nicht zu helfen und wartet auf die rettende Erlösung von außen, die letztendlich der Kater darstellt. Während Perraults Müllerssohn ganz pragmatisch auch noch darüber nachdenkt, den Kater wenigstens aufzuessen, um so seinen schlimmsten Hunger zu stillen, kann sich der Grimmsche Müllerssohn höchstens vorstellen, sich Pelzhandschuhe aus ihm zu machen. Aber selbst dadurch hätte er das Gefühl, Schuld auf sich zu laden, indem er das Tier tötet - was sich an der Reaktion des Katers ablesen lässt ("Du brauchst mich nicht zu töten."). Die deutsche Version ist hier weniger gewaltsam  - ein Hinweis darauf, dass die Zielgruppe eine andere ist: Grimms Märchen richteten sich an Kinder, während Perrault in den Pariser Salons gelesen wurde.

Aussagekräftig ist auch die Formulierung des Hilfeangebots des Katers in beiden Versionen. Perraults Kater lässt den Müllerssohn seine aktive Rolle bewahren ("Vous verrez que vous n'êtes pas si mal partagé que vous croyez."). Gemeinsam mit dem Kater wird er seinen sozialen Aufstieg forcieren. Anders der Grimmsche Kater ("dann soll dir bald geholfen sein."): die Rettung kommt dem Müllerssohn von außerhalb, deshalb die passive Formulierung. So ist auch die Rolle der beiden Katerfiguren eine jeweils andere: In der französischen Version ist der Kater ein Stellvertreter seines Herrchens, der in dessen Sinne einen gesellschaftlichen Erfolg herbeiführt, Kater und Müllerssohn haben das gleiche Ziel vor Augen; die deutsche Version wiederum gibt dem Kater die Rolle einer eigenständig handelnden Figur. Der Kater hilft an der Stelle, wo der Müllerssohn selbst längst aufgegeben hat und übernimmt damit - passend zum bürgerlich-christlichen Diskurs seiner Zeit - die  Funktion des erlösenden Heilsbringers. 

Noch einmal anders verhält es sich bei Janosch. "Ein Mann hatte drei Söhne" - das Märchen beginnt mit der gleichen Floskel wie das der Gebrüder Grimm. Damit aber ist es mit den Gemeinsamkeiten bereits getan. Janoschs Version ist sowohl inhaltlich, als auch sprachlich stark abgewandelt. Die Familie, in der die Erbschaftsgeschichte spielt, ist extrem wohlhabend ("fünf Fabriken, siebenundzwanzig Häuser und Autos und Landbesitz und Seen und Wälder"). Auf diese hyperbolische Aufzählung folgt in barocker Manier die Ent-täuschung und Nichtung all dieses Besitzes durch den Tod des Vaters ("Und dann starb er."). Der dritte Sohn wird nicht etwa deshalb erblich vernachlässigt, weil er der jüngste ist, sondern weil er unehelich gezeugt und nicht als Sohn anerkannt wurde. Es ist bei Janosch nicht mehr der finanzielle Mangel, der den jüngsten leer ausgehen lässt, sondern die gesetzlichen und moralischen Einschränkungen einer repressiven Gesellschaft. Die sozialen Parameter haben sich hier eindeutig verändert. Die Erwähnung unehelicher Kinder wäre nach dem moralischen Kodex des 17. oder 19. Jahrhunderts in einem Märchen unmöglich gewesen. Heute kann auch in der Literatur über solche Themen gesprochen werden, wenngleich dennoch innerhalb der Geschichte eine klare Stigmatisierung des unehelichen Sohnes stattfindet. Diese drückt sich auch über den Chronotopos aus. Während seine Brüder in einem prächtigen Haus wohnen, wohnt der jüngste Sohn "unten im Haus des Gärtners, zusammen mit seiner Mutter". Während die anderen in Hülle und Fülle erben, erhält er nur das zum Überleben Notwendige.

Eine auffällige Abweichung vom Ausgangstext ist auch die Tatsache, dass überhaupt kein Wert auf das gesellschaftliche Emporkommen des Müllerssohnes gelegt wird. Das Glück erreicht die Hauptfigur dadurch, dass sie sich mit dem wenigen zufrieden gibt, während seine reichen Brüder nur Sorgen haben. Das ist es, was der Kater meint, wenn er sagt: "Du hast den besten Teil geerbt und obendrein noch mich.". Janoschs Text ist ein Plädoyer dafür, dass nur eine Befreiung von sozialen Schranken wie der Geldgier zu einem erfüllten Leben führt. Dabei ist es allerdings kein supraindividueller Wertekodex, der den Müllerssohn zum Sieger im Kampf um das Glück macht, sondern seine non-konformistische Lebensweise.

 

Pour citer cette ressource :

Teresa Hiergeist, "«Der gestiefelte Kater» und sein kulturgeschichtlicher Transformationsprozess (anhand von Charles Perrault, den Gebrüdern Grimm und Janosch)", La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), mai 2010. Consulté le 26/04/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/litterature/mouvements-et-genres-litteraires/jeunesse-et-contes/der-gestiefelte-kater-und-sein-kulturgeschichtlicher-transformationsprozess-anhand-von-charles-perrault-den-gebrydern-grimm-und-