«Germania Tod in Berlin» von Heiner Müller
I. Die Biografie
1. Zum Leben Heiner Müllers
Heiner Müller wurde am 9. Januar 1929 in Eppendorf geboren, einer kleinen Kleinstadt in Sachsen. Er beschreibt selbst sein Milieu als „eine Arbeiteraristokratie, von der Mentalität her sehr nationalistisch“. Sein Vater war Funktionär der Sozialistischen Arbeiterpartei. Er gehörte zu den ersten Opfern der Nationalsozialisten, welche die Linksparteien ausschalteten. Müller hatte die Deportierung seines Vaters als eine traumatische Erfahrung erlebt. Er lebte in materieller Not und sozialer Ausgrenzung, weil der Vater nach seiner Entlassung keine Anstellung fand. Erst 1938 fand er in der Stadt Waren wieder Arbeit. Dort besuchte Heiner Müller die Mittelschule und später das Gymnasium, aufgrund guter Leistungen. 1944 wurde er zum Reichsarbeitsdienst eingezogen, anschließend zum Volkssturm. Im Jahre 1947 zog die Familie nach Frankenberg um, wo Müller das Abitur machte und bis 1951 als Hilfsbibliothekar arbeitete. Die ersten Schreibversuche sind auf diese Zeit zurückzuführen. Als sein Vater 1951 in den Westen fliehen musste, entschied er sich dafür, in der DDR zu bleiben.
In Berlin versuchte Müller, Schriftsteller zu werden. Ab 1951 schrieb er Literaturkritiken für den Sonntag. In dieser Zeit beschreibt er sich als asozialen Nomaden der Stadt. Im August 1951 heiratete er seine Jugendfreundin Rosemarie Fritzsche, setzte sein Junggesellenleben aber weiter fort. Nach der Trennung von ihr heiratete er 1954 die Kinderbuchautorin Inge Schwenkner. Die Beziehung war von Anfang an schwierig. Nachdem er dem Deutschen Schriftstellerverband beigetreten war, wurde er 1958 Redakteur der Jungen Kunst, dann Mitarbeiter am Maxim-Gorki-Theater. Sein Stück Die Umsiedlerin wurde dennoch nach der ersten Aufführung 1961 wegen "unzureichender Darstellung der Wirklichkeit" abgesetzt, weshalb Müller aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen wurde. Er musste abseits des offiziellen Kulturbetriebs unter einem Pseudonym in Rundfunk und Fernsehen erscheinen.
Seinen Weltruhm verdankte Müller seiner Rückkehr ans Theater. Im Jahre 1970 wurde er von der Regisseurin des Berliner Ensembles engagiert und trat so die Nachfolge Bertolt Brechts an. Im selben Jahr heiratete er Ginka Tscholakowa. Er reiste 1975 in die USA, um eines seiner Stücke zu inszenieren. Als der unbequeme Liedermacher Wolf Biermann 1976 anlässlich eines Konzertes in der BRD von den DDR-Behörden ausgebürgert wurde, gehörte Müller zu den Unterzeichnern des Offenen Briefes gegen diese Maßnahme. In den achtziger Jahren konnte Müller ungehindert zwischen den beiden deutschen Staaten hin- und herreisen. 1984 wurde er in die Akademie der Künste aufgenommen, 1988 auch wieder in den Schriftstellerverband. 1990 wurde er zum Präsidenten dieser Akademie gewählt, 1992 zum Direktoriumsmitglied des Berliner Ensembles, ab 1995 dessen künstlerischer Leiter. Am 30. Dezember 1995 verstarb Heiner Müller in Berlin an Lungenkrebs.
2. Zum Werk Heiner Müllers
Heiner Müller gilt als einer der wichtigsten Dramatiker des zwanzigsten Jahrhunderts. Von 1951 an trat er schriftstellerisch auf, zunächst mit Prosastücken (Parabeln, Das Volk ist in Bewegung, Der seltsame Vorbeimarsch). Im Jahre 1957 erfolgte die Erstaufführung seines Stückes Zehn Tage, die die Welt erschütterten. Seine ersten Stücke Der Lohndrücker und Die Korrektur wurden 1958 in Leipzig und am Maxim-Gorki-Theater in Berlin aufgeführt. Müllers frühe Stücke stellen das offizielle Aufbaupathos der sozialistischen Gesellschaft dar. Trotzdem wurde sein didaktisches Theater im Kontext des sozialistischen Realismus kritisiert, insbesondere seine Komödie Die Umsiedlerin, die am 30. September 1961 wegen konterrevolutionärer und antikommunistischer Tendenzen abgesetzt wurde und zu einem Berufsverbot führte. Danach verfasste er unter dem Pseudonym Max Messer ein Kriminalhörspiel, Der Tod ist kein Geschäft. Mit der Veröffentlichung der Winterschlacht 1963 versuchte er wieder in den Kulturbetrieb der DDR einzusteigen.
In den sechziger Jahren arbeitete er an Benno Bessons Konzeption eines „Volkstheaters“, verstanden als Kommunikationsverhältnis, z. B. durch die Aufhebung der Trennung von Zuschauerraum und Bühne. Er beschäftigte sich ebenfalls mit der Bearbeitung mythologischer Stoffe und veröffentlichte 1964 eine Sophokles-Adaptation Philoktet, 1967 den Prometheus und 1968 den Horatier. Diese Stücke waren in der DDR verboten, öffneten aber Müller den Zugang zu den Bühnen des Westens. Sein Drama Mauser, das die Frage aufwirft, inwiefern eine Revolution die Grausamkeit der politischen Mittel rechtfertigt, wurde 1970 von den Behörden der DDR verboten. Eine Reise in die USA machte ihn aufmerksam auf das Werk englischer und amerikanischer Autoren, worauf er 1977 die Hamletmaschine schrieb, in Anlehnung an Shakespeare, für den er sich bereits 1971 mit seinem Stück Macbeth interessiert hatte.
Germania Tod in Berlin gehört wie Schlacht/Traktor (1951-1974) in die Reihe der Selbstbearbeitungen (1956-1971). Aber das Stück wurde zensiert, weil es ein propagandistisch verfälschendes Bild der DDR vermittele: „Germania Tod in Berlin durfte weder gespielt noch gedruckt werden. Das galt bis 1988, als Wekwerth das Stück am Berliner Ensemble von Macquart inszeniert haben wollte“ (Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht: Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2003, S. 254). Müller inszenierte 1982 in Bochum das Stück Der Auftrag, das die Hoffnung auf revolutionäre Umwälzungen bei den Völkern der sogenannten Dritten Welt wecken sollte. Es knüpft thematisch an Die Hamletmaschine an, indem es sich mit der Deformation von Idealen, der Melancholie und dem Geschichtsekel beschäftigt.
Quartett (nach Laclos), das meistgespielte Stück Müllers, wurde 1982 veröffentlicht und von Müller, der schon 1978 in Fatzer-Material die amoralische Verbindung von Töten und Demut hinterfragte, als ein „Reflex auf das Problem des Terrorismus“ bezeichnet. Ab Mitte der achtziger Jahre entwarf er nach Abschluss von Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar (1984) und während der Arbeit an Wolokolamsker Chaussee (1985) das Projekt, ein Stück über Stalingrand zu schreiben, es sollte 1995 Germania 3 Gespenster am Toten Mann werden. Sein Debüt als Opernregisseur gab Müller am Ende seines Lebens mit der Inszenierung von Tristan und Isolde in Bayreuth.
II. Das Stück
1. Der Inhalt
Das Stück besteht aus dreizehn Szenen, die inhaltlich sehr unterschiedlich sind und dessen Zusammenhang rätselhaft erscheint.
Die erste Szene, „DIE STRASSE 1/Berlin 1918“, findet in der Zeit nach dem Ende des Ersten Weltkrieges statt. Eine Frau ist erleichtert, dass ihr Mann zurückgekommen ist, während auf den Straßen die Revolution tobt und der Bäcker seinen Laden schließt. Die Szene stellt somit die private Logik, das heißt die Familie, und die soziale und öffentliche Logik, die Revolution, einander gegenüber.
Die zweite Szene, „DIE STRASSE 2/Berlin 1949“, führt viele Figuren ein (Alter, Mann, Windjacke, Hure). Sie hat eine politische Funktion, wie es das folgende Motto zeigt: „ES LEBE DIE DEUTSCHE DEMOKRATISCHE REPUBLIK DER ERSTE ARBEITERUNDBAUERNSTAAT AUF DEUTSCHEM BODEN“. Sie weist verschiedene Meinungen karikaturartig auf: „Merkst du was / Von einem Staat hier?“.
„BRANDENBURGISCHES KONZERT 1“ zeigt zwei Clowns in der Manege, die Friedrich II. und den Müller von Potsdam spielen. Schließlich zwingt der König den Müller, den Krückstock zu verschlucken.
Friedrich der Grosse erscheint auch in der nächsten Szene, „BRANDENBURGISCHES KONZERT 2“. Ein Maurer von der Stalinallee wird in das Schloss eingeladen, wo ein Büfett gegeben wird. Er kämpft mit dem König und bekommt schließlich Bier und ein Kotelett.
Die Szene „HOMMAGE A STALIN 1“ findet im Kessel von Stalingrad statt. Ein junger Soldat trifft auf drei weitere Soldaten, die verletzt sind. Die Gespenster von Napoleon und Cäsar erscheinen. Dann massakrieren sich vier Nibelungen-Helden.
Der zweite Teil der „HOMMAGE A STALIN“ bezieht sich auf Stalins Tod: „Stalin ist tot“. Zunächst führen Kleinbürger und Huren ein laszives Gespräch. Dann sprechen sie, insbesondere Hilse und ein Betrunkener, von dem Kampf gegen den Kapitalismus: „du bist Prolet, ich bin Prolet. Wir müssen / Zusammenhalten gegen den Kapitalismus / Gegen den Sozialismus auch“. Schließlich weist ein Schädelverkäufer auf einen neuen Anfang hin und bedient sich dafür einer Vergil-Ode.
Die folgende Szene, „DIE HEILIGE FAMILIE“, stellt eine Parodie dar, in der Hitler, Goebbels und Germania als Bestandteile einer dreiteiligen religiösen Einheit auftreten.
Die achte Szene, „DAS ARBEITERDENKMAL“, ist eine Verarbeitung des 17. Juni 1953, des Tages, an dem in der DDR ein Aufstand stattfand, von dem der Arbeiter Hilse im Stück nichts wissen will. Er wird „im Rock-Rhythmus“ mit Steinen beworfen.
„DIE BRÜDER 1“ besteht aus einer Textstelle aus den Annalen des Tacitus über zwei feindliche Brüder. Flavus hat sich in den Dienst der Römer begeben, während Arminius sein Vaterland nicht verraten will.
Die zehnte Szene, „DIE BRÜDER 2“, spielt am 17. Juni 1953 in einem Gefängnis der DDR. Sie führt einen Kommunisten, seinen Nazi-Bruder und Gandhi zusammen. Der Kommunist und der Nazi tragen in einem Monolog ihre Leiden im Dritten Reich vor. Der Nazi wird von der Gestapo gefoltert und zum Spitzeldienst gezwungen. Der Kommunist wird von der SA gedemütigt. Am Ende der Szene stürzen sich der Nazi, Gandhi und der Brückensprenger auf den Kommunisten.
Das darauf folgende „NACHTSTÜCK“ besteht aus Bühnenanweisungen, die die Bewegungen eines auf der Bühne stehenden Menschen beschreibt, der „vielleicht eine Puppe“ ist und sich im Verlauf der Szene selbst zerstückelt. Es gelingt ihm nicht, das Fahrrad zu erreichen, und am Ende weint er „mit jedem Auge eine Träne“.
Die darauf folgende Szene, „TOD IN BERLIN 1“, besteht aus den letzten zwei Strophen eines Sonetts von Georg Heym, „Berlin VIII“.
In der Schlussszene „TOD IN BERLIN 2“ erzählt Hilse dem Jungen Maurer von seinem Krebs. Der Junge Maurer vergleicht die Partei mit einer Hure, die er für eine Jungfrau hielt. Hilse behauptet, in der Hure Rosa Luxemburg erkannt zu haben. Das Stück endet mit Hilses Tod und mit der Vorstellung, dass die Kinder in Friedrichsfelde „Maurer und Kapitalist spielen / Und keiner will der Kapitalist sein“.
2. Die Form
Die Struktur des Stücks folgt keiner chronologischen Reihenfolge. Die Unauflösbarkeit der politischen und ästhetischen Widersprüche sowie die Heterogenität des Textes entsprechen einer Absicht des Verfassers, die der Zuschauer bzw. Leser erraten möchte. Die Fragmentierung ist chronologisch und inhaltlich, selbst wenn man eine gewisse Logik erkennen kann.
Bemerkenswert ist, dass die Szenen meistens gepaart auftreten und dass die zweite der sich spiegelnden Szenen oft dem DDR-Alltag entnommen ist. Aus dem Zusammenhang der gepaarten Szenen ergibt sich eine zu enträtselnde Bedeutung. Was zum Beispiel die ersten zwei Szenen verbindet, ist die Reaktion des Volks: einerseits während der Novemberrevolution, andererseits während des Gründungstages der DDR. So inszenieren auf ähnliche Weise die beiden Brandenburgischen Konzerte den König Friedrich II., der in der zweiten Szene zum Symbol für die restaurative Dimension des DDR-Regimes wird, das sich durch eine neupreußische Bürokratie kennzeichnet und den Widerstand des Volks gegen den Sozialismus bewirkt. Die beiden Hommage-Szenen werden ihrerseits durch eine akustische Kulisse verbunden („Der Lärm geht weiter bis zum nächsten Bild“). Die Sirenen und das Glockenläuten signalisieren den Tod, denn diese Szenen setzen in verschiedenen Epochen den Tod des Alten der Geburt des Neuen entgegen.
Die erste der gepaarten Szenen kann dann aber wiederum als Pendant der zweiten gedeutet werden. Die erste Szene der „Brüder“ bildet zum Beispiel ein rätselhaftes literarisches Gegenstück zu der zweiten Szene und kann als antizipatorische Zusammenfassung verstanden werden. Dasselbe gilt für „Tod in Berlin“ 1 und 2, die beide das Ende Germanias in ihrer Hauptstadt thematisieren.
Es gibt nur wenige unabhängige Szenen. Die Szenen sieben und acht, die nicht miteinander verbunden zu sein scheinen, legen eigentlich die Zerrissenheit von Germania an den Tag, indem sie respektive den zweiten Weltkrieg und den Streik am 17. Juni 1953 darstellen. Das „Nachtstück“ ist ebenfalls ein unabhängiges Bild, das eine Pause markiert und das traurige Ende ankündigt.
Die Szenen sind sprachlich unterschiedlich, denn Müller verwendet alle Mittel des Theaters. Die Monologe verdienen unsere besondere Aufmerksamkeit, da sie eine für das Theater typische Situation sind. Müller bleibt der Tradition treu: In ihren Monologen übernehmen z. B. der Alte und der Betrunkene die herkömmliche Rolle des Weisen. Zu den typischen Mitteln des Theaters gehört auch die Vervielfachung der Figuren (Hure 1 2 3, Kleinbürger 1 2 3, Mann 1 2 3, Windjacke 1 2), dank denen aufschlussreiche Bemerkungen ausgetauscht werden können. Der Autor benutzt ebenfalls zahlreiche Großbuchstaben, um die mit Nachdruck ausgesprochenen Aussagen zu unterstreichen, z. B. die des „Lautsprechers“ oder der „Stimmen“. Zu betonen ist ebenfalls die Benutzung der Regieanweisungen: Fast jede Szene wird von einem kleinen Text eingeführt und das „Nachtstück“ besteht nur aus Regieanweisungen, die die Bewegungen der Marionette inszenieren. Die bekannte Diskrepanz zwischen Umgangssprache und poetischer Sprache findet hier ihren Niederschlag, indem die literarischen Zitate den Akzent auf eine gehobene Sprache und eine herkömmliche Form legen, während die Umgangssprache auf das Alltagsleben und die Aktualität des Stückes hinweist: „Nummer eins ist satt. Vier weniger eins macht drei“. Die sexuellen und lasziven Sprachelemente sind ihrerseits wie oft sonst auf eine provokative Absicht des Autors zurückzuführen.
III. Das Erbe
1. Die Verarbeitung der deutschen Geschichte
Die Technik der Collage und Montage dient dem Versuch, Vorgeschichte und Aktualität der DDR einander gegenüberzustellen. Es erklärt die Zensur: „das Stück war eine Polemik gegen das offizielle Geschichtsbild“ (Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht, S. 256).
Heiner Müller nennt zwei dramaturgische Prinzipien, „Überschwemmung“ und „Anachronismus“: „ich glaube, dass es jetzt wieder so ist, dass man ohne Anachronismen Geschichte nicht mehr beschreiben kann“ (Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht). In diesem Stück bewirkt die anachronistische Häufung der Figuren die Überschwemmung.
Auf diese Weise wird die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart unterstrichen. Zum Beispiel werden Parallelen zwischen der Revolution und dem Gründungstag der DDR gezogen, um mit Nachdruck die Verneinung des Erbes der Revolution von 1848 und der Novemberrevolution zu zeigen, oder es wird eine Verbindung zwischen Prostitution und Opportunismus hergestellt, um letzteren an den Pranger zu stellen. In Bezug auf das preußische Erbe sagt Heiner Müller, dass „das preußische Erbe auch etwas ist, das die DDR zu tragen hat. Da war ein Beamtenstaat und ein Staat, wo die Leute zu Untertanen erzogen wurden.“ Friedrich II. tritt hier als Repräsentant des in der DDR fortdauernden Feudalabsolutismus und der immer noch aktuellen Untertanenmentalität auf.
Daran lässt sich Müllers Stellungnahme erkennen. Er schildert Deutschland als ein zerrissenes Land und die gesamte Geschichte der Deutschen als Katastrophengeschichte. Die zwei „Hommagen“ werfen die Frage nach dem Geschichtsoptimismus auf. Napoleon hat ein deutsches Bewusstsein und einen deutschen Stolz erweckt, aber die deutsche Einheit blieb zu seiner Zeit unerreichbar. Die Deutschen mussten sich mit Tyrannen auseinandersetzen, was hier durch die Anwesenheit von Cäsar und Napoleon angedeutet wird. Die Selbstzerfleischung und das gegenseitige Massaker stehen aber Deutschlands Einheit im Wege. Der junge Maurer, der die Hure für eine reine Jungfrau hielt, symbolisiert dagegen die naive Hoffnung auf einen Neubeginn wie ihn die Gründung der DDR aus marxistischer Sicht hätte bedeuten sollen. Gegen diese Utopie wird das Memento Mori gesetzt, verkörpert vom Schädelverkäufer. Hat das deutsche Volk überhaupt noch die Kraft, zu kämpfen? In der „heiligen Familie“ erscheint Germania, die das deutsche Volk verkörpert, nicht mehr als kämpfende Frau mehr und in dem „Arbeiterdenkmal“ tritt das Volk als gespalten auf, eine Gespaltenheit, die durch die Lage der zwei römischen Brüder veranschaulicht wird. Das Gefängnis kann darüber hinaus als Allegorie der DDR gelesen werden, eines Landes also, in dem der wahre Kommunist nach seinem Platz und seiner Identität suchen muss („wer bin ich“).
Die zahlreichen historischen und literarischen Zitate und Entlehnungen zeigen schließlich über das offizielle Dogma des sozialistischen Realismus hinaus, wie vielfältig das Erbe ist, das die DDR aus Müllers Sicht antreten durfte und sollte. –
2. Die Wiederaufnahme und Verarbeitung des literarischen Stoffs
Selbst wenn die Geschichte defätistisch dargestellt wird, bleibt das Theater weiterhin ein Ort des Schaffens. Heiner Müller tritt hier ein vielschichtiges literarisches Erbe an, wie es die auffallende Intertextualität beweist, die sich sowohl auf die literarische Dimension des Textes als auch auf die Interpretation der Geschichte bezieht.
Die Zitate der beiden Autoren aus der römischen Antike veranschaulichen diese doppelte Interpretationsmöglichkeit. Vergils direktes Zitat, den wir schon erwähnt haben, wirft unverhohlen, wenn auch metaphorisch, die Frage nach der Verarbeitung der Sprache auf, die jedem literarischen Werk zugrunde liegt: „aus hartstämmigen Eichen wie Tau wird / Tropfen der Honig“. Die Entlehnungen aus den Annalen des Tacitus mit den zwei feindlichen Brüdern Flavus und Arminius hinterfragen dagegen den Platz der Geschichte und des Gedächtnisses.
Das Schreiben spiegelt die Wirklichkeit einer Epoche wider, aber auch die Entwicklung, die zu ihr geführt hat. Dieses Stück vermittelt den pessimistischen Eindruck, dass die Menschheit keine Fortschritte gemacht hat und die Menschen immer noch gespalten sind. Die Anspielungen auf die Bibel verweisen in der Szene „der heiligen Familie“ auf die Ursprünge der menschlichen Geschichte und stellen metaphorisch die Frage nach den Nachkommen, zu denen Germania gehört, eine Verkörperung des deutschen Volkes in der Gestalt einer Frau im Waffenschmuck. Heiner Müller nimmt auf diese Weise eine herkömmliche Allegorie wieder auf, die er gleichzeitig aber zerstört, indem er Germania samt ihren ganzen Waffen als schwache Mutter darstellt.
In der barocken Figur des Schädelverkäufers erkennen wir weiter die Wiederaufnahme und Verarbeitung eines berühmten Motivs aus dem Hamlet, was uns nicht wundernimmt, denn wir wissen bereits, dass Müller in Shakespeare eine wichtige Inspirationsquelle sah. Dieser Schädelverkäufer, der die einzige fantastische Figur des Stückes ist, fordert uns wie bei Shakespeare zu der melancholischen Frage nach dem Sinn des Seins auf und kann deshalb als eine Allegorie des melancholischen Marxisten gedeutet werden. Eine weitere shakespearsche Figur wird in der Gestalt der Ophelia herangeführt, deren Leiche mit der der ertrunkenen Rosa Luxemburg verschmilzt: „das Wasser hat dich nicht behalten, Rosa“.
Die „Nachtstück“ betitelte Pantomime-Szene verweist ihrerseits durch ihren Titel auf die musikalische Kunst des Notturnos und kann darüber hinaus u. a. als Anspielung auf den Nihilismus von Bonaventura in „Nachtwachen“ von E.T.A Hoffmann gelesen werden. Da das Motiv der Nacht in der deutschen Literatur ein beziehungsreiches Element ist, das sowohl auf Novalis' Hymnen an die Nacht als auch auf z. B. Eichendorffs Gedicht Zwielicht („Hast du einen Freund hienieden / Trau ihm nicht zu dieser Stunde“) anspielen mag, so kann sich der Leser anhand der zahlreichen möglichen Bezüge seine eigene Interpretation des Textes ausdenken.
Die Intertextualität kann uns aber auch zu politischeren Deutungen des Textes führen. So nimmt z. B. ein Zitat von Georg Heym in Bezug auf die Jakobinerherrschaft das Scheitern der Novemberrevolution vorweg. Die Szene „Tod in Berlin 2“, mit der das Stück endet und die sowohl Hilses Schicksal als auch die Ereignisse um den 17. Juni abschließt, ist in Analogie zum Schluss von Gerhard Hauptmanns Drama Die Weber zu lesen.
So gibt die reiche Intertextualität des Stückes dem Publikum die Möglichkeit, sich im Zusammenhang mit der Frage nach dem Werdegang Deutschlands mit einem literarischen Erbe auseinanderzusetzen, das überwiegend deutsche Werke einschließt, aber auch Werke der Weltliteratur mit einbezieht.
Ein besonderer Platz kann hier Bertolt Brecht eingeräumt werden. Die groteske Stilisierung der Figuren, aber auch die Einführung eines Songs rufen nämlich die Erinnerung an Brecht und dessen Theater der Provokation wach. Hier wird die Gründung der DDR karikiert: Die Regieanweisung „Beifall aus dem Lautsprecher“ und die Anwesenheit der Clowns machen den ganzen Gründungsprozess der DDR und darüber hinaus das Regime zur Farce. Als komische Figur des Zirkus macht es der Clown möglich, Abstand von der geschichtlichen Wirklichkeit zu nehmen. Der König wird satirisch als Vampir geschildert, was die Machtinstanz in ein lächerliches Licht rücken lässt. Die Szene „Heilige Familie“ zeigt weiter eine „drastische und derbe Satire auf Hitler und die Endphase seiner Herrschaft“ (Klussmann Paul Gerhard, „Deutschland Denkmale: umgestürzt. Zu Heiner Müller Germania Tod in Berlin“, S. 163, in: P. G. Klussmann und Heinrich Mohr, Deutsche Misere einst und jetzt: Die deutsche Misere als Thema der Gegenwartsliteratur / Das Preußensyndrom in der Literatur der DDR, Bonn: Bouvier Verlag, 1982, S. 159-176). Heiner Müller zieht durch diese chaplinsche oder kabarettistische Parodie eine Parallele zu dem Stück Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui von Brecht, was durch den Zynismus der Figuren bestätigt wird, wie z. B. in den folgenden Aussagen: „und gleich kannst du die Engel singen hörn / Wenigstens einer soll dran glauben heute“, oder: „Wenn du sehn willst hier, was Zukunft hat / Geh lieber gleich in eine Sargfabrik“.
Die Pantomime des „Nachtstücks“ veranschaulicht durch die von der Marionette vorgeführte Selbstzerstückelung die Fragmentierung des Stücks. Damit wird die Kontinuität der zerstörerischen Kräfte in Literatur und Geschichte verdeutlicht. Das Groteske des Stückes stimmt mit einer Haltung überein, die als kritisch, beinahe nihilistisch bezeichnet werden kann. Die Geschichte erscheint als ein Todeskampf und als eine Reihenfolge von scheiternden Aufständen. Heiner Müller sucht in der Vergangenheit, in dem geschichtlichen und literarischen Erbe der DDR also, eine Erklärung für die aktuelle Lage Deutschlands: „Wenn du siehst, dass der Baum keine Äpfel mehr bringt, dass er anfängt zu verfaulen, siehst du nach den Wurzeln. In der DDR war die Stagnation in diesen Jahren absolut. Nebenprodukt des sowjetischen Untergangs.“ (Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht, S. 255).
Bibliografie
Heiner Müller, Germania Tod in Berlin (1971), Rotbuch Verlag, Berlin, 1977
Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht: Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2003
Klussmann Paul Gerhard, „Deutschland Denkmale: umgestürzt. Zu Heiner Müller Germania Tod in Berlin“, in: P. G. Klussmann und Heinrich Mohr, Deutsche Misere einst und jetzt: Die deutsche Misere als Thema der Gegenwartsliteratur / Das Preußensyndrom in der Literatur der DDR, Bonn: Bouvier Verlag, 1982
Pour citer cette ressource :
Héloïse Cossin, "«Germania Tod in Berlin» von Heiner Müller", La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), janvier 2014. Consulté le 05/11/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/litterature/rda-et-rfa/litterature-de-rda/germania-tod-in-berlin-von-heiner-myller