Geschlechterinszenierung und -transgression im Kinderbuch: Astrid Lindgrens «Pippi Langstrumpf»
Im "Document d'accompagnement" und in den innerhalb des Artikels zitierten Textpassagen wird die Zeichensetzung und die Orthographie der Originaltexte beibehalten, auch wenn diese nicht immer den aktuell gültigen Regeln entsprechen.
Einleitung
Pippi Langstrumpf ist die wohl bekannteste Hauptfigur aus den Kinderbüchern der schwedischen Autorin Astrid Lindgren, die am 14. November 2007 ihren 100. Geburtstag gefeiert hätte. Die Geschichten um das außergewöhnlich starke und kesse Mädchen mit den roten Zöpfen, das eines Tages zusammen mit seinem Pferd Kleiner Onkel und seinem Affen Herrn Nilsson in die Villa Kunterbunt in einer schwedischen Kleinstadt einzieht, und von da an seine neuen Spielkameraden Thomas und Annika zu verrückten Abenteuern verführt und sich jeglicher erwachsenen Autorität widersetzt, haben in Deutschland seit ihrem erstmaligen Erscheinen in den 50er Jahren bei Kindern wie Erwachsenen einen regelrechten Kultstatus erlangt: Die 2007 neu aufgelegte Jubiläumsausgabe der Pippi Langstrumpf war in Deutschland schon vor ihrem Erscheinen ausverkauft (vgl. http://www.zeit.de/2007/46/Astrid-Lindgren), und auch andere Zahlen sprechen dafür, dass Lindgrens Schöpfung in Deutschland, wo sich der Verlag Oetinger bereits 1949 die Rechte sicherte, die Kindheit mehrerer Generationen geprägt hat: "In keinem anderen Land außerhalb Schwedens war und ist Astrid Lindgren so populär wie in Deutschland; ihre Bücher wurden hier rund 30 Millionen Mal verkauft. Das entspricht einem Fünftel der Weltauflage." (Weitendorf, 2008, S. 60). Aber auch rund um den Globus zählen Lindgrens Bücher "zu den [...] am häufigsten übersetzten kinderliterarischen Werken" (Surmatz, 2005, S. 3). Die schwedische Autorin hat dabei nicht nur den UNESCO-Buchpreis und den alternativen Nobelpreis gewonnen, sondern es sind, zumindest in Deutschland wie in Schweden, auch Schulen und Literaturpreise nach ihr benannt worden (vgl. Surmatz, 2005, S. 3).
Nach einem Blick auf den nicht alltäglichen Werdegang Astrid Lindgrens und die Polemik um den pädagogischen Wert Pippi Langstrumpfs, die das Erscheinen des für die damalige Zeit völlig unkonventionellen Kinderbuchs begleitete, beleuchtet der erste Teil dieses Artikels die Rezeption Pippis in Deutschland und Frankreich, wobei die signifikanten Abweichungen der jeweiligen Übersetzungen vom schwedischen Ausgangstext, sowie die erstaunlich späte französische Rezeption des in Deutschland doch so populären Kinderbuchs von Interesse sein werden.
Der zweite Teil dieses Beitrags setzt sich in der Folge unter der Perspektive der vor allem von Judith Butler begründeten Gender Studies mit der im Kontext der 50er Jahre sehr ungewöhnlichen Geschlechterinszenierung und -transgression in Pippi Langstrumpf auseinander. Dabei soll es weniger darum gehen, die Besonderheit des Werks an Pippis Rebellion gegen erwachsene Autoritäten und dem offensichtlichen Bruch mit kinderliterarischen Traditionen festzumachen, sondern anhand von Text- und Filmausschnitten die permanent ausgeführten transgressiven Akte der Hauptperson zwischen den traditionellen Geschlechterschemata aufzuzeigen, durch die sich Pippi weder eindeutig "typisch" weiblichen noch "typisch" männlichen Verhaltensmustern zuordnen lässt. Pippis Transgressionen stehen dabei im Kontrast zu den rollenspezifisch stark festgelegten übrigen Figuren und tragen zum auch heute noch ungeheuren Potential dieses Kinderbuchs bei, das uns die von Judith Butler postulierte generelle kulturelle Simulation der Geschlechtsidentität als ständigem performativen Akt vor Augen führen kann.
1. Pippi Langstrumpfs Entstehungsgeschichte und Rezeption
1.1 "Pippi Langstrumpf" als "Revolution in der Kinderstube"?
Lindgrens Werdegang
Werfen wir zu Beginn einen kurzen Blick auf den für die damalige Zeit nicht alltäglichen Werdegang der 2002 verstorbenen Autorin: Lindgren wird 1907 als Astrid Ericsson in Näs (Småland) geboren, wo sie nach eigenen Aussagen eine glückliche Kindheit auf dem elterlichen Hof verbringt. Mit 18 Jahren, von ihrem Jugendfreund schwanger, muss sie das heimatliche Dorf verlassen, da sie sich weigert, den Vater ihres Kindes zu heiraten. Astrid geht nach Stockholm, um eine Ausbildung zur Sekretärin zu machen; ihr unehelicher Sohn Lars wächst zunächst bei einer Pflegefamilie in Dänemark auf. Die junge Frau arbeitet bei einer Buchhandelszentrale, dann beim Königlichen Automobil-Club, wo sie ihren späteren Ehemann Sture Lindgren kennenlernt. Mit Hilfe der Anwältin Eva Andén, die sich besonders für die Rechte junger Frauen einsetzt, holt Astrid ihren Sohn wieder zu sich und heiratet 1931 Sture Lindgren; ihre gemeinsame Tochter Karin wird 1934 geboren. Astrid bleibt drei Jahre bei den Kindern zu Hause, bevor sie ab 1937 wieder als Stenographin arbeitet.
Die Geburtsstunde der "Ur-Pippi"
Den Weg in die Schriftstellerei findet Astrid Lindgren erst Ende 30 eher auf zufällige Art und Weise, obwohl ihr wohl schon in der Schule ein gewisses Talent zuerkannt worden war. Schenkt man der "Legende" um Pippi Langstrumpf Glauben, so erfindet sie die Geschichten der rothaarigen Rebellin im Winter 1941 für ihre kranke Tochter. Als Lindgren sich im März 1944 das Bein verstaucht, muss sie mehrere Tage im Bett verbringen. In dieser Zeit soll sie die Geschichten von Pippi zu Papier gebracht haben - zunächst gedacht als Geburtstagsgeschenk für ihre Tochter. Lindgren reicht das in der schwedischen Literaturwissenschaft später als Ur-Pippi bezeichnete Manuskript zusammen mit anderen Kinderbuchentwürfen beim Verlag Bonnier ein; während Pippi Langstrumpf abgelehnt wird, gewinnt sie mit dem eher traditionellen Mädchenbuch Britt-Mari erleichtert ihr Herz einen zweiten Preis. Erst nach mehreren Überarbeitungen der Ur-Pippi, bei denen immerhin 60 Prozent des Textes verändert werden, akzeptiert der Verlag Rabén & Sjögren das Kinderbuch. Die 1945, 1946 und 1948 veröffentlichten Pippi-Bände (zu Deutsch) Pippi Langstrumpf, Pippi Langstrumpf geht an Bord und Pippi in Taka-Tuka-Land erleben auf Anhieb einen enormen Verkaufserfolg, so dass Lindgren 1946 sogar die Leitung der Kinderbuchabteilung des Verlags übernehmen kann.
Dass der Autorin von Anfang an bewusst ist, dass ihre Figur der Pippi nicht den (Kinder- wie Kinderbuch-) Idealen der damaligen Zeit entspricht und somit enormes Kritikpotential enthält, kann man dem Brief an den Verlag Bonnier entnehmen, den Lindgren ihrem Pippi-Manuskript beilegt:
Pippi Langstrumpf ist [...] ein kleiner "Übermensch" in Gestalt eines Kindes, in ein ganz normales Milieu gestellt. Dank ihrer übernatürlichen Körperkräfte und einiger anderer Umstände ist sie ganz unabhängig von allen Erwachsenen und lebt ihr Leben wie es ihr gefällt. Bei Zusammenstößen mit großen Leuten behält sie immer das letzte Wort [...]. Denn Pippi ist ja eigentlich so ein Wunschtraum von den Kindern, könnte man wohl sagen. Bertrand Russell hat gesagt, die Kinder, die träumen von Macht, so wie Erwachsene sexuelle Wunschträume haben. Und Pippi, sie hat Macht, sie kann alles tun, was sie will. [...] in der Hoffnung, dass Sie nicht das Jugendamt alarmieren! (http://efraimstochter.de/)
Eine "Revolution in der Kinderstube"?
Das Jugendamt wird zwar nicht eingeschaltet, dennoch löst die Publikation der Pippi Langstrumpf zunächst in Schweden selbst und später in konservativer eingestellten Ländern Europas eine nicht nur von Pädagogen, sondern auch in der Literaturwissenschaft polemisch geführte Debatte über eine mögliche "Revolution in der Kinderstube" aus (vgl. Marsyas, 1953, S. 73).
Der vielleicht bekannteste Kritiker ist der schwedische Literaturprofessor John Landquist, der Lindgren in der Zeitung Aftonbladet vom 18.08.1946 als "unkultiviert" und die Figur der Pippi als "unnormal und krankhaft" bezeichnet:
Kein normales Kind isst eine ganze Sahnetorte auf oder geht barfuß auf Zucker. Beides erinnert an die Phantasie eines Irren. [...] [Das Buch ist] etwas Unangenehmes, das an der Seele kratzt. (http://www.follow-me-now.de/html/body_pippi_langstrumpf.html)
Schwedische Pädagogen und Eltern, die Pippi Langstrumpf als Angriff auf jegliche pädagogisch-ästhetische Orientierung und religiös-moralische Erziehung interpretieren, protestieren und unterstellen ihr einen zutiefst schädlichen Einfluss auf Kinder, da sie die Autorität der Erwachsenen untergrabe.
Bruch mit der Backfischliteratur
In der Tat entspricht Lindgrens Pippi Langstrumpf ganz und gar nicht den Idealen der damaligen Kinderbücher: Seit der in der Romantik erfolgten Trennung von Jungen- und Mädchenliteratur erschöpfen sich die "Jungenbücher" vor allem in Abenteuerromanen mit markanten männlichen Helden als Identifikationsfiguren, während das Mädchenbuch insbesondere die Erziehung und Bildung der Leserinnen zu aufopferungsvollen und anpassungsbereiten Ehefrauen und Müttern verfolgt, die nach der Phase des schwärmerischen Wartens auf ihren Ehegatten sich von diesem in allen Dingen leiten lassen und ihr Leben ganz den gemeinsamen Kindern und dem Glück des Mannes widmen. Dementsprechend findet die meist im gutbürgerlichen Milieu angesiedelte sog. "Backfischliteratur" (oft auch als "domestic story" bezeichnet), angefangen beim Trotzkopf von Emmy von Rhoden (1885) bis zum heute noch gelesenen Hanni und Nanni von Enid Blyton (1965) seit dem Ende des 19. Jahrhunderts weite Verbreitung in ganz Europa (vgl. Keiner, 1994, S. 32ff):
Das Backfischbuch entsteht in einer Epoche, in der sich das städtische Bürgertum weitgehend von der Selbstversorgung löst [...] und für die Tätigkeit der Frau in der Familie die psychischen Ausgleichsfunktionen an Bedeutung gewinnen [...]. Damit wird auch der Status der Töchter in der Familie unsicher. Je weniger ihre Arbeitsfähigkeit gebraucht wird, die Wege zur Berufsausbildung und Selbstversorgung aber noch verschlossen sind, desto mehr fallen sie der Familie zur Last, die sich ihrer durch eine "gute Partie" baldmöglichst zu entledigen sucht. (Zahn, 1983, S. 382)
Lehnert sieht in der vor allem in den Werken aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast durchgängigen Thematik der "Zähmung" eines zunächst kindlich-aufmüpfigen Mädchens zur braven Ehefrau und Mutter sogar ein literarisches Abbild der Freud'schen Sexualtheorie, insofern als "alle Kinder eine ursprünglich 'männliche' Sexualität hätten und das Mädchen sich von dieser Männlichkeit lösen müsse, um zur 'reifen Weiblichkeit' zu gelangen." (Lehnert, 1996, S. 11). Demzufolge muss ein derart unkonventionelles Kinderbuch wie Pippi Langstrumpf in den 50er Jahren beinahe zwangsläufig zu einem Aufschrei bei Eltern und Pädagogen führen, und wird für die schwedische Kinderliteratur in der Retrospektive sicher zu Recht als "so etwas wie ein Startschuss für die Erneuerung, die sich während der vierziger Jahre vollzog" (Rabèn, 1951, S. 2) bezeichnet, der sich nicht nur in Schweden "wie ein Katalysator auf die weitere Entwicklung der Kinderliteratur" (Surmatz, 2005, S. 4f) auswirken wird.
1.2 Rezeption in Deutschland und Frankreich
In Schweden legt sich die Aufregung um Pippi Langstrumpf relativ schnell wieder, nicht zuletzt, da aufbauend auf den neuen Erkenntnissen der Kinderpsychologie und einem freieren Erziehungsideal, vertreten etwa von Summerhill-Begründer Alexander Sutherland Neill oder dem von Lindgren zitierten Bertrand Russell (s.o.), die Kindheit nach dem Zweiten Weltkrieg immer mehr als Frei- und Schonraum verstanden wird, was durchaus als Fortführung der bereits in der Romantik ansatzweise geforderten Autonomie der Kindheitsphase gesehen werden kann. Während Pippi also gewissermaßen ein in Skandinavien schon früh einziehendes antiautoritäres Kindheitsbild vorwegnimmt, das Kinder als Gesprächspartner ernst nimmt und die verstärkte Gleichstellung der Geschlechter in der Erziehung verfolgt, kollidiert Lindgrens Kunstfigur in anderen Ländern Europas noch viel stärker mit konservativeren Bildungs- und Erziehungsvorstellungen, was sich in den Erstübersetzungen zum Teil in einer regelrechten Zensur bzw. einer radikalen Umarbeitung des Originaltexts niederschlägt.
Allerdings wird in vielen Ländern, darunter auch Frankreich und Deutschland, die Erstübersetzung im Lauf der Jahrzehnte immer wieder verändert, wobei man bei den späteren Versionen darauf achtet, sich dem schwedischen Ausgangstext anzunähern (vgl. Surmatz, 2005, S. 398ff): Während die bereits 1949 von Cäcilie Heinig ins Deutsche übersetzte Pippi Langstrumpf bis 2001 nicht weniger als 13 Überarbeitungen erfährt (vgl. Surmatz, 2005, S. 116ff), wird das Werk in Frankreich nach seiner ebenfalls in der Folgezeit überarbeiteten Erstausgabe von 1951 im Jahre 1995 durch Alain Gnaedig sogar noch einmal völlig neu übersetzt (vgl. Surmatz, 2005, S. 400).
Schwedisches Original im Vergleich mit der deutschen Erstfassung
Vergleicht man nun die schwedische Fassung mit der (west-)deutschen Version von 1949 (in Ostdeutschland wird Pippi Langstrumpf erst ab 1975 rezipiert (vgl. Surmatz, 2005, S. 153)), so stechen bereits auf den ersten Seiten signifikante Veränderungen des schwedischen Ausgangstexts ins Auge, die hier allerdings nur exemplarisch behandelt werden sollen. So wird etwa im schwedischen Original die Hauptperson folgendermaßen eingeführt (von Astrid Surmatz wortgetreu aus dem Schwedischen ins Deutsche übertragen):
Es war das merkwürdigste Mädchen, das Tommy und Annika je gesehen hatten, und zwar war es Pippi Langstrumpf, die ihren Morgenspaziergang machte. So sah sie aus. Ihr Haar hatte die Farbe einer Möhre und war in zwei harte Zöpfe geflochten, die vom Kopf abstanden. Ihr Kleid war ziemlich eigenartig. Pippi hatte es selbst genäht. Eigentlich sollte es blau werden, aber der blaue Stoff reichte nicht, und deshalb hatte Pippi lieber hier und dort kleine Stoffstücke angenäht. An ihren langen, schmalen Beinen saßen ein paar lange Strümpfe, der eine braun und der andere schwarz. (Surmatz, 2005, S. 154)
Zum Vergleich nun dieselbe Stelle in der deutschen Fassung des ersten Bands der Pippi Langstrumpf von 1949:
[...] Ihr Kleid war sehr komisch. Pippi hatte es selbst genäht. Es war wunderschön gelb; aber weil der Stoff nicht gereicht hatte, war es zu kurz, und so guckte eine blaue Hose mit weißen Punkten drunter hervor. An ihren langen dünnen Beinen hatte sie ein Paar lange Strümpfe, einen Zebrastrumpf und einen schwarzen. (Surmatz, 2005, S. 154)
Neben der offenbar beliebigen Umfärbung des Kleides von blau zu gelb und der wohl politisch motivierten Abänderung des "braunen Strumpfes" in einen "Zebrastrumpf" fällt auf, dass die Frage danach, was Pippi denn unter ihrem zu kurzen Kleid trage, in der deutschen Fassung eindeutig - und zwar recht züchtig - beantwortet wird, was Surmatz auf in Deutschland noch viel stärker vorhandene "normierende zielkulturelle Tabus zur Körperlichkeit" (Surmatz, 2005, S. 155) zurückführt.
Eine ähnliche Erklärung drängt sich auf, wenn man die Illustrationen der schwedischen und deutschen Erstausgabe vergleicht, wobei ja insbesondere bei Kinderliteratur Illustrationen die Rezeption mitbestimmen, da sie "prägnante Züge der Erzählung [...] visualisieren, um den kindlichen Rezipienten bei der Aufnahme und Strukturierung der Textinformationen zu unterstützen" (Blume, 2001, S. 92).
Dok. 1: Illustration der schwedischen Erstausgabe (1945) von Ingrid Vang-Nyman
Dok. 2: Illustration der deutschen Erstausgabe (1949) von Walter Scharnweber
Wie im Buchtext wirkt die "schwedische" Pippi um einiges mehr als (vor)pubertäres, mit seiner Rolle als Heranwachsender experimentierendes Mädchen; durch Strapse (wohlgemerkt in den 50er Jahren aber noch ein weitaus alltäglicheres und kaum sexualisiertes Kleidungsstück) und lasziven Blick liegt die (rein vom Bild ausgehende) Assoziation zu Vladimir Nabokovs Lolita (1955) nicht allzu fern. Selbst wenn man nicht so weit gehen will, so ist doch offensichtlich, dass sich die "deutsche" Pippi als pausbäckiges Mädchen eher ins Clowneske, Komische verschiebt. Eventuelle erotische Signale wie die Strumpfhalter oder das zu kurze Kleid, mit denen das Original recht spielerisch umgeht, werden in der deutschen Version "entschärft" und unterstreichen verstärkt den unkonventionellen und sich vor allem von der weiblichen Kleidungsnorm (verkörpert durch die stets adrett gekleidete Annika) unterscheidenden Aufzug Pippis.
Nichtsdestoweniger ist den Pippi-Bänden in Deutschland bis heute der Erfolg gesichert, wo man Lindgren immer noch gerne als "ohne Zweifel eine der weltweit bedeutendsten und beliebtesten Kinderbuchschriftstellerinnen unserer Zeit" (Weitendorf, 2008, S. 59) bezeichnet, deren Pippi Langstrumpf den Beginn einer "tiefgreifenden literarischen Revolution" (Weitendorf, 2008, S. 59) markiert und "die deutsche Kinderkultur aus dem Nachkriegsmuff in die Moderne" (Weitendorf, 2008, S. 59) führt.
Pippi Langstrumpf in Frankreich
Wirft man nun einen Blick auf die Rezeption in Frankreich, so stellt man im Vergleich zu Deutschland unvermeidlich den (zumindest bis in die 1990er Jahre) wesentlich geringeren Bekanntheitsgrad des Werks fest, obwohl die erste Übersetzung ins Französische von Marie Loewegren bereits aus dem Jahre 1951 stammt. Loewegrens Mademoiselle Brindacier, die relativ nah am schwedischen Ausgangstext bleibt, wird allerdings mangels Erfolgs ab 1962 durch eine massiv gekürzte und umgeschriebene Version ersetzt, nunmehr unter dem Titel Fifi Brindacier. Bereits in Mademoiselle Brindacier findet sich das ursprünglich dreibändige Werk auf zwei Bände reduziert, wobei die Version von 1962 noch umfangreichere "substantielle makrostrukturelle Auslassungen von längeren Abschnitten aus einzelnen Kapiteln" (Surmatz, 2005, S. 229) aufweist, darunter so essentielle Szenen wie die spielerische Polizistenjagd und der Kaffeeklatsch bei Settergrens, auf die in der nachfolgenden Untersuchung noch näher eingegangen werden soll.
Pippi als "mademoiselle"?
Surmatz betont außerdem, dass die Verwendung von "mademoiselle" im Titel der französischen Erstfassung "eher ein Mädchenbuch nahe[legt] und [...] durch formelle Höflichkeit der Anrede eine Distanz zwischen Lesern und Titelfigur" (Surmatz, 2005, S. 256) schaffe. Der französische Titel verwehrt zudem die mit dem an sich nicht geschlechtlich markierten Vornamen Pippi gegebene Möglichkeit, das Geschlecht der Hauptprotagonistin zunächst offen zu lassen (vgl. Surmatz, 2005, S. 256f). Während in der Sekundärliteratur nun teilweise recht pauschalisierend die zensierte Textfassung für den Misserfolg von Fifi Brindacier in Frankreich verantwortlich gemacht wird (vgl. Blume, 2001, S. 181), stellt Surmatz zumindest etwas differenzierter fest, dass die "in der französischen Überarbeitungsstufe von 1962 vorgenommenen Übersetzungseingriffe in ihrer Art mit denen der deutschen Übersetzung vergleichbar [sind], aber nicht in der Häufigkeit, Ausdehnung und Intensität, da die späteren französischen deutlich über die deutschen hinausgehen" (Surmatz, 2005, S. 399). Auf der Mikroebene betreffen die Veränderungen in der französischen Fassung beispielsweise Gefahrenmomente: So reitet etwa die "französische" Fifi nicht auf einem Pferd, sondern auf einem Pony (vgl. Surmatz, 2005, S. 231) und generell wirken ihre übermenschlichen Qualitäten abgeschwächt (vgl. Blume, 2001, S. 91). Des Weiteren werden "moralisierende Elemente eingefügt, zum Anderen als subversiv oder 'aufmüpfig' angesehene Episoden umgearbeitet oder gestrichen" (Surmatz, 2005, S. 231): Es fehlen verbale Respektlosigkeiten, etliche von Pippis Lügengeschichten, und die Erwachsenen erscheinen stärker gegenüber der kindlichen Protagonistin und ihren Freunden hierarchisiert.
Die französische Illustration
Die "französische" Fifi ist folglich ein zwar etwas rebellisches, aber doch der Hilfe und Zuwendung bedürfendes Kind, was sich auch in der Illustration der französischen Erstausgabe von Noëlle Lavaire widerspiegelt (vgl. Blume, 2001, S. 92ff): Fifi unterscheidet sich dort kaum von Tommy und Annika; ihr zu kurzes Kleid, die verschiedenfarbigen Strümpfe und die übergroßen Schuhe sind nicht im Bild zu sehen und sogar ihr "Markenzeichen", die wild abstehenden Zöpfe, haben sich in eine gewöhnliche Kleinmädchenfrisur verwandelt (vgl. Blume, 2001, S. 93f). Zudem wird sie im Gegensatz zur deutschen und schwedischen Bebilderung in der französischen Erstausgabe nicht in gefährlichen Situationen gezeigt, etwa wenn sie ihr Pferd respektive Pony hochhebt (vgl. Blume, 2001, S. 92f).
Diese sich auch graphisch vom schwedischen Original unterscheidende Fifi findet man erstaunlicherweise auch noch in der aktuellen Illustration von Daniel Maja in der sich stark am schwedischen Ausgangstext orientierenden französischen Neuübersetzung von 1995 wieder:
Dok. 3: Illustration von Daniel Maja in der französischen Neuübersetzung (1995)
Gründe für die starken Eingriffe bei der französischen Erstausgabe suchen Surmatz und Blume im spezifischen kultur- und literaturgeschichtlichen Kontext Frankreichs der 50er Jahre, wobei gerade bei Kinderliteratur der "Berücksichtigung zeitgenössischer pädagogischer Konzepte und Kindheitsbilder entscheidende Bedeutung" (Surmatz, 2005, S. 28) zukomme. Surmatz vermutet demgemäß, dass eine im Sinne der Reformpädagogik sich ausprobierende Heranwachsende wie Pippi nicht mit der französischen Erziehungshaltung der Zeit, Kinder idealerweise zu einem "Abbild vernünftig denkender Staatsbürger" (Surmatz, 2005, S. 402) zu machen, vereinbar sei. Blume verweist neben der unterschiedlichen Wertschätzung des Kindes in den kulturellen Systemen Schwedens und Frankreichs auch auf das kinderliterarische Feld: "[...] die vom aufklärerischen Gedankengut beeinflusste französische Kinderliteratur [orientierte sich] an der Vorstellung vom Kind als 'typischem Individuum' und verstand ihre Hauptaufgabe darin, dem kindlichen Leser in vornehmlich realistisch geprägten Werken eindeutige ästhetische und moralische Werte an die Hand zu geben" (Blume, 2001, S. 74). Folgt man der Argumentation Blumes und Surmatz', entspricht ein Werk wie Pippi Langstrumpf also weder dem literarischen noch dem pädagogischen Diskurs im Frankreich der 50er Jahre, was durchaus die tiefgreifende Umgestaltung des Originaltexts erklären könnte.
Die französische Neuübersetzung
Erst seit 1995 ist auf dem französischen Buchmarkt eine nahe am schwedischen Ausgangstext bleibende, ungekürzte Neuübersetzung von Alain Gnaedig verfügbar, die die inhaltlichen wie sprachlichen Abweichungen der vorangegangenen Fassungen vom schwedischen Original zurücknimmt (vgl. Surmatz, 2005, S. 400), und - möglicherweise auch durch die 1997 in Kanada produzierte Zeichentrickserie - einen relativen Bekanntheitsgrad erlangt hat (vgl. Surmatz, 2005, S. 403). Es bleibt aber abzuwarten, ob sich "trotz der verspäteten Rezeption über die französische Neuübersetzung noch eine stärkere Etablierung des Werks in der Zielkultur entwickeln wird" (Surmatz, 2005, S. 403).
2. Geschlechterperspektivierung in "Pippi Langstrumpf"
Worin liegt nun das Potential der Pippi Langstrumpf, die, wie die bisherigen Ausführungen zeigen, Lehrer, Eltern, Kritiker und Literaturwissenschaftler gegen sich aufbringen konnte und bis heute ein großes Publikum fasziniert? Womöglich eben nicht nur in der viel zitierten Rebellion Pippis gegen erwachsene Autoritäten und dem Bruch mit den jeweiligen kinderliterarischen Traditionen (was etwa von Svenja Blume, 2001, im Detail herausgearbeitet wurde), sondern auch - worauf die angeführten Auszüge bereits ansatzweise verweisen - in der ungewöhnlichen Perspektivierung der Geschlechterrolle(n). Um dieser These nachzugehen, soll im Folgenden die literarische Geschlechtsinszenierung der Figur der Pippi anhand von Text- und Filmbeispielen, immer auch in Relation zu den anderen kindlichen und erwachsenen Protagonisten des Werks, genauer untersucht werden.
2.1 Die Figur der Pippi
2.1.1 Das Motiv des fremden Kindes
Vorneweg ist festzuhalten, dass sich in der Kinderliteratur sehr wohl Vorbilder finden, bei denen die für unsere Fragestellung relevante ungewöhnliche Geschlechterperspektivierung eine Rolle spielt: Bedenkt man die intensive "Rezeption der deutschen Romantik in Skandinavien" (Blume, 2001, S. 64), so lässt sich Lindgrens Pippi Langstrumpf in das Motiv des fremden Kindes einreihen, dessen Prototyp in E.T.A. Hoffmanns gleichnamigen Märchen von 1816 zum ersten Mal explizit auftaucht und sich in bekannten Werken der europäischen Kinderliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts fortsetzt, etwa in James Matthew Barries Peter and Wendy (1911) oder in jüngerer Zeit in Jostein Gaarders Sofies verden (1991).
Zu den Charakteristika des fremden Kindes zählen eine ungewöhnliche Namensgebung, unbekannte Herkunft, Alterslosigkeit und seltsames Aussehen. Das für unsere Untersuchung entscheidende Merkmal ist allerdings die Tatsache, dass die Kindergestalten, die das fremde Kind verkörpern, "nicht eindeutig geschlechtsmarkiert sind und/oder von anderen Figuren im Text hinsichtlich ihrer Geschlechtszuordnung unterschiedlich, teils sogar widersprüchlich wahrgenommen werden" (Kümmerling-Meibauer, 2003, S. 220). In Hoffmanns Märchen stellt zum einen der Erzähler das fremde Kind geschlechtsneutral dar ("das Kind"), während die Freunde des fremden Kindes (bei Hoffmann die Geschwister Felix und Christlieb) dem neuen Spielkameraden jeweils männliche bzw. weibliche Geschlechtsidentität zuordnen:
So hielt Felix das fremde Kind für einen Knaben, Christlieb behauptete dagegen, es sei ein Mädchen, und beide konnten darüber nicht einig werden. (Das fremde Kind, 1924, S. 109)
In der Literaturwissenschaft wurde dieses ursprünglich romantische Kindheitsideal mitunter als Versuch gedeutet, "literarisch in der Kindheit eine Symbiose des weiblichen und männlichen Geschlechts zu verwirklichen" (Kümmerling-Meibauer, 2003, S. 222).
Pippi als fremdes Kind
Kehren wir zurück zu unserem Untersuchungsgegenstand und vergleichen wir die Charakteristika des fremden Kindes mit den Zügen von Lindgrens Pippi Langstrumpf. Auf Anhieb bestätigen sich nahezu alle Merkmale des Motivs: Pippi heißt mit vollem Namen Pippilotta Viktualia Rollgardina Schokominza Efraimstochter Langstrumpf und kommt eines Tages mit ihrem Pferd Kleiner Onkel und ihrem Affen, Herrn Nilsson, vom Meer und zieht allein in die Villa Kunterbunt in einer schwedischen Kleinstadt ein. Ihre Mutter ist im Himmel, Pippis Vater dagegen lebt als Kapitän und "Negerkönig" auf einer geheimnisvollen Insel. Von ihm ist Pippi auch mit unermesslichem Reichtum in Form mehrerer Goldtruhen ausgestattet worden, was sie finanziell völlig unabhängig macht. Pippi zeichnet sich außerdem durch übermenschliche Fähigkeiten aus (so kann sie etwa ihr Pferd hochheben und klettern wie ein Affe), verfügt über außerordentliche Schlagfertigkeit und Redebegabung und hat merkwürdige Gewohnheiten (sie schläft zum Beispiel mit den Füßen auf dem Kopfkissen und dem Kopf unter der Bettdecke). Außerdem trägt sie, wie bereits erwähnt, ungewöhnliche und selbstgenähte Kleidung. Ihr burschikoses und ganz und gar unerzogenes Auftreten führt immer wieder zur Kollision mit sämtlichen gesellschaftlichen Normen wie Sauberkeit, Ordentlichkeit, Schulpflicht, Höflichkeit und Unterordnung der Kinder unter die Erwachsenen. Wie Hoffmanns "fremdes Kind" findet Pippi im zweigeschlechtlichen Geschwisterpaar Thomas und Annika schnell gute Freunde, wird aber im Gegensatz zum klassischen Motiv weder vom Erzähler noch von den anderen Figuren primär als geschlechtsneutral eingeschätzt. Der Vorname Pippi gibt zwar keine Auskunft über das Geschlecht, aber gleich zu Beginn führt der Erzähler Pippi als neunjähriges Mädchen ein. Von verschiedener Seite werden ihr allerdings mehr als einmal die Attribute "merkwürdig" und "andersartig" zugeschrieben, was vor allem an Pippis ungewöhnlichen und ambivalenten Verhaltensweisen und ihrem Auftreten liegt, was im Folgenden mehrere Text- und Filmbelege (wobei wir uns stets auf die deutschen Fassungen beziehen) verdeutlichen sollen.
2.1.2 Souveräne Weiblichkeit
Im Text finden sich zahlreiche Beispiele dafür, dass Pippi sich als Heranwachsende nicht in mädchenhafte Verhaltensklischees einordnen und sich beispielsweise ganz und gar nicht vom gängigen Schönheitskult beeindrucken lässt, wie etwa folgende Ladenszene zeigt:
Im Schaufenster stand eine große Dose Sommersprossensalbe. Neben der Dose war ein Pappschild, auf dem stand: "Leiden Sie an Sommersprossen?" "Was steht auf dem Schild?", fragte Pippi. Sie konnte nicht besonders gut lesen, denn sie wollte nicht wie andere Kinder in die Schule gehen. "Da steht: 'Leiden Sie an Sommersprossen?'", sagte Annika. "Ja, tatsächlich", sagte Pippi nachdenklich. "Na ja, eine höfliche Frage verlangt eine höfliche Antwort. Kommt, wir wollen reingehen." Sie machte die Tür auf und ging hinein. Dicht hinter ihr kamen Thomas und Annika. Hinter dem Ladentisch stand eine ältere Dame. Pippi ging direkt auf sie zu. "Nein", sagte sie bestimmt. "Was möchtest du haben?", fragte die Dame. "Nein", sagte Pippi noch einmal. (Pippi Langstrumpf geht an Bord, 1969, S. 22ff)
Erst jetzt scheint die Dame hinter der Ladentheke zu verstehen:
Sie warf einen Blick auf Pippi und stieß hervor: "Ja, aber liebes Kind, du hast ja das ganze Gesicht voller Sommersprossen!". "Ja, gewiss", sagte Pippi, "aber ich leide nicht an ihnen. Ich habe sie gern. Guten Morgen!" (Pippi Langstrumpf geht an Bord, 1969, S. 22ff)
Aber auch in ganz anderer Hinsicht erfüllt Pippi nicht die Erwartungen, die andere Figuren (in diesem Fall ein frecher Nachbarsjunge) an ihre Rolle als vermeintlich wehrloses und noch dazu rothaariges (im traditionellen Kinderbuch ein "Merkmal von Hässlichkeit"! (Kümmerling-Meibauer, 1997, S. 38)) Mädchen haben. Sehr anschaulich ist folgende Szene, die exemplarisch für viele ähnliche Episoden stehen kann: –
Gerade da wurde eine Gartentür geöffnet, und ein Junge kam herausgestürmt. Er sah ängstlich aus, und das war kein Wunder, denn dicht auf den Fersen folgten ihm fünf Jungen. Sie hatten ihn bald und drängten ihn gegen einen Zaun, wo sie alle auf ihn losgingen. [...] "Gebt's ihm Jungs!" schrie der größte und kräftigste der Jungen. (Pippi Langstrumpf, 1949, S. 36ff)
Auffällig ist zunächst, dass Thomas, der ja als "Junge" traditionell eine "männliche" Beschützerrolle übernehmen könnte, im Folgenden das Verhalten der Jungenbande kritisiert, aber nicht selbst einschreitet, was er - wie in allen Abenteuern und Problemsituationen - allein Pippi überlässt:
"Das ist dieser schreckliche Benno. Immer muß er sich prügeln", sagte Thomas. Pippi ging zu dem Jungen hin und tippte Benno mit dem Zeigefinger auf den Rücken. [...] Benno drehte sich um und sah ein Mädel, das er niemals vorher getroffen hatte, ein wildfremdes Mädel, das es wagte, ihn anzufassen. Zuerst gaffte er nur eine Weile vor lauter Verwunderung, und dann zog ein breites Grinsen über sein Gesicht. (Pippi Langstrumpf, 1949, S. 36ff)
Die Aufmerksamkeit des Anführers wird sofort durch Pippis außergewöhnliches Auftreten in Bann gezogen:
"Jungs", rief er,"Jungs! Laßt Willi los und schaut euch das Mädel hier an. So was habt ihr in eurem ganzen Leben noch nicht gesehen!" [...] Habt ihr gesehen, was für Haar sie hat? Das reine Feuer! Und solche Schuhe! Kann ich nicht einen davon borgen? Ich möchte so gern mal rudern, aber ich hab' kein Boot." Dann griff er einen von Pippis Zöpfen, ließ ihn aber schnell wieder los und schrie: "Rotfuchs! Rotfuchs!" (Pippi Langstrumpf, 1949, S. 36ff)
Allerdings muss Benno schnell einsehen, dass seine üblichen "Umgangsformen" mit kleinen Mädchen bei Pippi nicht greifen, wobei diese ihr eigenes Verhalten noch selbst karikiert, indem sie sich als "Dame" bezeichnet:
Pippi stand mitten im Ring und lachte ganz freundlich. Benno hatte gehofft, daß sie böse werden oder anfangen würde zu weinen. Zum mindesten müßte sie ängstlich aussehen. Als nichts half, schubste er sie. "Ich finde nicht, daß du ein besonders feines Benehmen Damen gegenüber hast", sagte Pippi. (Pippi Langstrumpf, 1949, S. 36ff)
Pippi regelt die Situation dann letztendlich auf ganz und gar "unweibliche" Art und Weise und stellt ihre Souveränität als junges Mädchen, das sich von gewissermaßen vorpubertärem männlichen Potenzgehabe nicht beeindrucken lässt, unter Beweis:
Und nun hob sie ihn mit ihren starken Armen hoch in die Luft, und dann trug sie ihn zu einer Birke die da stand, und hängte ihn quer über einen Ast. Dann nahm sie den nächsten Jungen und hängte ihn auf einen anderen Ast. Und dann nahm sie den dritten und setzte ihn auf einen Torpfosten vor einer Villa, und dann nahm sie den vierten und warf ihn über einen Zaun, daß er mitten in einem Blumenbeet landete. (Pippi Langstrumpf, 1949, S. 36ff)
Denkbar wäre hier aber auch die Einschätzung, dass Pippi in der zitierten Szene weniger ihre weibliche Unabhängigkeit demonstriert, sondern vielmehr "typisch männliche" Verhaltensmuster an den Tag legt. Demgegenüber ist aber einzuwenden, dass Pippi ganz im Gegensatz zu etlichen männlichen Protagonisten (gleichaltrige Jungen, Diebe) ihre körperliche Stärke und Überlegenheit ("Sie war so furchtbar stark, daß es auf der ganzen Welt keinen Polizisten gab, der so stark war wie sie", Pippi Langstrumpf, 1949, S. 11) nie ausnutzt, sondern nur auf das Fehlverhalten Anderer reagiert und wehrlosen Dritten zu Hilfe kommt; ihre Gegenspieler werden dementsprechend auch nie verletzt, sondern nur beiseite getragen oder hochgeworfen. Insgesamt unterscheidet sich Pippis auf Gerechtigkeit begründeter Umgang mit Macht auf jeden Fall ganz wesentlich von dem der provozierenden männlichen Figuren.
Ein anderes nennenswertes Detail der obigen Szene ist die Hervorhebung der roten Haare Pippis, die ebenfalls eine ambivalente Interpretation zulässt. So stellt Frauenhaar schon seit den griechischen Mythen von Medusa und Daphne einen - für die Männerwelt mitunter gefährlichen - starken sinnlichen Reiz dar, wobei in diesem Fall noch die Farbsymbolik hinzutritt: Die Farbe "rot" wird bereits in frühen religiösen Mythen als "Symbolfarbe männlich-aktiver sexueller Energie" (Riedel, 1983, S. 31) mit dem Kriegsgott Mars oder germanischen Feuer- und Wettergöttern wie dem Sturmgott Wotan assoziiert (vgl. Riedel, 1983, S. 30ff), während das mittelalterliche Christentum die - seltene - Haarfarbe rot "vielfach [...] fürchtet und tabuisiert" (Riedel, 1983, S. 31) und als Farbe des Satans umdeutet (vgl. Riedel, 1983, S. 41). Man könnte in den roten Haaren Pippis demzufolge eine Art Verbindung weiblicher Erotiksignale mit männlicher Macht sehen, wobei die Bemerkungen des vorlauten Bennos im Text, der Pippi als "Rotfuchs" und ihre Haare als "Feuer" bezeichnet, dabei geradezu auf diese Metaphorik anspielen, und Pippi als selbstbewusste, souveräne Gestalt ausweisen, die sehr wohl fähig ist, sich gegen womögliche Hüter des Patriarchats (Bandenführer, Räuber, Polizisten) zu verteidigen und durchzusetzen, worauf im Kapitel 2.3.1 über die Männerfiguren noch näher eingegangen werden soll.
2.1.3 Pippi in der männlichen Geschlechterrolle
Dass Pippi aber auch in eindeutig "typisch männliche" Rollenklischees zu schlüpfen vermag, zeigen zahlreiche Buchstellen, in denen sie stark an einen heldenhaften Protagonisten aus einem klassischen, für ein männliches Lesepublikum konzipierten Abenteuerroman erinnert. So befreit sie beispielsweise ihren Vater aus der Gefangenschaft von Seeräubern und besiegt im Zirkus den als unbezwingbar geltenden "starken Adolf" (wobei dessen Name eine Anspielung auf Nazi-Deutschland darstellt). Pippi ist tollkühn, abenteuerlustig und hat vor allem im Gegensatz zur übervorsichtigen Annika nie Angst. Sie zeigt sich auch mutiger als Thomas, der nur zum Teil die traditionelle männliche Geschlechterrolle repräsentiert (siehe 2.2).
Exemplarisch für die Übernahme von Elementen "typisch männlicher" Eigenschaften durch Pippi soll der folgende Ausschnitt stehen:
"Fünfzehn Mann auf des toten Mannes Kiste - Johoho und 'ne Buddel voll Rum", sang Pippi wieder mit ihrer heiseren Stimme. [...] "Ich gehe zur See, wenn ich groß bin", sagte Thomas bestimmt. "Ich will Seeräuber werden, genau wie du, Pippi". "Fein", sagte Pippi. "Der Schrecken des Karibischen Meeres, das wollen wir beide werden, Thomas. Wir werden Gold und Juwelen und Edelsteine rauben, und tief drinnen in einer Höhle werden wir ein Versteck für unsere Schätze haben, auf einer unbewohnten Insel im Stillen Ozean, und drei bleiche Gerippe, die die Höhle bewachen. (Pippi Langstrumpf geht an Bord, 1969, S. 135ff)
Wir fühlen uns weiterhin an Motive aus dem klassischen Abenteuerroman erinnert:
"Und eine Fahne werden wir haben mit einem Totenschädel drauf und zwei gekreuzten Knochen, und dann singen wir 'Fünfzehn Mann', so daß man es von einem Ende des Atlantischen Ozeans bis zum andern hört, und alle Seefahrer werden ganz blaß, wenn sie uns hören, und überlegen ob sie sich nicht ins Meer stürzen sollen, um unserer blutigen, blutigen Rache zu entgehen!" (Pippi Langstrumpf geht an Bord, 1969, S. 135ff)
Ganz im Gegensatz dazu wird die Rolle Annikas gesetzt, die von Pippi geradezu noch bestätigt wird:
"Ja, aber ich?" fragte Annika klagend. "Ich will nicht Seeräuber werden. Was soll ich denn machen?" "Ach, du kannst für alle Fälle mitkommen", sagte Pippi. "Und das Klavier abstauben.". (Pippi Langstrumpf geht an Bord, 1969, S. 135ff)
Pippis "Rollenwechsel" macht sich an dieser Stelle auch durch ihre veränderte "heisere" Stimme bemerkbar, an anderer Stelle kommt eine Verkleidung als Pirat hinzu. Durch Annikas Bemerkung und Pippis fast schon herablassende Antwort wird die bisweilen provokante Ungewöhnlichkeit von Pippis Verhalten gegenüber stereotypen Mädchenfiguren in der Literatur (und gesellschaftlichen Rollenerwartungen an weibliche Kinder und Heranwachsende) noch deutlicher zum Ausdruck gebracht.
Spielerischer Wechsel zwischen Geschlechterrollen
Mitunter karikiert Pippi auch auf humorvolle Art die Geschlechterrollen und Rituale der (in diesem Fall vor allem männlichen) Erwachsenen, wenn sie sich zum Beispiel wie ein Militärbefehlshaber selbst herumkommandiert oder sich die Schmeicheleien eines feinen Herrn absieht und beim nächsten Kaffeeklatsch bei den anwesenden Damen sogleich anwendet, wobei anzumerken ist, dass die folgende Szene für die französische Ausgabe zunächst gestrichen wurde:
"Gebt acht!" Ein durchdringender Ruf kam aus der Diele, und im nächsten Augenblick stand Pippi Langstrumpf auf der Schwelle. Sie hatte so laut und so unerwartet geschrien, daß die Damen in die Höhe fuhren. "Abteilung vorwärts marsch!" ertönte der nächste Ruf, und Pippi ging mit taktfesten Schritten auf Frau Settergren zu. (Pippi Langstrumpf, 1949, S. 151ff)
Im nächsten Moment schwenkt Pippis Verhalten völlig um:
"Abteilung halt!" Pippi blieb stehen. "Arme vorwärts - streckt!" schrie sie und ergriff mit beiden Händen Frau Settergrens eine Hand und schüttelte sie herzlich. "Knie - beugt!" schrie Pippi und machte einen schönen Knicks. [...] Dann lief sie zu den anderen Damen und küßte sie auf die Wangen. "Scharmang, scharmang, auf Ehre", sagte sie, denn das hatte sie einmal einen vornehmen Herrn zu einer Dame sagen hören. (Pippi Langstrumpf, 1949, S. 151ff)
Die Wechsel von traditionell männlichem zu weiblichem Rollenverhalten geschehen dabei auf ganz spielerische Weise, wenn sich Pippi eben den vornehmen Damenknicks mit rauen Militärbefehlen selbst anordnet, nur um dann sogleich klassische männliche Komplimente zu machen.
2.1.4 Übersteigerung der weiblichen Geschlechterrolle
Eindeutig als Rollenexperiment kann man die folgenden beiden Szenen interpretieren, die zwar einerseits den kindlichen Spaß an Kostümierung und Spiel zeigen (an anderer Stelle verkleidet sich Pippi als Eisprinzessin oder Flamencotänzerin), die andererseits aber auch mehr als deutliche Anspielungen auf weibliche Erotiksignale enthalten:
Nachmittags um drei stieg ein sehr feines Fräulein die Treppe zu Familie Settergrens Villa hinauf. Das war Pippi Langstrumpf. Das rote Haar trug sie des besonderen Anlasses wegen offen herunterhängend, und es lag wie eine Löwenmähne um ihre Schultern. Ihren Mund hatte sie mit einem Rotstift knallrot angemalt, und dann hatte sie sich die Augenbrauen mit Ruß geschwärzt, so daß sie beinahe gefährlich aussah. Auch ihre Nägel hatte sie mit Rotstift bemalt, und auf ihren Schuhen hatte sie große grüne Schleifen befestigt. (Pippi Langstrumpf, 1949, S. 150f)
Eine Variation dieser Szene findet sich auch im zweiten Band der Pippi-Trilogie:
Pippi stand fertig angezogen mitten in der Küche [...]. Sie hatte endlich ihr großes Mühlrad von Hut gefunden. [...] "Bin ich nicht fein?" Das konnten Thomas und Annika nicht leugnen. Sie hatte die Augenbrauen mit Kohle schwarz gefärbt und Mund und Nägel mit roter Farbe bemalt. Und dann hatte sie ein feines, langes Ballkleid angezogen. Das war ausgeschnitten, und ein rotes Mieder guckte hervor. (Pippi Langstrumpf geht an Bord, 1969, S. 88ff)
Aber nicht nur Pippis Äußeres hat sich verändert; sie legt auch ein spezielles Verhalten an den Tag:
Unter dem Rocksaum sah man ihre großen schwarzen Schuhe, und die waren noch feiner als sonst, denn sie hatte die grünen Schleifen hineingebunden, die sie nur zu feierlichen Gelegenheiten benutzte. "Ich finde, daß man wie eine 'wirklich feine Dame' aussehen soll, wenn man zum Jahrmarkt geht", sagte sie und trippelte auf der Straße so elegant daher, wie es mit so großen Schuhen überhaupt möglich war. (Pippi Langstrumpf geht an Bord, 1969, S. 88ff)
Markant ist die Art und Weise, in der Pippi ihre eigene Inszenierung gestisch und sprachlich begleitet:
Sie hob den Rocksaum und sagte in regelmäßigen Abständen und mit einer Stimme, die ganz anders war als sonst: "Wunderbar! Bezaubernd!" "Was findest du so bezaubernd?" fragte Thomas. "Mich", sagte Pippi zufrieden. (Pippi Langstrumpf geht an Bord, 1969, S. 88ff)
Wie schon bei Pippis Auftritt als Piratenkapitän spielt auch hier die Modulation ihrer Stimme eine Rolle, außerdem betont Pippi die Eigenschaften einer "feinen Dame" noch durch einen eleganten Gang. Pippi ist in dieser Szene nicht nur stolz auf ihr eigenes Äußeres (was ganz im Gegensatz zur oben geschilderten Sommersprossensalben-Szene steht), sondern betont auch ihre sinnlichen Reize, konkret die "Löwenmähne", Augenbrauen, rote Lippen und Nägel; sie trägt Ballkleid und rotes Mieder, wobei die Farben "rot" und "schwarz" ihr eine zusätzlich bedrohliche Wirkung verleihen, was auch im Text explizit genannt wird ("so daß sie beinahe gefährlich aussah", Pippi Langstrumpf, 1949, S. 150f). Die Tatsache, dass es sich hierbei allerdings nicht etwa um eine besonders fein herausgeputzte (und damit letztendlich den gesellschaftlichen Konventionen entsprechende) junge Dame handelt, sondern die Rolle des "feinen Fräuleins" aufs Schärfste karikiert wird, zeigt sich noch weitaus deutlicher, wenn man die Buchszene mit der entsprechenden Sequenz in der Verfilmung der Pippi Langstrumpf-Bücher durch Olle Hellbom aus den 60er Jahren (für die Lindgren das Drehbuch schrieb und auch ansonsten stark verantwortlich zeichnete) vergleicht.
Übersteigerung der "feinen Dame" im Film
Im Film kommen Thomas und Annika zu Pippi, um sie zum Kaffeeklatsch abzuholen, werden aber dort von einer mysteriösen Tante darüber aufgeklärt, dass Pippi zum Mond gereist sei. Die ominöse Tante ist allerdings Pippi selbst, die mit Hut, Abendkleid, Handschuhen und Schmuck nicht von ihren Freunden erkannt wird, und diesen mit gekünstelter Näselstimme zum Teil absurde Anordnungen gibt (z.B. "Kleine Kinder sollten sich alle Viertelstunde die Nase putzen, auch wenn sie nicht läuft" oder "Hört mal meine Kleinen, habt ihr euch heute schon die Zähne geputzt, die Füße gewaschen und die Ohren gebürstet? Sauberkeit ist das halbe Leben!", Pippi Langstrumpf, DVD 2, 2007 [1969], Folge 6), womit das übertrieben fürsorgliche Verhalten verschiedener weiblicher Figuren im Film (Annikas und Thomas' Mutter, der Erzieherin Tante Prüsselius) karikiert wird. Wenn Pippi am Ende der Szene den Schleier ihres Hutes lüftet und ihr wahrlich an eine Drag-Queen erinnerndes extrem geschminktes Gesicht zum Vorschein kommt (vgl. Pippi Langstrumpf, DVD 2, 2007 [1969], Folge 6, 04.55 Min.), ist die Parodie perfekt, die von Pippi sogleich wieder aufgehoben wird: "War ich nicht eine richtige Tante wie sie im Buche steht? Aber die lassen wir jetzt zum Mond fliegen! Juhu! Sie hat uns genug geärgert, dumme alte Tante, dumme alte Tante!". Will man noch weiter gehen, so kann man die Szene mit dem Begriff des camp in Verbindung bringen, da Pippi gewissermaßen die weibliche Geschlechterrolle übersteigert und dekonstruiert:
"suggestingthat inauthenticity pervades the performance and the thing satirized,the camp adept puts us on notice that the line between authenticity and inauthenticity is never easy to draw; it may even be nonexistent."(Dynes, 1990, S. 190)
[Indem der Meister des camp darauf verweist, dass sich die Darbietung und der satirisch dargestellte Gegenstand durch Inauthentizität auszeichnen, führt er uns vor Augen, dass die Grenze zwischen Authentizität und Inauthentizität niemals leicht zu ziehen ist; ja vielleicht existiert sie nicht einmal.Übers. d. Verf.].
Pippi parodiert und zeigt so gleichzeitig die Künstlichkeit des Wertesystems, auf dem die von ihr eingenommene Figur der manierierten Tante fußt.
Dok. 4: Was bedeuten camp und drag?
"Camp (engl. camp: aufgedonnert, tuntenhaft, homosexuell). Begriff, den Susan Sontag 1964 mit ihren 3Notes on 'camp'" in Umlauf gebracht hat; Stilrichtung, die sich durch exzessive Theatralik, Künstlichkeit und Humor auszeichnet und Gemeinsamkeiten mit der Kitsch- und Konsumkultur aufweist. [...] [Camp bezeichnet] einen diskursiven Modus, der ursprünglich (von Oscar Wilde) bis in die 1970er Jahre dazu diente, sich durch effeminierte Stimmlage, Gestik, Redeweise und Kleidung als Schwuler anderen Schwulen gegenüber zu erkennen zu geben. Die Camp-Ästhetik hebt auf die Äußerlichkeit von Rollen, insbesondere von gender-Rollen ab, die als Frage des Stils angesehen werden. Camp par excellence ist die drag performance, für die eine ironisch-humoristische Distanz zwischen performer (drag queen) und Rolle (oft Diven der Vergangenheit) konstitutiv ist [...]. Im Cross-dressing und gegengeschlechtlichen Styling des Körpers wird entweder ein ernsthaftes vorübergehendes passing im anderen Geschlecht oder eine deutliche Übertreibung und Parodie von Identitäten inszeniert, die nicht auf ein eigentliches Geschlecht hinter der Maskerade verweist, sondern die Kategorie Geschlecht als solche in Frage stellt." (Kroll, 2002, S. 46 und S. 74)
2.2 Die "klassischen" Geschlechterrollen? Pippis Freunde Thomas und Annika
Da die vorausgegangenen Ausführungen gezeigt haben, dass Pippis Verhältnis zu Thomas und Annika eine wesentliche Rolle für ihre eigene Geschlechtsinszenierung spielt, soll hier näher auf die Freundschaft Pippis zu diesem Geschwisterpaar eingegangen werden, das imWesentlichen die "klassischen" binären Geschlechterrollen reproduziert und das traditionelle Autoritätsgefälle zwischen Kindern und Erwachsenen vorführt:
Neben der Villa war ein anderer Garten und darin ein anderes Haus. In dem Haus wohnten ein Vater und eine Mutter mit ihren zwei netten kleinen Kindern, einem Jungen und einem Mädchen. Der Junge hieß Thomas und das Mädchen Annika. Das waren zwei sehr liebe, wohlerzogene und artige Kinder. Niemals biß Thomas an seinen Nägeln, immer tat er das, was ihm seine Mutter sagte. Annika murrte niemals, wenn sie nicht ihren Willen bekam. Sie sah immer so ordentlich aus in ihren gebügelten Baumwollkleidern, und sie nahm sich sehr in acht, daß sie sich nicht schmutzig machte. (Pippi Langstrumpf, 1949, S. 11f)
Vor allem der schon in obigen Beispielen z.T. deutlich gewordene Kontrast zum "Mustermädchen" Annika,die ganz dem traditionellen kinderliterarischen Mädchenbuchschema entspricht, trägt wesentlich zur Wirkung der Rollenübertretungen Pippis bei. Annika zeichnet sich durch die "typisch weiblichen" Eigenschaften Zurückhaltung, Passivität, Ängstlichkeit, aber auch Fürsorglichkeit, Ordnungsliebe und Fügsamkeit aus; ihr großes Vorbild ist vor allem ihre Mutter; so kommentiert Annika z.B. Pippis Phantasiegeschichten ganz im Sinne der Erwachsenen mit "Lügen ist häßlich" (Pippi Langstrumpf,1949, S. 16). Thomas dagegen zeigt selten Ängstlichkeit, lässt sich schnell auf die abenteuerlichen Vorschläge seines Vorbilds Pippi ein und fühlt sich seiner Schwester grundsätzlich überlegen. Nichtsdestoweniger ist auch er letztlich mehr als wohlerzogen und brav, und bleibt genauso wie seine Schwester passiv, wenn es um das Ausdenken von Spielen, Ausflügen und Streichen geht, was allein Pippi überlassen bleibt.
Insgesamt nimmt Pippi im Verlauf der drei Bücher immer mehr eine Art Mutterrolle für Thomas und Annika ein, die im Kontrast zu den bürgerlichen Eltern der Nachbarskinder steht, die vor allem um deren Sauberkeit und Anständigkeit besorgt sind. Pippi dagegen stiftet die Kinder zu wilden Abenteuern und Verrücktheiten an, wobei sie diese nie ernsthaft in Gefahr bringt bzw.durch ihre enorme Körperstärke und ihren Erfindungsreichtum jede Schwierigkeit lösen kann: "Bisweilen erscheint sie als eine Art Übermutter, die in der Lage ist, alle Wünsche zu erfüllen" (Cromme, 2005, S. 311). Sie bekocht Thomas und Annika mit Pfannkuchen und macht ihnen immer wieder Geschenke. Die Angepasstheit der beiden Kinder erhält zwar durch Pippis unkonventionelles Verhalten einen ironischen Beigeschmack, dennoch nimmt Pippi aber nicht nur keinerlei Einfluss auf den Kleidungsstil und das rollenspezifische Verhalten ihrer Freunde, sondern bestätigt über ihre kleinen Aufmerksamkeiten sogar indirekt die festen Rollenzuweisungen.
"Geschlechtsspezifische" Geschenke
Thomas erhält im Lauf der Abenteuer von Pippi einen Dolch, eine Flöte, ein Luftgewehr, ein Notizbuch, einen Farbenkasten, einen Jeep und eine Dampfmaschine, Annika dagegen einen Schmuckkasten, einen Ring, eine Korallenkette, eine Brosche, eine Puppe, ein Puppenservice und einen Sonnenschirm. Die einzelnen Gegenstände stellen dabei nicht nur "typisches" Spielzeug für Jungen bzw. Mädchen dar, sondern lassen auch an die frühe Psychoanalyse denken: Nach Freud kann man in den länglichen Gegenständen Dolch, Flöte und Luftgewehr unschwer Phallussymbole, im Schmuckkasten einen weiblichen "Hohlkörper" entdecken. Interessant ist auch die Tatsache, dass Thomas als dem männlichen Part die Beherrschung öffentlicher Bereiche wie Verteidigung (Dolch, Luftgewehr), Sprache und Kunst (Notizbuch, Farbenkasten, Flöte) und Technik (Jeep, Dampfmaschine) übertragen wird, Annika dagegen eher auf die privaten Aspekte Dekoration/Schmuck bzw. Haushalt und Kinder festgelegt wird. Man kann darin auch einen Verweis auf eine patriarchalische, hierarchische Gesellschaftsordnung im Sinne Milletts und Irigarays sehen, in der die Frau in den privaten Bereich zurückgedrängt und die entscheidenden Machtsektoren Militär, Industrie, Technologie und Sprache von Männern beherrscht werden (vgl. Millett, 1974, S. 39f und Irigaray, 1997, S. 323ff), und der sich offensichtlich nur Pippi Langstrumpf selbst durch ihre permanenten Rollentransgressionen zu entziehen vermag.
2.3 Die Entmachtung der Erwachsenen
Die Erwachsenen in Pippi Langstrumpf spielen eine weitere, wenn auch untergeordnetere Rolle für die geschlechtliche Inszenierung Pippis. Was die oben angesprochene indirekt angedeutete patriarchalische Gesellschaftsordnung betrifft, so werden die - insgesamt eher grob und stereotyp skizzierten - männlichen und weiblichen Erwachsenen zwar recht "traditionell" geschlechterspezifisch dargestellt, aber letztlich allesamt von Pippi "ent-autorisiert". Die Frauenfiguren gehen hauptsächlich sozialen Beschäftigungen nach (Hausfrau und Mutter, Lehrerin, Erzieherin); die Männer sind aber auch nur vordergründig Autoritäten ("starker Adolf", Polizisten), die kurzzeitig Störungen innerhalb Pippis Universum verursachen, aber letztlich keinerlei Macht über Pippi ausüben können.
Was die weiblichen Erwachsenen betrifft, so finden sowohl Thomas' und Annikas gutbürgerliche Mutter und deren Kaffeeklatschdamen als auch die Dorfschullehrerin Pippis Benehmen unmöglich und wollen sie im Grunde zu einem artigen Mädchen erziehen, haben aber auch Mitleid und Verständnis für Pippi, die keinerlei elterliche Strenge erfahren hat. Exemplarisch hierfür kann die Reaktion der Lehrerin auf Pippis ungezogenes Verhalten bei ihrem ersten Schulbesuch stehen:
Aber da antwortete die Lehrerin, daß sie sehr traurig wäre, vor allen Dingen deswegen, weil Pippi nicht versuchen wolle, sich ordentlich zu benehmen, und daß kein Mädchen, daß sich wie Pippi aufführe, in die Schule gehen dürfe, wenn sie auch noch so gern möchte. (Pippi Langstrumpf, 1949, S. 72)
Bezeichnend ist dabei Pippis Reaktion auf den indirekten Tadel:
"Hab ich mich schlecht benommen?" frage Pippi ganz erstaunt. [...] "Du musst verstehen, Fräulein, wenn man eine Mama hat, die ein Engel ist, und einen Papa, der Negerkönig ist, und wenn man selbst ein ganzes Leben lang auf dem Meer gesegelt ist, weiß man nicht, wie man sich in der Schule [...] benehmen soll." (Pippi Langstrumpf, 1949, S. 72)
Die Antwort der Lehrerin fällt daraufhin versöhnlicher aus:
Da sagte die Lehrerin, daß sie das verstehe und daß sie nicht mehr böse auf Pippi wäre und daß Pippi vielleicht wieder in die Schule kommen könne wenn sie etwas älter wäre. (Pippi Langstrumpf, 1949, S. 72)
Im Film übernimmt die Erzieherin Tante Prüsselia (von Pippi scherzhaft "Prüsseliese" genannt) diesen Part und macht sich beständig Sorgen um die allein lebende Pippi, die sie am liebsten im Kinderheim sehen würde. Prüsselias konservative und überbesorgte Haltung kommt dabei schon in ihrer Kleidung und ihrer manierierten Sprechweise zum Ausdruck, was die Figur der konservativen Erzieherin noch stärker ironisiert als dies im Buch der Fall ist.
Ganz ähnlich wird mit der Darstellungsweise der wiederkehrenden männlichen Charaktere verfahren: Sowohl den Dorfpolizisten Kling und Klang, als auch den beiden Landstreichern und Dieben Donnerkarlsson und Blom, die Pippi ins Kinderheim stecken bzw. ausrauben wollen, widersetzt sich Pippi stets erfolgreich (z.B. spielt sie mit den Polizisten Fangen auf dem Dach ihres Hauses oder lässt die ertappten Diebe tanzen und auf dem Kamm blasen; erstere Textstelle ist in der französischen Erst- und Zweitausgabe gestrichen). Beide Slapstick-Pärchen erinnern dabei mit ihrer liebenswerten Trotteligkeit stark an Charlie Chaplin oder Laurel und Hardy und parodieren die vermeintliche männliche Autorität, der sich Pippi angesichts ihres Alters von neun Jahren meist außerordentlich schlagfertig entzieht:
"Aber begreifst du denn nicht, daß du in die Schule gehen musst?" sagte der Polizist. "[...] stell dir vor, wie unangenehm es für dich sein wird, so wenig zu wissen, wenn du mal groß bist. Vielleicht fragt dich dann jemand wie die Hauptstadt von Portugal heißt, und du kannst keine Antwort geben." "Kann schon sein", sagte Pippi. "Vielleicht würde ich manchmal abends wach liegen und fragen und fragen: Wie in aller Welt heißt die Hauptstadt von Portugal? Na ja, man kann nicht immer nur Spaß haben", sagte Pippi und stellte sich ein bisschen auf die Hände. "Übrigens war ich mit meinem Papa in Lissabon", fuhr sie fort, während sie noch auf den Händen stand. (Pippi Langstrumpf, 1949, S. 48ff)
Die wohl tiefschichtigste Männerfigur im Buch stellt Pippis eigener Vater dar, der Seemann und Negerkönig Efraim Langstrumpf. Pippi wird zwar über ihre Namensgebung "Efraimstocher" eindeutig als dessen Abkömmling identifiziert, ist finanziell von ihm abhängig und vermisst bisweilen ihren in der Karibik lebenden Vater. Auf der anderen Seite hat sie sich aber im Grunde schon weitgehend von diesem emanzipiert und bedarf in keiner Weise seiner Fürsorge; sie führt ihr eigenes Leben, für das sie keine elterlichen Ratschläge braucht, was sich metaphorisch an ihrer übermäßigen Körperkraft zeigt:
"Wenn ich zehn Jahre alt bin, dann besiege ich dich, Papa Efraim." Das glaubte Vater Efraim auch. (Pippi Langstrumpf geht an Bord, 1969, S. 157)
Als Pippis Vater seine Tochter am Ende des zweiten Bandes mit ins Taka-Tuka-Land nehmen will, wird dies von Thomas und Annika als tiefgreifender Einschnitt empfunden. Letztendlich entscheidet sich Pippi aber doch für ihr eigenständiges, unabhängiges Leben und bleibt in der Villa Kunterbunt; der väterliche Eingriff in ihr Universum ist also lediglich vorübergehender Art. Im letzten Band der Trilogie, Pippi in Taka-Tuka-Land, werden die Machtverhältnisse sogar ganz offensichtlich umgekehrt: Pippis Vater befindet sich in der Gefangenschaft von Piraten und bittet nun per Flaschenpost seine Tochter um Hilfe, die ihn selbstverständlich aus der misslichen Lage befreit.
3. Inszenierung, Transgression und Performativität in "Pippi Langstrumpf"
Zum Abschluss unserer Untersuchung muss man festhalten, dass Astrid Lindgren mit der Figur der Pippi sehr wohl Türen in der kinderliterarischen Darstellung gerade von weiblicher Kindheit aufgestoßen hat, die weit über streng rollenkonforme Mädchenkonstrukte, die in gesellschaftliche Erwartungen und Regeln hineinwachsen bzw. hineingezwungen werden, hinausgeht. Interpretationen, die Pippi Langstrumpf als "fröhliche Revolte gegen erwachsene Autorität" (Cromme, 2005, S. 302) oder als "Revolution gegen den Dilettantismus, die Tantenhaftigkeit, die Kitschsucht" (Cromme, 2005, S. 303) einschätzen, haben somit sehr wohl ihre Berechtigung, sagen aber im Grunde ja nur aus, dass die kulturellen Bilder der Darstellung von Geschlechterrollen einem zeitlichen Wandel unterworfen sind.
Unter dem Blickwinkel der Gender Studies entfaltet sich in Lindgrens Pippi aber eine noch weitaus subversivere Inszenierung von Geschlechtlichkeit: Die Gender Studies hinterfragen auch die vermeintlichen biologischen Fakten, wobei nach Judith Butler das biologische Geschlecht (sex) genauso wie die soziale Geschlechterrolle (gender) ein kulturelles Konstrukt ist - beides performative Kategorien, die kulturelle Normen produzieren und reproduzieren. "Diese im allgemeinen konstruierten Akte, Gesten und Inszenierungen erweisen sich insofern als performativ, als das Wesen oder die Identität, die sie angeblich zum Ausdruck bringen, vielmehr durch leibliche Zeichen und andere diskursive Mittel hergestellte und aufrechterhaltene Fabrikationen/Erfindungen sind." (Butler, 1991, S. 200). Die Geschlechtsidentität als ein ständiger performativer Akt ist dabei eine kulturelle Simulation, die die Vorstellung eines "natürlichen" Originals erst hervorbringt; es handelt sich also um eine "Imitation ohne Original" (Butler, 1991, S. 203).
Für Butler kann die binäre Geschlechternorm mit tabubrechenden, subversiven Körperakten wie Travestie, Kleidertausch, camp, drag oder Transsexualität als einer Art De- und Rekonstruktion des Selbst performativ überschritten werden:
[...] die Travestie [subvertiert] auch die Unterscheidung zwischen seelischem Innen- und Außenraum grundlegend [...], und [macht] sich sowohl über das Ausdrucksmodell der Geschlechtsidentität als auch über die Vorstellung von einer wahren geschlechtlich bestimmten Identität (gender identity) lustig [...]. Indem die Travestie die Geschlechtsidentität imitiert, offenbart sie implizit die Imitationsstruktur der Geschlechtsidentität als solcher - wie auch ihre Kontingenz. [...] Statt des Gesetzes der heterosexuellen Kohärenz sehen wir, wie das Geschlecht und die Geschlechtsidentität ent-naturalisiert werden, und zwar mittels einer Performanz, die die Unterschiedenheit dieser Kategorien eingesteht und die kulturellen Mechanismen ihrer fabrizierten/erfundenen Einheit auf die Bühne bringt. (Butler, 1991, S. 202f)
Um nun auf die geschlechtsbezogene Charakterisierung der literarischen Figur der Pippi Langstrumpf zurückzukommen, so lässt sich Pippi als Variation von Hoffmanns geschlechtlich neutralem fremden Kind tatsächlich nur schwer in das binäre Geschlechtsschema einordnen. Wie oben dargestellt, wird Pippi zwar als Mädchen eingeführt, übernimmt aber in spielerischen Transgressionen, worunter Kümmerling-Meibauer "nicht nur [...] einen tatsächlich stattfindenden Geschlechterwechsel (durch Verkleidung) oder die Verbindung zweier Geschlechter (Androgynität, Zwitterwesen), sondern auch [...] Verhaltensweisen, die traditionellerweise dem jeweils anderen Geschlecht zugeordnet werden" (Kümmerling-Meibauer, 1996, S. 39) versteht, typisch "männliche" wie typisch "weibliche" Eigenschaften und parodiert und ironisiert die jeweiligen Geschlechteridentitäten, die sie kontinuierlich überschreitet. Diese Fähigkeit bleibt aber allein auf Pippi beschränkt, da ja die anderen Kinderfiguren in ihrem relativ starren Geschlechterverhalten verharren (und darin auch von Pippi zum Teil noch bestärkt werden), und vor allem als Kontrast zur normensprengenden Pippi dienen. Deutlich wird dies ebenfalls bei den nur oberflächlich charakterisierten erwachsenen Charakteren, bei denen zwar eine traditionelle, geschlechterspezifische Darstellung erkennbar ist, die aber allesamt keinerlei Autorität oder Kontrolle über Pippi besitzen, und somit die "Außergewöhnlichkeit" und "Unnormalität" Pippis noch besonders hervortreten lassen.
Der letzte Band der Pippi-Trilogie scheint schließlich darauf zu verweisen, dass transgressive Rollenspiele mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter zugunsten einer eindeutigen Geschlechtsidentität ein Ende finden: Will Pippi am Ende des ersten Buches noch Seeräuber werden ("Ich werde Seeräuber, wenn ich groß bin!" (Pippi Langstrumpf, 1949, S. 207)), so versucht sie in Pippi in Taka-Tuka-Land das Erwachsenwerden durch die Konstruktion einer Rolle als Kinderseeräuber und die Einnahme der "magischen" Krummeluspillen um jeden Preis zu verhindern ("Große Menschen haben nur einen Haufen langweiliger Arbeit und komische Kleider und Hühneraugen und Kumminalsteuern.", Pippi in Taka-Tuka-Land, 1968, S. 174). Auch der fast schon melancholische Schlusssatz des dritten Bandes bestätigt augenscheinlich, dass die spielerischen Transgressionen und damit die Nicht-Festlegung auf eine Geschlechtsidentität letztlich nur im Kindesalter möglich sind:
Dort war Pippi. Sie würde immer da sein. Es war wunderbar, daran zu denken. Die Jahre würden vergehen, aber Pippi und Thomas und Annika würden nicht groß werden. Neue Frühlinge würden kommen und neue Sommer, Herbst und Winter würde es werden, aber ihr Spiel würde niemals aufhören. (Pippi in Taka-Tuka-Land, 1968, S. 182f)
Document d'accompagnement pour la classe : analyse d'un extrait de Pippi Langstrumpf
Pippi greift ein
Gerade da wurde eine Gart
entür geöffnet, und ein Junge kam herausgestürmt. Er sah ängstlich aus, und das war kein Wunder, denn dicht auf den Fersen folgten ihm fünf Jungen. Sie hatten ihn bald und drängten ihn gegen einen Zaun, wo sie alle auf ihn losgingen. [...] Gebt's ihm Jungs! schrie der größte und kräftigste der Jungen. [...]
Das ist dieser schreckliche Benno. Immer muß er sich prügeln, sagte Thomas. Pippi ging zu dem Jungen hin und tippte Benno mit dem Zeigefinger auf den Rücken. [...] Benno drehte sich um und sah ein Mädel, das er niemals vorher getroffen hatte, ein wildfremdes Mädel, das es wagte, ihn anzufassen. Zuerst gaffte er nur eine Weile vor lauter Verwunderung, und dann zog ein breites Grinsen über sein Gesicht.
Jungs, rief er, Jungs! Laßt Willi los und schaut euch das Mädel hier an. So was habt ihr in eurem ganzen Leben noch nicht gesehen! [...] Habt ihr gesehen, was für Haar sie hat? Das reine Feuer! Und solche Schuhe! Kann ich nicht einen davon borgen? Ich möchte so gern mal rudern, aber ich hab' kein Boot. Dann griff er einen von Pippis Zöpfen, ließ ihn aber schnell wieder los und schrie: Rotfuchs! Rotfuchs!
Pippi stand mitten im Ring und lachte ganz freundlich. Benno hatte gehofft, daß sie böse werden oder anfangen würde zu weinen. Zum mindesten müßte sie ängstlich aussehen. Als nichts half, schubste er sie. Ich finde nicht, daß du ein besonders feines Benehmen Damen gegenüber hast, sagte Pippi.
Und nun hob sie ihn mit ihren starken Armen hoch in die Luft, und dann trug sie ihn zu einer Birke die da stand, und hängte ihn quer über einen Ast. Dann nahm sie den nächsten Jungen und hängte ihn auf einen anderen Ast. Und dann nahm sie den dritten und setzte ihn auf einen Torpfosten vor einer Villa, und dann nahm sie den vierten und warf ihn über einen Zaun, daß er mitten in einem Blumenbeet landete.
Auszug aus: Lindgren, Astrid. Pippi Langstrumpf. Hamburg: Oetinger, 1949, S. 36ff. (mit freundlicher Genehmigung des Verlags)
Analyseansätze
Die Gender Studies, die sich in den letzten Jahrzehnten fest im deutschen Universitätskanon etabliert haben, gehen von der jeden Essentialismus ablehnenden Annahme aus, "dass das Geschlecht eine sozio-kulturelle Konstruktion (gender) und vom biologischen Geschlecht (sex) zu unterscheiden ist bzw. dass auch der vermeintlich natürliche Körper (sex) eine kulturelle Konstruktion, d.h. (erst) aus der gender-Perspektive kontruiert ist" (Kroll, 2002, S. 5). Dementsprechend interessiert sich die Geschlechterforschung von jeher insbesondere für Geschlechtsinszenierungen, die auf den "historisch-wandelbare[n], gesellschaftlich-kulturelle[n], zugleich semiotische[n] und soziokulturelle[n]" (Kroll, 2002, S. 5) Konstruiertheitscharakter dieser Kategorien verweisen.
Die vorliegende Textpassage aus dem ersten Band der Pippi Langstrumpf-Trilogie beschreibt nun nicht nur die Konfrontation zwischen Pippi, Thomas und Bennos Jungenbande, sondern auch die Einnahme bzw. die teilweise Überschreitung verschiedener Geschlechterrollen durch die auftretenden Figuren. Dies kann für die in unserer Gesellschaft als "typisch" weiblich bzw. männlich empfundenen Verhaltensmuster und Pippis ungewöhnlichen Umgang mit derartigen Rollenzuschreibungen sensibilisieren, die sie immer wieder spielerisch überschreitet, karikiert oder übersteigert, wenn sie etwa wie in diesem Textausschnitt eine ganz besondere Souveränität demonstriert.
Die männlichen Figuren: Machos aber keine Helden
Beginnen wir unsere Analyse zunächst mit einem Blick auf das keineswegs homogene Verhalten der männlichen Figuren. Benno und seine Kumpane treten als Gruppe auf und verfolgen einen einzelnen Jungen, wobei Benno als Anführer ein betont "machohaftes" Benehmen an den Tag legt und erst einmal keinerlei Respekt vor der vermeintlich wehrlosen Pippi zeigt. Thomas dagegen, der ja in einer derartigen Situation durchaus ebenfalls in eine "typisch männliche" Gegenrolle, nämlich die des väterlich-heroischen Beschützers schlüpfen könnte, kritisiert lediglich verbal das Verhalten der Jungenbande. Pippis Außergewöhnlichkeit innerhalb des Trios Pippi-Thomas-Annika und auch gegenüber anderen Kinderfiguren wird dadurch besonders hervorgehoben: Zeigt Thomas nämlich gegenüber seiner Schwester Annika durchaus des Öfteren einen männlichen Beschützerinstinkt, so tut er dies nie gegenüber seiner ja ebenfalls weiblichen Freundin Pippi, sondern überlässt im Gegenteil in heiklen Situation allein ihr das (meist) physische Eingreifen.
Haar und Haarfarbe als Symbole für Macht
Pippi hebt sich in dieser wie auch in vielen anderen Szenen schon allein durch ihr Aussehen von den anderen Kindern ab und zieht deren Aufmerksamkeit in ihren Bann: Mit den abstehenden Zöpfen und der befremdlichen Kleidung wirkt sie auf die Jungenbande "wildfremd"; und insbesondere Pippis mehrmals betonter roter Haarschopf sollte an die kulturgeschichtliche Bedeutung weiblicher Haarpracht erinnern: Frauenhaar, das Männer zu Stein erstarren lässt bzw. mit dem sie sich bekränzen, spielt schon in den antiken Mythen von Medusa und Daphne eine Schlüsselrolle in zwischengeschlechtlichen Machtkämpfen. Noch offensichtlicher ist die Bedeutung der Haarfarbe "rot": Rothaarige Personen sind selten und man sagt ihnen über die Jahrhunderte immer wieder besondere Fähigkeiten nach. In der klassischen Farbsymbolik ist "rot" die Farbe "männlich-aktiver sexueller Energie" (Riedel, 1983, S. 31) und wird bei den Germanen mit den Kriegs- und Wettergöttern, im mittelalterlichen Christentum mit dem Teufel in Verbindung gebracht.
Pippi verfügt also sozusagen symbolisch sowohl über ein starkes weibliches Erotiksignal, als auch über ein Zeichen für (männliche) Macht, in jedem Fall aber für besondere Kräfte und Souveränität, die selbst dem Macho Benno derart Respekt einflößen, dass er es kaum wagt, Pippi auch nur anzufassen ("Dann griff er einen von Pippis Zöpfen, ließ ihn aber schnell wieder los [...]").
Pippis Souveränität: Zwischen männlicher Machtdemonstration und "feiner Dame"
Was nun Pippis Reaktion in der zitierten Szene betrifft, so verhält sie sich ganz und gar entgegen den Erwartungen Bennos an kleine Mädchen und damit generell entgegen dem Klischee weiblicher Passivität, das ja durchwegs von der ängstlichen Annika repräsentiert wird. Pippi ist die einzige Figur, die dabei gleichzeitig auch ihre eigene Rolle thematisieren und überschreiten kann, indem sie sich selbst ironisch als "Dame" bezeichnet, als die sie sich ja in anderen Textpassagen durchaus gerne ausgibt.
Auf Bennos ungerechtes Verhalten gegenüber Schwächeren und seine Provokationen reagiert Pippi mit einer Mischung aus verbaler und physischer Überlegenheit, die die Jungen nicht weiter herausfordert, sondern gewaltfrei außer Gefecht setzt. Pippis Souveränität unterscheidet sich dabei insofern von der Machtdemonstration der Jungenbande, als sie ihre eigene Stärke nicht ausnutzt, sondern im Namen der Gerechtigkeit nur auf das Fehlverhalten Anderer reagiert und wehrlosen Dritten zu Hilfe kommt, ohne jemals von sich aus zu provozieren.
In dieser Szene werden also nicht nur mögliche "typisch" männliche Verhaltensweisen vorgeführt, sondern Pippi demonstriert auch das Gegenteil eines "typisch" weiblichen Rollenklischees, indem sie sich als selbstbewusste, souveräne Gestalt ausweist, die fähig ist, sich gegen körperliche wie verbale Angriffe von männlicher Seite zu verteidigen und durchzusetzen. Gleichzeitig thematisiert sie dabei das typischerweise erwartbare, aber von ihr eben nicht gezeigte ängstliche Verhalten eines kleinen Mädchens bzw. dasjenige eines Mannes gegenüber einer "Dame", das sie in anderen Textpassagen selbst imitiert.
> Zur weitergehenden Analyse, siehe das Kapitel 2.1.2 "Souveräne Weiblichkeit" im Artikel "Geschlechterinszenierung und -transgression im Kinderbuch: Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf"
Pour citer cette ressource :
Evelyn Wiesinger, Geschlechterinszenierung und -transgression im Kinderbuch: Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf, La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), juin 2009. Consulté le 07/12/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/litterature/mouvements-et-genres-litteraires/jeunesse-et-contes/geschlechterinszenierung-und-transgression-im-kinderbuch-astrid-lindgrens-pippi-langstrumpf-