Expressionistische Malerei und Gesellschaft
Vorbemerkungen
Der Begriff Expressionismus leitet sich ab aus dem lateinischen Wort expressio, Französisch expression, Ausdruck; Es handelt sich beim Expressionismus also um eine Kunst des Ausdrucks (des Inneren), im Gegensatz zum vorangehenden Stil des Impressionismus, der analog dazu als Kunst der Darstellung des (äußeren) Eindrucks bezeichnet werden kann. Expressionismus bedeutet demgemäß zunächst einmal das subjektive Zumausdruckbringen von Inhalt im Gegensatz zu einer angestrebten objektiven, neutralen Wirklichkeitsdarstellung.
Als Epochenbegriff wird der Expressionismus für die bildende Kunst, Literatur, Musik und später auch Film insbesondere in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern zwischen 1905 bis etwa 1925 verwendet. Nach dem 1. Weltkrieg wurde der Expressionismus schnell von Strömungen wie der Neuen Sachlichkeit und Dadaismus überlagert und abgelöst; expressionistische Elemente bestanden aber weiter und hatten entscheidenden Einfluss auf die Kunst des 20. Jahrhunderts. Wann genau der Begriff Expressionismus für diese Kunstrichtung aufkam, und wer ihn zum ersten Mal in diesem Kontext verwendete, ist umstritten, vermutlich war es der Verleger Herwarth Walden, dessen 1910 gegründete Zeitschrift Der Sturm eines der wichtigsten publizistischen Sprachrohre der expressionistischen Künstler war.
Der Expressionismus wird oft als typisch deutsches Phänomen betrachtet, welches auf die spezifische historische und gesellschaftliche Situation zum einen und auf die künstlerischen Traditionen im deutschsprachigen Raum zum anderen zurückzuführen ist. Im Folgenden soll es um die Kunst und Künstler in Deutschland gehen, wobei keinesfalls vergessen werden darf, dass der deutsche Expressionismus von Anfang an entscheidende Impulse aus dem Ausland erhalten hat. Dieser Artikel wird sich im Wesentlichen auf das Gebiet der Malerei beschränken.
1. Die Ursprünge und die Entwicklung des Expressionismus
Die Infragestellung der bestehenden Ordnung
Der Expressionismus entwickelte sich als eine Form des Protests gegen die wilhelminische Gesellschaft, die durch Konservatismus und Militarismus gekennzeichnet war. Wie in allen vorhergehenden Epochen spiegelt sich auch im Expressionismus die Stellung des Künstlers in der Gesellschaft wider: Kunst sollte vor allem repräsentativen Zwecken dienen, Wilhelm II. stand jeder modernen Kunstströmung ablehnend gegenüber. Der Unbeweglichkeit dieser Gesellschaft stand die fortschreitende Industrialisierung mit ihren sozialen Folgen gegenüber, was zu enormen Spannungen zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten führte. Expressionistische Kunst, sei es Malerei, Literatur oder Musik, verstand sich als Rebellion gegen die existierende Ordnung, festgefahrene Traditionen und Akademismus. Hierbei ging es den Expressionisten zunächst einmal weniger um die Entwicklung einer neuen Ästhetik, als vielmehr einer neuen Sensibilität, die aus der Subjektivität des Künstlers hervorgehen sollte.
Entscheidende Veränderungen in der deutschen Kunstlandschaft
Die Entwicklung des Expressionismus in der Malerei zu einer Kunstströmung mit weit reichender Wirkung wurde durch entscheidende Veränderungen in der deutschen Kunstlandschaft ermöglicht. Der offizielle Kunstbetrieb war von repräsentativer Malerei beherrscht, zu nennen ist hier etwa der einflussreiche Porträt- und Historienmaler Anton von Werner; In den Akademien wurde nach Gipsmodellen gezeichnet, die Unterstützung des kaiserlichen Hofes galt der in akademischen Konventionen erstarrten Malerei. Die fortschreitende Industrialisierung schuf eine neue Schicht von Wohlstandsbürgern, Kunst galt als Sinnbild für Bildung und Repräsentation; Der akademisch ausgebildete Künstler hatte sich in die Gesellschaft eingegliedert und war von ihr abhängig, er musste die Vorstellungen und Werte der Schicht, für die er arbeitete, respektieren, um anerkannt zu werden.
So waren es vor allem einzelne Individualisten, die der deutschen Kunst neue Impulse gaben, zum Beispiel die Verfechter eines Zurück-zur-Natur, die als Einzelkämpfer tätig waren oder sich unter anderem in der Worpsweder Künstlerkolonie zusammenfanden. Von Bedeutung ist auch der Jugendstil, er bildet mit seiner Loslösung von Form und Linie vom Naturvorbild eine wichtige Voraussetzung expressionistischer Kunst.
Eine Linie, so lehrte van de Velde, ist eine Kraft: sie entlehnt ihre Kraft der Energie dessen, der sie gezogen hat. Allein diese kühne Vorstellung, dass sie nicht nur formbezeichnende, sondern ebenso abstrakt-gestalterische Funktion besitze, ist eine der kühnsten Erkenntnisse dieser Zeit. (Paul VOGT, Vorwort. In VOGT 1981, S. 13)
2. Expressionismus als Revolte
Weltende, Jakob van Hoddis (1911)
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
in allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
und an den Küsten - liest man - steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
an Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
(Jakob VAN HODDIS / Paul RAABE (Hrsg): Weltende. Die zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichte. Zürich, Verlag Die Arche 2001)
Der Expressionismus reagierte sensibel auf die Störungen in der politischen und gesellschaftlichen Welt seiner Zeit. Der Monarch und die wilhelminische Gesellschaft verharrten vor dem ersten Weltkrieg im Geist des 19. Jahrhunderts, während sich die Welt rasant fortentwickelte, was zu erheblichen gesellschaftlichen Spannungen und sozialen Problemen führte. Dem Konservatismus, dem Militarismus, dem überkommenen Biedermeiergeist des Bürgertums und der sozialen Ungerechtigkeit setzten nun die Expressionisten ihren Aufschrei des Herzens entgegen, einen Schrei nach Aufbruch, nach Veränderung, nach Authentizität. In einer Gesellschaft des zunehmend industrialisierten Arbeitsprozesses mit großen sozialen Gegensätzen ging es den Expressionisten einerseits um ihre eigene Emanzipation als Mensch und Künstler. Sie sahen sich aber hierbei gleichzeitig als Kämpfer für diejenigen, die in dieser Gesellschaft unter die Räder kamen, als Kämpfer für eine bessere Welt. Es handelte sich durchaus nicht um eine aufs Ästhetische begrenzte Revolte, vielmehr war das Anliegen der Expressionisten zunächst einmal politisch und sozial motiviert. Insbesondere in der expressionistischen Literatur wird dem als unerträglich empfundenen bürgerlichen Kleingeist, der sich stets durch Unbeweglichkeit, Heuchelei, Profitgier und Herzlosigkeit kennzeichnet, das Bild des faustischen Menschen entgegengesetzt, der sich über die dem Untergang geweihte Gesellschaft erhebt und diese hinwegfegt, um endlich Platz für das Neue zu schaffen. Philosophische Grundlage hierfür war in erster Linie Friedrich Nietzsche, in dessen Schriften ein totaler Umsturz und der Sieg des neuen Menschen beschworen werden.
Das Ziel der Expressionisten war ein völliger Bruch mit der Vergangenheit, der in apokalyptischen Bildern in Szene gesetzt wurde. Alles Bestehende sollte unbarmherzig zerfetzt und zertrümmert werden, da der Aufbau einer neuen Welt nur auf den Trümmern der alten, oder am besten aus dem Nichts stattfinden konnte. Nach einer apokalyptischen Katastrophe und einem jüngsten Gericht sollte ein radikaler Neubeginn möglich sein. In der Literatur wurde dies oft konkret als Generationenkonflikt dargestellt, bei dem der unterdrückte Sohn schließlich in einem realen oder metaphorischen Vatermord über den rückwärtsgewandten, grausamen Vater siegt und somit das Hindernis für die Erschaffung einer neuen besseren Welt beiseite schafft, was stets mit leidenschaftlichem Pathos verbunden ist.
Politisch folgte aus dem Hass auf die bestehende Ordnung und letztlich auf jegliche etablierte Autorität der Ruf nach Revolution, ebenso aber auch die Herbeisehnung des Krieges seitens vieler Expressionisten, die ihn als eine Art Katharsis, als reinigendes Gewitter betrachteten, dem dann eine bessere Gesellschaft folgen sollte. Viele expressionistische Künstler meldeten sich freiwillig zum Krieg, unter den Malern etwa Max Beckmann, Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, August Macke, Franz Marc, Oskar Kokoschka und Otto Dix. Teilweise versprachen sie sich von der Kriegserfahrung auch neue Impulse für ihre Malerei. Etliche von ihnen konnten aber die Realität des Krieges nicht ertragen, wurden nach physischen und psychischen Zusammenbrüchen vorzeitig entlassen und wurden zu Kriegsgegnern, andere wie Franz Marc und August Macke kamen im Krieg um. Andererseits gab es auch von vorneherein überzeugte Pazifisten, die gegen den Krieg ankämpften.
3. Universalität und Internationalität
In all seinen unterschiedlichen und teilweise gegensätzlichen Erscheinungsformen erhob der Expressionismus jedoch grundsätzlich Anspruch auf Universalität. Er kann auch nicht als ein lokales, isoliertes, rein nationales Phänomen betrachtet werden. Die expressionistischen Künstler erhielten von Anfang an entscheidende Impulse auch und gerade aus dem Ausland und pflegten einen regen Austausch mit ausländischen Künstlern. Der Expressionismus steht in direktem Zusammenhang mit Umwälzungen auf internationaler Ebene, bezeichnend ist etwa, dass bedeutende Strömungen wie Fauvismus und Kubismus in Frankreich sowie der Futurismus in Italien fast gleichzeitig mit dem deutschen Expressionismus entstanden. Gerade der französisch-deutsche Austausch war besonders rege. Eine große Bedeutung bei der Entwicklung des Expressionismus haben die Fauvisten (Fauves), deren wichtigste Vertreter Henri Matisse, Maurice de Vlaminck und André Dérain waren. Vorbilder waren auch Maler wie Paul Cézanne, Paul Gauguin und Vincent van Gogh, letzterer wurde vielfach zu den französischen Malern gerechnet. Die jungen Maler in Frankreich hatten kein fest umrissenes Programm, keine Theorie für ihre Kunst, gemeinsam war ihnen jedoch die Ablehnung von Impressionismus und Naturalismus. Entscheidende Stilmerkmale ihrer Malerei, die sich auch bei den Expressionisten wieder finden, waren Vorrang der Farbe, Vereinfachung des Gegenständlichen und Verzicht auf Körpermodellierung. Die deutschen Expressionisten zeigten großes Interesse für die neue französische Kunst, während sie die deutsche Kunst ihrer Zeit vielfach als rückständig betrachteten. Als Vorläufer des Expressionismus gelten auch unter anderem noch der belgische Maler James Ensor und der Norweger Edvard Munch, wichtig ist auch die Wiederentdeckung des expressiven Spätrenaissancekünstlers El Greco.
Der Expressionismus mit seinem radikalen Pathos ist eine charakteristisch deutsche Erscheinung, die sich sowohl aus der künstlerischen Tradition als auch durch die speziellen historischen Gegebenheiten erklärt. Als kunsthistorischer Begriff wird er deshalb im engeren Sinn für die deutsche expressive Kunst in der Zeit zwischen 1905 und 1925 gebraucht. Er hat zwar viele Gemeinsamkeiten mit zeitgleichen Entwicklungen in anderen europäischen Ländern wie dem Fauvismus in Frankreich, der ebenfalls eine Kunst des subjektiven Ausdrucks ist, jedoch legten die Fauvisten mehr Wert auf Ästhetik, Komposition und malerische Wirkung, während der zunächst einmal sozial und politisch motivierte deutsche Expressionismus entsprechend seiner oft agitatorischen Zielsetzung in der Wahl seiner Mittel zu einer größeren Radikalität neigte.
4. Künstler und Wirklichkeit - Malerei gegen die Entfremdung
Der Expressionismus kann zunächst einmal als Protest gegen eine rückwärtsgerichtete, erstarrte Gesellschaft gesehen werden; er kann in seinen vielfältigen Erscheinungsformen jedoch keinesfalls ausschließlich hierdurch erklärt werden. Allein schon die Tatsache, dass es in Europa etwa zeitgleich zu anderen revolutionären Neuerungen in der Kunst wie Kubismus und Futurismus kam, weist darauf hin, dass die Entstehung des Expressionismus' nicht allein in der spezifischen Situation Deutschlands als rückständige Monarchie begründet liegt, sondern in einen weiter reichenden Zusammenhang eingebettet ist.
Der Expressionismus wird oft mit der Kunst der deutschen Romantik in Verbindung gebracht, einer Epoche, in der der Künstler seinen Platz in der Welt intensiv reflektiert: Einerseits in verallgemeinerbarer Form als Verhältnis des Menschen zur Welt (und zu Gott), aber eben auch ganz konkret und explizit im Bezug auf sich selbst, als Künstler und Individuum, das eine eigene, unverwechselbare Persönlichkeit mit eigener Weltsicht für sich reklamiert. Dazu gehört auch die in der Romantik immer wieder ausgedrückte Sehnsucht nach einem anderen Leben, nach Ganzheit, nach Authentizität, die sich oftmals in einer persönlicheren, als lebendiger empfundenen Form der Religiosität äußert, wie etwa dem Pantheismus. Wie der Expressionismus ist die Romantik in erster Linie eine Geisteshaltung, kein einheitlicher Stil. Auch sie wurzelt in gesellschaftlichen Veränderungen, die unter anderem die zunehmende Loslösung der Künstler von kirchlichen und adligen Auftraggebern zur Folge hatten, was eine Neudefinition der Stellung des in der Gesellschaft immer mehr auf sich selbst gestellten Künstlers, der seinen angestammten Platz verloren hatte, erforderlich machte.
Zum Zeitpunkt der Entstehung des Expressionismus hatte sich die Welt nun erheblich weiterentwickelt, insbesondere die Industrialisierung schuf völlig neue Prämissen; Der Künstler wurde auch als Mensch, als Individuum in einer neuen, bedrohlichen Weise in Frage gestellt. Dies geht weit über die einengenden Verhältnisse, die in der wilhelminischen Gesellschaft herrschten, hinaus, Künstler jenseits der staatlich geförderten Repräsentationsmalerei benötigten ein neues Selbstverständnis, eine neue Identität in einer von Grund auf veränderten Welt.
In der industrialisierten Gesellschaft wird das Individuum, der Künstler auf sich selbst zurückgeworfen; Einzigartigkeit und die daraus resultierende Einsamkeit werden zur Basis der subjektivistischen Selbstsicht des modernen Menschen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entsteht eine neue Sehnsucht nach Vitalität in allen Bereichen der Kunst, ein Hoffen auf ein neues Ganzes durch Nutzung aller Einzelkräfte. Das Verhältnis zwischen Mensch und Welt, zwischen Künstler und Welt ist erschüttert, der Expressionist glaubt nicht mehr an eine objektive Wirklichkeit und stellt das Vertraute grundsätzlich in Frage. Diese Entwicklung hatte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in den Werken einiger Künstlern bereits angebahnt. Offensichtlich wird sie etwa in den Werken Edvard Munchs, die eine innere Welt darstellen, oder in den Maskenbildern des Belgiers James Ensor: Masken sind in seinen Bildern nicht mehr von Gesichtern zu unterscheiden, Kunst ist eindeutig nicht mehr ein Abbild der Welt, sondern gibt die subjektive Sichtweise des Individuums und Künstlers wieder. Auch Vincent van Gogh ist hier von großer Bedeutung, seine persönlich geprägte Malerei jenseits aller malerischen Konventionen hatte ebenfalls großen Einfluss auf die spätere Kunst, insbesondere auf Fauvismus und Expressionismus. Starke Brüche mit der Tradition traten im Werk einzelner, kompromissloser Vorläufer also durchaus auf, aber noch keine Gruppe hatte kollektiv so radikal Subjektivität reklamiert wie die Expressionisten.
Gemäß ihrer Intentionen wandte sich die expressionistische Malerei nicht nur gegen die traditionelle akademische Malerei, sondern letztlich auch gegen den vormals ebenfalls revolutionären Stil des Impressionismus, ihre Intentionen und Mittel sind denen der Impressionisten genau entgegengesetzt: Der Impressionismus und insbesondere dessen spätere Systematisierung im Pointillismus beziehungsweise Divisionismus sind der Versuch einer objektivierten Wirklichkeitsdarstellung gemäß allgemein gültiger, physikalischer Sehgesetze. Das erklärte Ziel des Malers ist es, genau das wiederzugeben, was das Auge sieht, damit kommt die Subjektivität des Künstlers - zumindest in der Intention - praktisch nicht zum Tragen. Dargestellt wird der Eindruck eines Augenblicks, der Bildinhalt erfährt keinerlei Wertung, das Anliegen des Impressionismus ist primär ästhetisch, nicht politisch und nicht sozial orientiert. Der Impressionist versucht, den persönlichen Anteil des Künstlers auf ein Minimum zu reduzieren zugunsten einer objektiv nachvollziehbaren Realitätsdarstellung, wobei Realität vor allem als die äußere Erscheinung der Welt zu verstehen ist. Der Expressionismus ist im völligen Gegensatz hierzu oftmals eine Kunst der heftigsten Selbstaffirmation. Als Kunst des Ausdrucks, der Expressivität, strebt er die psychologische Transformation des Gesehenen und Erlebten an, sein Charakteristikum ist seine radikale Subjektivität, die oft eine Wertung enthält; auch im Sinne einer politischen Stellungnahme, die teilweise ganz konkret zu Agitationszwecken eingesetzt wurde.
5. Kunst der Gegensätze und der Provokation
Expressionistische Kunst entspringt zunächst einmal einer gewissen Geisteshaltung, die weniger eine theoretisch begründete als vielmehr eine leidenschaftlich gefühlte ist. Expressionismus ist kein klar definierbarer, einheitlicher Stil; Als kunstgeschichtlicher Epochenbegriff wird er daher von einigen Kunsthistorikern sogar völlig abgelehnt. Einigkeit herrschte unter den expressionistischen Künstlern zunächst einmal nur im Bezug auf die Ablehnung der dominierenden gesellschaftlichen und politischen Strukturen. Expressionistische Kunst ist Ausdruck von Subjektivität durch individuelle, dem einzelnen Künstler angemessene Mittel; Folgerichtig gibt es innerhalb der dem Expressionismus zugerechneten Werke große stilistische Unterschiede, die zuweilen schon die Zuschreibung zum expressionistischen Stil problematisch machen. Expressionismus lässt sich nicht an Formalien, sondern allenfalls an Haltungen festmachen. Zu seinen Wesenseigenschaften gehört der innere Widerspruch; divergierende Erscheinungsmerkmale, Gegensätze wie Instinkt und Intellekt, Optimismus und radikaler Pessimismus prallen aufeinander. Aufrufe zu gewaltsamer Revolution stehen neben intellektuellen Analysen, es gibt Kriegsenthusiasmus ebenso wie Pazifismus, teils wird das Individuelle, teils das kollektive, gesellschaftliche beziehungsweise politische Element in den Mittelpunkt gerückt; der Expressionismus ist inhaltlich und formal eine Kunst der Gegensätze und Widersprüche.
Der deutsche Expressionismus ist tief geprägt von der Idee einer universalen und nicht nur aufs Ästhetische beschränkten Revolution, von der Überzeugung einer zwingenden Notwendigkeit eines Umsturzes aller Werte und Verhältnisse. Die veränderte Zielsetzung der Kunst der Expressionisten erforderte neue stilistische Mittel. Die Ablehnung des Regelwerks der Akademien und auch der sich allmählich etablierenden impressionistischen Bewegung führte sie zu einer Suche nach neuen Ausdrucksmitteln und Vorbildern.
Diese Vorbilder fanden sie vor allem in der französischen Kunst, in der naiven Volkskunst und, wie auch die Franzosen, in der neu entdeckten Kunst der Primitiven, also der Skulptur Afrikas und der Südsee. Im krassen Gegensatz zur etablierten Kunst schafft der Expressionismus eine vom Naturvorbild abgelöste, unnatürliche Farb- und Formenwelt, die nicht mehr den überlieferten ästhetischen Vorstellungen entspricht. Der Holzschnitt wird zu einem wichtigen Ausdrucksmittel. Auf diese Technik, die Vereinfachung und Spontaneität erfordert (Korrekturen sind hierbei nicht möglich), hatten die primitiven Vorbilder einen besonderen Einfluss; Expressionistische Holzschnitte sind häufig durch Archaisierung und Monumentalisierung gekennzeichnet. Weitere wichtige Merkmale expressionistischer Werke sind leuchtende Farbigkeit, Vergröberung und Verzerrung der Formen, flächige und glasfensterartige Gestaltung von Malerei durch Verwendung der schwarzer Pinselzeichnung und Konturen (z.B. Kirchner Nacktes Mädchen) sowie eine spontane Niederschrift des Themas ohne Vorstudien. Es geht stets um das Erreichen einer größeren Unmittelbarkeit und Deutlichkeit der Bildaussage, nicht die Darstellung des Sichtbaren ist das Ziel, sondern bisher Unsichtbares soll sichtbar gemacht werden. Einige Expressionisten, allen voran Wassily Kandinsky, führte dieser Weg schließlich in die Abstraktion: Nicht mehr die Abbildung der Wirklichkeit ist das Ziel, es entstehen neue und eben auch abstrakte Welten.
In seinem radikal gegen die Tradition gerichteten Ansatz war der Expressionismus eine Revolution, die sich gegen alles wandte, was bis zu diesem Zeitpunkt als kultivierte Malerei verstanden wurde, sowohl formal als auch teilweise im Bezug auf die Sujets (etwa die Bilder Erich Heckels, die Irre zeigen) und er wurde zunächst einmal vor allem als Provokation empfunden. Die Darstellung gerade auch des Hässlichen und Tabuisierten sollte aufrütteln und beunruhigen, die ungewohnte und regelwidrige Form schockierte und stieß ab. So wurden später unter den Nationalsozialisten auch eine große Anzahl expressionistischer Kunstwerke als "entartet" eingestuft, aus den Museen entfernt, verkauft und zum Teil auch vernichtet; die Maler erhielten Ausstellungs- und einige von ihnen (z. B. Emil Nolde) sogar Malverbot.
6. Künstlergruppen und Programme
Der Expressionismus war nie eine einheitliche, kohärente Bewegung; Er definierte sich zunächst einmal vor allem aus der Negation, als Protest gegen den gesellschaftlichen, politischen und künstlerischen Status quo, als Gegenentwurf der Jugend zum kapitalistischen Bürgertum, dessen Materialismus, Egoismus und Machtstreben angeprangert wurden. Das Bild der deutschen expressionistischen Malerei wird heute dennoch vor allem durch zwei Künstlergruppen bestimmt:
- zum einen die Künstlervereinigung Die Brücke, die sich 1905 in Dresden zusammenfand, sie umfasste unter anderem die Maler Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Max Pechstein, Otto Müller und zeitweise auch Emil Nolde,
- zum anderen Der Blaue Reiter, der 1911 in München gegründet wurde. Zu ihm gehörten die Russen Wassily Kandinsky und Alexej von Jawlensky sowie Franz Marc, August Macke, Paul Klee, Gabriele Münter und Heinrich Campendonk, sein Kreis umfasste auch Künstler wie den Komponisten und Maler Arnold Schönberg.
Daneben gab es außerhalb dieser Gruppen zahlreiche unabhängige Künstler, die zeitweise oder dauerhaft expressionistisch arbeiteten, wie Max Beckmann, Paula Modersohn-Becker, Ludwig Meidner und Christian Rohlfs. Auch Otto Dix und George Grosz werden in ihrer frühen Phase teilweise dem Expressionismus zugerechnet.
Eine eigenständige Ausprägung des Expressionismus in Österreich bilden bedeutende Künstler wie Egon Schiele und Oskar Kokoschka.
Als Vertreter der expressionistischen Bildhauerei sind vor allem Wilhelm Lehmbruck und Ernst Barlach zu nennen, letzterer schuf auch Graphik und war als Schriftsteller tätig.
6.1. Die Brücke
Die Gründung der Brücke in Dresden im Jahre 1905, im selben Jahr, in dem in Paris die erste Ausstellung der Fauvisten stattfand, markiert den Beginn des deutschen Expressionismus. Die Gründer der Brücke waren eine kleine Gruppe von jungen Architekturstudenten, denen sich bald weitere Künstler anschlossen. Die meisten Mitglieder der Brücke waren künstlerische Autodidakten, die über keine akademische Ausbildung verfügten, was für ihre Kunst von entscheidender Bedeutung ist: Sie war nie akademischen Zwängen unterworfen gewesen und konnte sich daher frei entwickeln, unter Einbeziehung selbst gewählter, nicht vorgegebener Vorbilder.
Der Name Die Brücke geht vermutlich auf Friedrich Nietzsches Schrift Also sprach Zarathustra zurück, der unter anderem in der 4. Vorrede das Bild der Brücke verwendet:
"Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch - ein Seil über einem Abgrunde.
Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückbleiben, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben.
Was groß ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Ü b e r g a n g und ein U n t e r g a n g ist.
Ich liebe die, die nicht zu leben wissen, es sei denn als Untergehende, denn es sind die Hinübergehenden.
Ich liebe die großen Verachtenden, weil es die großen Verehrenden sind und Pfeile der Sehnsucht nach dem anderen Ufer."
(NIETZSCHE 1968, S. 12-13)
Erich Heckel, Kanal in Berlin, 1912. Quelle : Flickr
In der Wahl dieses Namens zeigt sich schon ein expressionistisches Grundanliegen: Der Künstler sieht sich in einer Mittlerrolle zwischen Kunst und Gesellschaft, die er durch eben diese Kunst verändern will. Das Programm der Brücke war kurz und allgemein gehalten. Der 1906 veröffentlichte Programmentwurf, den Kirchner verfasst und in Holz geschnitten hatte, bestand lediglich aus drei Sätzen:
"Mit dem Glauben an Entwicklung, an eine neue Generation der Schaffenden wie der Genießenden rufen wir alle Jugend zusammen, und als Jugend, die die Zukunft trägt, wollen wir uns Arm- und Lebensfreiheit verschaffen gegenüber den wohlangesessenen, älteren Kräften. Jeder gehört zu uns, der unmittelbar und unverfälscht wiedergibt, was ihn zum Schaffen drängt."
Dieses Programm enthält keinerlei ästhetische Maxime, es macht vor allem den revolutionären Impetus der jungen Künstler deutlich und ruft sie zum Zusammenschluss auf. In der 1906 von Schmidt-Rottluff verfassten Einladung an Emil Nolde, der Brücke beizutreten, heißt es sogar:
"Eine von den Bestrebungen von der Brücke ist, alle revolutionären und gärenden Elemente an sich zu ziehen - das besagt der Name Brücke."
(zitiert nach Wolf-Dieter DUBE: Die Künstlergruppe Brücke. In: VOGT 1981, S. 97)
Die Brücke-Maler sahen ihre Künstlergemeinschaft als einen der kapitalistischen Gesellschaft entgegengesetzten Lebensentwurf; Kunst und Leben sollten in harmonischer Einheit stehen. Sie lebten, arbeiteten und reisten zusammen und bildeten dabei einen gewissen malerischen Gruppenstil aus. Dies änderte sich mit dem sukzessiven Umzug vieler Mitglieder nach Berlin, die einzelnen Künstlerpersönlichkeiten differenzierten sich zunehmend voneinander, was schließlich zur Auflösung der Brücke aufgrund von Meinungsverschiedenheiten im Jahre 1913 führte.
Der angestrebten Mittlerrolle entsprechend, der sie in der Wahl ihres Namens Ausdruck verliehen, wendet sich ihr Programm nicht nur an die Schaffenden, die Künstler, sondern eben auch explizit an die Genießenden, das Publikum. Die Brücke-Künstler ließen sich bewusst in einem Arbeiterviertel in Dresden nieder und schufen die Möglichkeit einer passiven Mitgliedschaft für ihre Gruppe: Auch Nichtkünstler konnten Mitglied werden, sie bezahlten einen Mitgliedsbeitrag und erhielten dafür Graphiken. Das angestrebte Ideal war ein ständiger Austausch, eine Interaktion zwischen den Künstlern untereinander ebenso wie zwischen Kunst und Gesellschaft.
6.2. Die Künstlergruppe Der Blaue Reiter
Im Gegensatz zur zumindest zeitweise engen Zusammenarbeit der Brücke-Mitglieder in Dresden bildeten die Künstler des Blauen Reiters in München eher eine Interessen- als eine Arbeits- und Lebensgemeinschaft, auch interessierten sie sich mehr für künstlerische Fragen als für das gesellschaftliche Umfeld. München war eine der traditionellen Kunstmetropolen um 1900, so ist etwa der Jugendstil nach der 1886 in München gegründeten Zeitschrift Jugend benannt. Dem fügte der Einfluss der russischen Künstler Wassily Kandinsky und Alexej von Jawlensky besondere Komponente hinzu, ihre gewissermaßen pantheistische Weltsicht zielte mehr auf eine mystische Verinnerlichung ab und stellte den geistigen Aspekt der Kunst heraus, was sich auf die formale Gestaltung ihrer Bilder auswirkte und in der zunehmenden Abkehr von der sichtbaren Welt der Dinge einige Künstler schließlich in die Abstraktion führte.
1909 wird die Neue Künstlervereinigung München gegründet, mit Kandinsky als erstem und Jawlensky als zweitem Vorsitzenden, das Gründungszirkular nennt als Ziel der Vereinigung:
"Wir gehen von dem Gedanken aus, dass der Künstler außer den Eindrücken, die er von der äußeren Welt, der Natur, erhält fortwährend in einer inneren Welt Erlebnisse sammelt und [das Suchen] nach Formen, die von allem Nebensächlichen befreit sein müssen, um nur das Notwendige stark zum Ausdruck zu bringen, kurz, das Streben zu künstlerischer Synthese, dies scheint uns eine Lösung, die gegenwärtig wieder immer mehr Künstler geistig vereinigt."
(zitiert nach Günter KRÜGER: Die Rolle von Brücke und Blauem Reiter beim Durchbruch der Moderne in Deutschland. In: VON TAVEL 1986, S. 252)
Hier wurde mehr der psychologische und formale Aspekt der Kunst betont als der gesellschaftlich-politische. Die Geister entzweiten sich auch bald an der Frage der Form: So kam es 1911 zu Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Gruppe anlässlich von Kandinskys bereits in die Abstraktion führendem Bild "Komposition V", dessen Ausstellung ihm verweigert wurde; daraufhin traten unter anderem Kandinsky, Franz Marc und Gabriele Münter aus der Vereinigung aus und schlossen sich zur Künstlervereinigung Der Blaue Reiter zusammen, den Namen wählten sie nach einem Bild Kandinskys. Bei Beginn des Ersten Weltkriegs brach die Künstlergruppe auseinander; Kandinsky kehrte nach Russland zurück, August Macke und Franz Marc fielen im Krieg.
Die Gruppe war sehr viel stärker theoretisch orientiert und setzte sich mehr als die Mitglieder der Brücke mit stilistischen Fragen, mit Fauvismus und Kubismus auseinander; Kandinsky verfasste die bedeutende kunsttheoretische Schrift "Über das Geistige in der Kunst" (1912). Besondere Bedeutung hat auch der von Kandinsky und Franz Marc herausgegebene, 1912 erschienene Almanach Der blaue Reiter, der als fortlaufende regelmäßige Publikation geplant war, jedoch blieb es bei diesem einen veröffentlichten Band.
7. Expressionistische Bildsujets
7.1. Natursehnsucht und Großstadt
Expressionismus wird oft als Kunst der Großstadt betrachtet. In der Tat spielt der Stadtbegriff eine wichtige Rolle, da die Vereinzelung und die Vereinsamung des Menschen in der industrialisierten Welt entscheidende Voraussetzungen für das Entstehen der expressionistischen Kunst sind. In Berlin, der jüngsten europäischen Großstadt, zeigt sich die Auflösung sichernder Strukturen besonders deutlich und so stehen Expressionismus und Urbanität hier in unmittelbarem Zusammenhang.
Allerdings ist der Expressionismus nicht, wie man annehmen könnte, in Berlin geboren; die Künstler der Brücke fanden sich in Dresden zusammen und kamen erst später nach Berlin, die des Blauen Reiters lebten im Münchner Raum, Maler wie Emil Nolde und Paula Modersohn-Becker lebten zurückgezogen auf dem Land. Viele dieser Künstler kamen aber zeitweise nach Berlin oder ließen sich dort nieder, so dass sich im expressionistischen Schaffen zwei verschiedene, teils sukzessiv auftretende Grundtendenzen entwickelten: Zahlreiche Expressionisten wandten sich von der Gesellschaft ab und suchten nach einem neuen Naturgefühl, das teilweise religiöse, pantheistische Züge trug. Dieses Streben nach Einheit mit der Natur weist zuweilen Gemeinsamkeiten mit den Ideen der deutschen Romantik auf. Auf der anderen Seite nimmt die Großstadtthematik einen wichtigen Platz in der expressionistischen Kunst ein.
7.1.1. Natur und Landschaft
Das Landschaftsbild ist daher ein typisch expressionistisches Sujet, ebenso finden sich unzählige Bilder von Akten und Badenden in der freien Natur. Diese Darstellung der Nacktheit in Einheit mit der Natur bildet einen fast schon utopischen Gegenpol zur industrialisierten Großstadtwelt. Die Künstler der Brücke verbrachten in den Dresdener Jahren den Sommer oft gemeinsam am Moritzburger See, wo sie mit ihren Modellen in großer Freiheit zusammen lebten und arbeiteten und so ihre Idee der Harmonie zwischen Kunst und Leben ebenso wie die den Einklang mit der Natur umzusetzen versuchten. Das Werk Otto Müllers beschäftigte sich vor allem mit dem alternativen, naturnahen Außenseiterleben von Zigeunern, mit denen er auch teilweise lebte.
7.1.2. Das Tier als menschliche Projektionsfläche
Franz Marc wandte sich völlig dem Tier zu, das er als Antipode zur verdorbenen Menschheit sah. In einem Brief an August Macke schreibt er:
"Der unfromme Mensch, der mich umgab (vor allem der männliche) erregte meine wahren Gefühle nicht, während das unberührte Lebensgefühl des Tieres alles Gute in mir erklingen ließ." (MARC 1989, S. 140)
Das Tier in seiner natürlichen Ursprünglichkeit war für ihn der Ausgangspunkt für eine Suche nach dem Wesentlichen in einer pervertierten Welt; Er kommt hierbei den Vorstellungen der deutschen Romantik besonders nahe. Er identifizierte sich mit dem Tier, versuchte nicht das Tier darzustellen, sondern die Welt aus der Sicht des Tiers, so etwa in dem Rückenbild eines Pferdes, in dem der Betrachter mit dem Tier, sozusagen mit den Augen des Tieres in eine Landschaft blickt. Eine solche Darstellung erinnert an das typische Rückenbild der Romantik (siehe Caspar David Friedrich), bei dem der Betrachter sich in die schauende Person hineinversetzen soll und so einen direkten Bezug zum Bild erhält. Bei seinem Streben nach Universalisierung löste sich Marc zunehmend vom Abbild, ging von der gegenständlichen zu einer symbolischen Tierdarstellung über, die das Wesentliche und nicht die Erscheinung zu erfassen versucht. Er bediente sich hierbei zum Teil kubistischer Formelemente und entwickelte eine Farbsymbolik, in der die Farben jeweils verschiedenen Konzepten und Emotionen zugeordnet werden, was abermals an die deutsche Romantik, etwa an Philipp Otto Runges Farbenlehre, erinnert.
7.1.3. Südseephantasien
Die Suche der Expressionisten galt stets dem Unverfälschten, dem Authentischen. In Zusammenhang damit erklärt sich auch ihr großes Interesse für die Volkskunst, so etwa für bayrische Hinterglasmalereien, und gerade auch für die primitive, archaische Kunst der Südsee. Emil Nolde folgte dem Beispiel Gauguins und unternahm eine Reise in die Südsee, ebenso später Max Pechstein, der aber bald vom Kriegsbeginn eingeholt wurde, zurückkehren musste und eingezogen wurde. Beide verarbeiteten ihre Erfahrungen in ihren Südseebildern; Max Pechstein etwa schuf, nachdem er 1917 aus psychischen Gründen vom Kriegsdienst befreit worden war, sein Palau-Triptychon. Hier wird die Darstellung des einfachen, naturnahen Lebens zu einer paradiesischen Utopie, die, gerade nach der traumatischen Kriegserfahrung, eine Art Flucht in eine bessere, friedliche Welt darstellt. Die drei Elemente Luft, Wasser und Land sind alle vertreten und assoziiert mit Vögeln, Fischen und Menschen, so dass sie in der Dreiform des Triptychons, welches ursprünglich die eines Altarbildes und damit religiös konnotiert ist, eine Darstellung vollendeter Harmonie bilden.
7.1.4. Alltagsleben bei August Macke
August Macke hingegen entrückte in seinen Bildern Alltagsmotive in eine gewissermaßen zeitlose Welt: Farben und Komposition sind harmonisch, die Szenerien mit den oft gesichtslosen, entindividualisierten Figuren wirken heiter, fast traumhaft, wie eingefroren. In seiner Darstellung des zoologischen Gartens etwa stehen Besucher und Tiere harmonisch zusammen; Die trennenden Gitter sind zwar zu sehen, fügen sich aber in ein positives Gesamtbild ein. Es gibt nichts Beängstigendes, Negatives, keine Brüche, seine Bilder enthalten keinerlei Stellungnahme oder Wertung, eine Art künstlicher, weltfremder Frieden herrscht in dieser Malerei der reinen Farb- und Formfreude kurz vor Ausbruch des 1. Weltkriegs.
7.1.5. Die Großstadt
1911 zogen viele Maler der "Brücke" nach Berlin um, was ihre Malerei stark veränderte, auch andere Maler beschäftigten sich mit dem Thema der Großstadt. Die Großstadt erscheint in der expressionistischen Kunst teilweise als Moloch, als monströser, gefährlicher Ort der Ausbeutung und der unmenschlichen Dimensionen, so etwa in Ludwig Meidners apokalyptischen Stadtansichten, die wie eine Vorausdeutung auf den 1. Weltkrieg wirken; Meidner war einer der wenigen Künstler, die von vornherein vor dem Krieg warnten und ihn ablehnten.
Zum anderen beschäftigen sich die expressionistischen Bilder mit dem Großstadtleben, mit den Vorgängen in Straßen und Cafes, mit Boheme und Zirkus. Die Sichtweise war hier im Gegensatz zu früheren Darstellungen dieser Art nicht eine pittoreske, vielmehr wurde auch und gerade das Negative, Abseitige, Abstoßende und Hässliche hemmungslos und unbeschönigt gezeigt, Halbwelt und Außenseiter wurden ins Blickfeld gerückt. Das Nerveuse, Hektische, Gespielte, Mondäne, Erotische dieser Großstadtszenerien fand seine Umsetzung im expressionistischen Stil, in Kirchners Straßenbildern zeigen sich Damen der Halbwelt in zugespitzten, eckigen, mit nervösen Pinselstrichen (die Kirchner als Hieroglyphen bezeichnete) definierten Formen, in teilweise giftiger und kontrastreicher Farbgebung, Bilder, die allein durch ihre Malweise schon provokant und gefährlich wirken. Die Figuren stehen oft voneinander abgesetzt, wenden sich voneinander ab und werfen sich dabei verstohlene Blicke zu, was die Einsamkeit des Individuums sowie die Ambiguität der Kommunikation und menschlichen Interaktion verdeutlicht; Die Stadtarchitektur wird zur Kulisse für dieses menschliche Theater. Im Zentrum des Bildes Potsdamer Platz von 1914 stehen so zum Beispiel zwei Kokotten auf einer Verkehrsinsel; Die Männer auf den umgebenden Trottoirs wenden sich nach ihnen um, sie werden von ihnen förmlich angezogen, die ganze Komposition ist auf sie ausgerichtet.
Auch in frühen Bildern George Grosz', die expressionistische Stilmerkmale enthalten, wird die Stadt als ein Ort des hemmungslosen Amüsements ebenso wie der Ungerechtigkeit und brutalen Unterdrückung dargestellt.
7.2. Krieg und Gewalt
Der Krieg, in den die Expressionisten teils freiwillig, teils gezwungenermaßen gezogen waren und die mit ihm verbundene Desillusionierung veränderte die expressionistische Kunst. Sie verarbeiteten ihre Erfahrungen mehr oder weniger direkt in ihren Werken, die stilistischen Mittel des Großstadtexpressionismus wurden vielfach zur Grundlage der Darstellung einer veränderten Wahrnehmung, die Kunst wurde antimilitaristisch, politischer und zum Teil äußerst aggressiv in ihrer Formulierungsweise. Otto Dix stellte die Gräuel des Krieges, die er erlebt hatte, ohne weitere Wertung dar, er ließ die nackten Tatsachen, das Leiden der Opfer für sich sprechen, während George Grosz in beißenden Karikaturen die Zustände anprangerte, die Schuldigen benannte und damit direkt die Autoritäten, wie Offiziere, Richter, Kirche, die reichen Kapitalisten, diejenigen, die vom Krieg profitierten, anklagte. Mit seinen heftigen Angriffen auf die Stützen der Gesellschaft war er ein politischer, engagierter Künstler.
Erich Heckel zeigte Kranke, Sterbende, Genesende und Irre, ein späteres Bild trägt den Titel Irrer Soldat. Kirchner, der 1915 von der Front beurlaubt worden war, malte im selben Jahr sein Selbstbildnis als Soldat, er stellt sich in Uniform dar und zeigt dem Betrachter einen Armstumpf, die rechte Hand, mit der der Maler schafft, ist abgehackt, seine Kreativität und sein Leben zerstört. Im Hintergrund steht als Verweis auf das künstlerische Schaffen ein weiblicher Akt. Kirchners ebenfalls 1915 entstandene Holzschnittfolge zu Adalbert von Chamissos Erzählung Peter Schlemihl, die von einem Mann erzählt, der seinen Schatten verkauft und damit seine Identität verliert, weist in die selbe Richtung.
Max Beckmann, der als Sanitätsfreiwilliger in den Krieg gegangen war, wurde 1915 wegen eines Nervenzusammenbruchs entlassen, sein 1917 entstandenes Selbstbildnis mit rotem Schal zeigt ebenfalls in erschütternder Weise die Wirkung des Krieges auf den Künstler, der als vom Schrecken Gezeichneter erscheint. Beckmann befasste sich in seinem Werk vor allem mit individuellen und kollektiven Katastrophen und stellte Visionen des ausgelieferten Menschen dar. 1919 malte er das Gemälde Die Nacht, die Beschreibung einer grausigen Mordszene im kleinbürgerlichen Milieu ist von großer Brutalität gekennzeichnet. Eine Familie wird von einer Mörderbande überfallen, alles findet auf engstem Raum zusammengedrängt statt, was die Intensität der Szene noch steigert.
Auch und gerade in der Darstellung altbekannter Bildmotive beschritten die Expressionisten formal wie auch zum Teil inhaltlich neue Wege und schockierten dabei vor allem dadurch, dass sie völlig von künstlerischen Darstellungskonventionen und den Sehgewohnheiten des Publikums abrückten und ihrer subjektiven Sichtweise und Interpretation freien Lauf ließen. So wurden etwa die religiösen Darstellungen Heckels, Noldes und Schmidt-Rottluffs (dessen "Kristus"-Holzschnitt nicht nur für das Publikum teilweise unerträgliche Züge der "primitiven" Plastik aufweist, sondern überdies auch noch mit der Jahreszahl "1918" versehen ist und somit einen expliziten Aktualitätsbezug herstellte) vielfach als geradezu blasphemisch empfunden.
Schluss: Expressionismus - eine stilistische Revolution
Die Expressionisten brachen geradezu anarchisch mit den bisher gültigen malerischen und inhaltlichen Traditionen; Der Enge wilhelminischer Unterdrückungspolitik setzten sie ihren unbändigen Wunsch nach kompromissloser schöpferischer Verwirklichung entgegen. Aus dem Willen zur Zerstörung oktroyierter Formen ging eine intensive Malerei hervor, die sich mit radikalen Mitteln vom Althergebrachten und von der bürgerlichen Gesellschaft abzusetzen versuchte, um neue Perspektiven zu eröffnen. Der Expressionismus ist untrennbar mit dem Begriff der Großstadt verbunden, da das expressionistische Weltgefühl das eines Menschen ist, der in der industrialisierten Welt nicht mehr in einem gesicherten sozialen Kontext lebt, sondern mit einer neuen, komplexen und oft bedrohlichen Welt konfrontiert wird. Hauptgegenstand ihrer Malerei war aber für die Expressionisten zunächst die Landschaft, bis hin zu märchenhaften, verklärten Südseewelten. Es ging um ein neues, elementares Naturverständnis, ein Ausdruck ihrer Sehnsucht nach einer besseren Welt. Andererseits befassten sie sich auch direkt mit der neuen Welt der Großstadt, wobei sie auch und gerade deren Schattenseiten betrachteten.
Charakteristisch für den Expressionismus ist seine Neigung zum Extrem, die sich in seinen oft gegensätzlichen Ansätzen äußert, so etwa die enthusiastische, maßlose Verherrlichung des Menschen einerseits und andererseits das Hervorkehren von dessen Abgründen, von Hässlichem, Widerlichem, Groteskem (Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch heißt es etwa in einem Gedicht Gottfried Benns [Der Arzt II]), insbesondere nach der Desillusionierung durch den Krieg. In der Malerei zeigt sich die Neigung zum Extremen zum Teil in der Wahl von emotionsgeladenen und zuweilen unkonventionellen Bildmotiven, jedoch vor allem in deren unkonventioneller, oft drastischer Darstellungsweise, also in der Form, im expressionistischen Stil, der jedoch nicht einheitlich ist, sondern per Definition, nämlich durch die subjektive Sicht- und Ausdrucksweise des Künstlers, vielfältige und individuelle Formen annimmt. Expressionistische Malerei und Graphik ist oft plakativ und suggestiv, geprägt von intensiven Farben und extremen Formen; Sie ist ein Ausdruck der unverfälschten Subjektivität des Künstlers und soll auch den Betrachter direkt emotional ansprechen. Generell provozierten die Expressionisten eher durch die Art der Darstellung als durch die Sujets selbst, oftmals auch und gerade in ihrer Interpretation konventioneller Bildmotive, indem sie alle malerischen Traditionen sprengten.
Trotz des sozialrevolutionären Impetus, der aus den Publikationen der Expressionisten spricht, kann man die expressionistische Malerei letztlich, zumal auf inhaltlicher Ebene, nur bedingt als gesellschaftskritisch und politisch bezeichnen. Die Maler der Brücke etwa blieben weitgehend bei klassischen Bildmotiven; Neben Landschaftsbildern waren ihre Hauptsujets Stillleben, Portraits und Akte, in ihren Bildern finden sich keine politischen Stellungnahmen. Die Erschütterung durch den Ersten Weltkrieg führte dazu, dass sich die Kunst teilweise stärker politisierte; Diese Entwicklung führte jedoch oft schon weg vom Expressionismus, insbesondere in die Neue Sachlichkeit. Auch das Ideal der Kommunikation mit dem Publikum und des Ansprechens einer breiten Masse wurde in der Praxis nicht erreicht: Die für ein breites Publikum gedachten aufwendigen Publikationen wie der Almanach Der blaue Reiter und expressionistische Gemälde wurden nur von einer Minderheit zur Kenntnis genommen und geschätzt; Die expressionistische Malerei blieb zunächst einmal eine Kunst für einige wenige Liebhaber und konnte so kaum auf die Gesellschaft einwirken. Das breite Publikum stand dem Expressionismus weitgehend ablehnend und verständnislos gegenüber, bis hin zur späteren Entartete Kunst-Kampagne der Nationalsozialisten.
Nach dem Ersten Weltkrieg formieren sich bald neue künstlerische Strömungen wie die Neue Sachlichkeit, die als Gegenbewegung zum Expressionismus gesehen werden kann; Wichtige Vertreter waren Otto Dix, George Grosz, Georg Schrimpf und Christian Schad. Sie unterschied sich vom Expressionismus nicht nur formal, sondern auch in der Themenwahl, durch ihre starke Tendenz zu direktem politischem Engagement, Satire und Zynismus. Während den Expressionisten zuweilen ein Hang zur deutschen Romantik und zum Mystizismus und somit eine gewisse Realitätsferne vorgeworfen wurde, fanden die Maler der Neuen Sachlichkeit zu einem präzisen Realismus, der die Wirklichkeit nüchtern und schonungslos sezierte.
Bibliographie
Andreas HÜNEKE (Hrsg.): Der Blaue Reiter. Dokumente einer geistigen Bewegung. 2. überarbeitete Auflage. Leipzig, Reclam 1989.
Franz MARC / Günter MEIßNER (Hrsg.): Briefe, Schriften und Aufzeichnungen. 2. erweiterte und veränderte Auflage. Leipzig / Weimar, Kiepenheuer 1989.
Friedrich NIETZSCHE: Also sprach Zarathustra. 1883-1885. Nietzsche Werke, Kritische Gesamtausgabe, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Band VI.1. Berlin, de Gruyter 1968.
Paul VOGT (Hrsg.): Deutscher Expressionismus 1905 - 1920. Erweiterte deutsche Ausgabe des Kataloges der Ausstellung in New York und San Francisco 1980 / 81, München 1981.
Hans Christoph VON TAVEL (Hrsg.): Der blaue Reiter. Katalog zur Ausstellung im Kunstmuseum Bern vom 21. November bis 15. Februar. 2. revidierte Auflage. Bern 1986.
Pour citer cette ressource :
Astrid Buehrle, Expressionistische Malerei und Gesellschaft, La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), octobre 2008. Consulté le 21/11/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/arts/peinture-et-sculpture/expressionistische-malerei-und-gesellschaft