Alfred Hrdlicka: Überblick über das Werk des Wiener Bildhauers
Zweifelsohne ist der österreichische Steinbildhauer, Zeichner und Graphiker Alfred Hrdlicka einer der bedeutendsten Künstler unserer Gegenwart.
Wer ist dieser Künstler, dessen monumentale Werke uns an verschiedenen Orten Europas begegnen, sei es das "Mahnmal gegen Krieg und Faschismus" auf dem Platz vor der Albertina in Wien, das "Friedrich-Engels-Denkmal" in Wuppertal oder "Cap Arcona" in Hamburg?
Der Wiener Alfred Hrdlicka sorgt immer wieder für Aufsehen, weil in jedem seiner Werke brisante Themen des Alltags behandelt werden. Dabei ist aber noch nichts darüber ausgesagt, ob überhaupt irgendetwas Wahres in seinen Arbeiten liegt. Wenn die Aussagen, die Hrdlicka mit seiner Kunst macht, nicht zutreffen, wieso sorgen sie dann für Aufsehen? Kann etwas, das aus der Luft gegriffen ist, das sich schon von vornherein als Erfindung zu erkennen gibt, für Furore sorgen?
Wohl kaum. Vielmehr dürfte es so sein, dass nur das provozieren kann, was dem Gegenüber jeweils sein Spiegelbild vorhält. Allerdings sind Hrdlickas Kunstwerke keine bloßen Abbilder der Natur, sondern spiegeln diese in verzerrter Weise wider. Eben diese von ihm unternommene Veränderung der Wirklichkeit schärft den Blick für die Realität. Er übertreibt, verzerrt, überdehnt, um teilweise auf drastische Weise zu verdeutlichen, welche Abgründe und Extreme der menschlichen Existenz es gibt.
Hrdlicka ist nicht nur bildender Künstler, sondern er ist auch Verfasser vieler polemischer Texte, die ihrerseits wiederum Aufsehen erregen. Seine Worte sind nicht künstlich abgerundet, nicht abgeschliffen. Er weiß mit der Sprache umzugehen und schafft es, alles zu sagen, alles auszusprechen. Hrdlickas Aussprüche wie "Alle Macht in der Kunst geht vom Fleische aus", "Sex, Sadismus und Gewalt sind die Grundpfeiler der Kunst" oder "Haarmann ist unter uns, Haarmann ist in uns" prägen sich in unser Gedächtnis ein, sobald man sie einmal gelesen hat.
Die Kehrseite der Medaille ist, dass Hrdlicka von Museumsdirektoren wie von Ausstellungsmachern gemieden wird; er hat sich sozusagen selbst ins Abseits manövriert. Vor allem seine Aussage, dass Nazikunst genauso leer sei wie abstrakte Kunst wurde ihm schwer übel genommen und immer wieder vorgehalten. Aus diesem Zitat geht bereits hervor, dass Hrdlicka alles andere als ein Befürworter von abstrakter Kunst ist. Er gehört sogar zu denjenigen Künstlern, welche die Abstraktion radikal ablehnen. Mit seinen Grafikzyklen wie beispielsweise "Roll over Mondrian" schaffte Hrdlicka ein Manifest gegen die abstrakte Kunst, gegen ihre "edle Einfalt und stille Größe". Einziges Thema der Kunst Hrdlickas ist der Mensch, das heißt die menschliche Figur. Diese ist für ihn im klassischen Sinne das "Maß aller Dinge". Ihn interessiert das Extreme menschlichen Verhaltens, in dem sich das Eigentümliche des Individuums offenbart. Er zeigt den Menschen nicht als harmonische Persönlichkeit, sondern als zwiespältiges Wesen, dem das Hässliche, das Obszöne und Gewalttätige nicht fremd ist. Das Werk Hrdlickas setzt laut Canetti "eine von Raubtieren bevölkerte Welt, in der alle vom Fleisch leben voraus" (zitiert in Hüttel, 1998, S.16).
Dieses Beharren auf der menschlichen Figur ist in Zeiten der zunehmenden Abstraktion und Gegenstandslosigkeit der Nachkriegsjahre, später des "Fotorealistischen" und des Konzeptuellen eher die Ausnahme. Hrdlicka spürt den Menschen nicht in dem Bereich des Lebens auf, in dem sich die Menschen zurechtmachen und von ihrer besten Seite zeigen. Vielmehr folgt er ihnen an die Orte, wo sie ihre Masken und Hüllen fallen lassen; er porträtiert sie dann, wenn sie ihr wahres Gesicht offen legen. Es geht Hrdlicka um den ungeschminkten Alltag des Menschen, um abgründige Tiefen wie um seine Gipfel. Indem er das, was er dort vorfindet schonungslos wiedergibt, zeigt er das Wahre und Wirkliche menschlichen Lebens. In gewisser Weise sind alle Werke dieses Wiener Künstlers von einem existenziellen Ernst getragen. Es ist Kunst aus Anteilnahme und Einfühlung. Es ist somit politische Kunst, die Kunst eines engagierten Sozialisten, der sich beharrlich weigert, die Welt, so wie sie ist, einfach zu akzeptieren.
Dieser Artikel zielt darauf ab, einen Überblick über das Werk dieses so bedeutenden Künstlers zu geben. Einige zu thematischen Blöcken zusammengefasste Hauptwerke wurden ausgesucht, um ein möglichst breites Spektrum seines Schaffens vorzustellen.
1. Die Darstellung von Gewalt anhand religiöser Motive
Der Atheist Hrdlicka findet seine ikonographischen Anregungen ebenso in der Zeitgeschichte und im Alltag, wie in der mythologischen und religiösen Überlieferung. In seinem 1984 herausgegebenen Band "Schaustellungen", in dem er unter anderem eigene Arbeiten kommentiert, schrieb Hrdlicka, dass "sein Zugang zur Religion in erster Linie Interesse an der Bibel ist" (1984, S. 113).
Der Künstler weiß um die Nähe seiner Kunstauffassung zu zentralen theologischen Anliegen. So stellt er nicht von ungefähr Kunst und Religion nebeneinander; am programmatischsten wohl in den beiden Sätzen: "Alle Macht in der Kunst geht vom Fleische aus!" Und: "Alle Macht in der Religion geht vom Fleische aus!" (Hrdlicka, Alfred; Weber, Carmen Sylvia (Hrsg.), 2008, S. 121). In dieser Nachbarschaft weist Hrdlicka dem Fleisch in der Religion die gleiche Stellung zu wie in der Kunst. Und in der Tat, vom Fleisch ist vielfältig die Rede in der Bibel, der Zahl nach über 400 Mal.
Atheisten zog es immer wieder zu christlichen Themen, zur Bibel und ihren Urbildern von Brudermord, geschundenen Menschen und geschändeter Menschlichkeit. "Die Bibel ist einfach ein großartiges Buch", wiederholte Hrdlicka in Interviews.
1.1 Beschreibung
1.1.1 "Der Gekreuzigte" (1959) bzw. "Kreuzigungsgruppe"
Das erste Werk, auf das nun näher eingegangen wird, ist ein Frühwerk von 1959 und zeigt die expressionistischen Prinzipien im Werk Hrdlickas. Zu sehen ist ein Torso aus weißem Marmor, dem Arme und Beine fehlen. Der Rumpf zeichnet sich durch deformierte Gestaltung aus. Er ist unnatürlich dünn, die Bauchgegend ist unnatürlich in die Länge gezogen. Die Rippen treten deutlich nach vorne wie bei einem völlig abgemagerten Körper. Von seinen Armen sind lediglich kleine Stümpfe zu erkennen, die eine Verlängerung der Schultern bilden und die Ansätze der Oberarme andeuten. Ähnlich ist es mit den Beinen, von denen nur kurze Stümpfe etwa bis zur Hälfte der Oberschenkel reichen. Sein linker Oberschenkel ist etwas länger als der rechte, so dass sich eine Asymmetrie ergibt. Auch der Kopf ist nur torsohaft angedeutet. Ein Gesicht ist nicht zu erkennen, es scheint sogar eher so, als ob nur eine Hälfte des Kopfes dargestellt ist.
Der Torso wird von einer Eisenstange getragen und ist mit dieser auf einem Steinsockel befestigt.
1.1.2 Der Torso
Der Torso als Kunstprinzip ist zentral im Werk Hrdlickas und verdient deshalb hier einige Worte. Wie Dietrich Schubert in seinen 2007 herausgebrachten Beiträgen zu Hrdlickas Werk betont, war das Gestaltungsprinzip des Torsos seit Rodin eine Signatur der "Modernité". Diejenigen Bildhauer, die bewusst die expressive menschliche Figur als Ausdrucksträger bevorzugten - wie Henry Moore ("Krieger" 1952, Kunsthalle Mannheim), Alberto Giacometti, Waldemar Otto, Richard Heß ("Martyrium" 1996) und natürlich Hrdlicka ("Marsyas II" 1963/64) - schufen ihre stärksten Werke in der Torso-Form, der durch Gewalt deformierten Leiber. Damit bezeichneten sie, natürlich in signifikanten Themen, ihr Jahrhundert als das "Jahrhundert der Wölfe" (Nadeshda Mandelstam), der sichtbaren und unsichtbaren Gewalt von Mensch zu Mensch, was uns wieder zurück zu einem der zentralen Themen im Werk Hrdlickas führt (cf. Schubert, 2007, S. 114). Der Torso also eignet sich hervorragend, um physische und psychische Extremzustände zu zeigen. In den Torsi Hrdlickas lassen sich Spuren der Gewalt erahnen, die in den Leib eingeschrieben sind.
Hrdlicka selbst bezeichnet den Torso als den "Brennpunkt seiner bildnerischen Arbeiten"; die Bildende Kunst liefert, laut Hrdlicka, nur eine "torsohafte Bilderwelt".
1.1.3 Die Figur des Christus
Für Hrdlicka ist Christus das Paradigma des Leidens schlechthin, dessen Leiden auch für unsere Zeit symbolisch einsteht. Hrdlicka sagt: "Gott ist das Ebenbild des Menschen und nicht umgekehrt" (Hrdlicka, 1984, S. 64). Für Hrdlicka spiegelt und bündelt das Leid, das Christi auf sich nahm, die end- und sinnlosen Menschheitsopfer. Natürlich ist es auch die außerordentliche Dramatik der Passion Jesu, die Hrdlicka fesselt. Es ist die Passion eines Menschen, dessen passiver Widerstand am Ende über alle Bosheit und Menschenschinderei triumphiert. Christus ist für ihn ein Mann des Widerstandes, die Personifizierung des Widerstandes ohne Gewalt.
Außerdem äußert sich Hrdlicka folgendermaßen über Christus: "Die Figur Christi ist für mich die Figur eines Verfolgten..., eine KZ-Figur. Sie ist eine Märtyrerfigur, die für eine bestimmte Gesinnung steht, sie ist ein Symbol für das Märtyrertum." (Mennekes, 1987, S. 16).
Die Figur des politischen Märtyrers steht Hrdlicka sehr nahe, da er sie immer im Zusammenhang mit den Märtyrern der Kirche sieht. Diese Vermischung von politischen und religiösen Themen ist ganz charakteristisch für Hrdlicka.
Der "Gekreuzigte" wurde in den 60er Jahren durch zwei Schächer ergänzt, so dass alle drei Steinskulpturen eine Kreuzigungsgruppe bilden. Alle drei sind mit Eisenstangen auf Sockeln befestigt.
Der "Linke Schächer" entstand im Jahr 1962 aus rötlichem Untersberger Marmor und zeigt ebenfalls einen Torso, dessen Gesicht und Beine allerdings ausgeführt sind. Ihm fehlen lediglich die Arme. Sein Pendant, der "Rechte Schächer" von 1962/63 ist aus weißem, jugoslawischem Kalkstein gefertigt und zeigt einen sehr gedrungenen Körper; ebenfalls einen Torso. Mit dieser Kreuzigungsgruppe sorgte er auf der Biennale in Venedig im Jahre 1964 für Furore und erreichte somit gleichzeitig seinen internationalen Durchbruch.
1.2 Beschreibung der Radierung "Samsons Blendung" (1961)
Eine weiteres Beispiel, das uns die Gewalt vor allem in ihrer physischen Dimension vor Augen führt, ist die Radierung "Samsons Blendung".
Zu sehen ist Samson, wie er von vier Philistern zu Boden gedrückt daliegt. Die Szene zeigt Samsons Ohnmacht und die Kaltblütigkeit der Philister. Samsons Beine befinden sich in der Luft. Sein rechtes Bein wird von dem stehenden Philister ganz rechts umschlossen. Einen weiteren sehen wir, wie er sich zwischen die Beine Samsons gekniet hat und dessen Oberkörper zu Boden drückt. Der dritte Philister befindet sich links von seinem Kollegen, ebenfalls am Boden; er ist dabei, mit einem Dolch das linke Auge von Samson auszustechen. Der vierte und letzte Philister ganz links scheint nicht ins Geschehen involviert zu sein. Er blickt nach rechts.
Wenn man die Beleuchtung näher betrachtet, fällt auf, wie das Licht von links vorne nach rechts hinten immer schwächer wird. Die hellste Stelle ist somit das Gesicht Samsons und verliert sich in Richtung Hintergrund.
1.2.1 Interpretation
Der Zyklus "Samson" entstand wie die meisten der Werke Hrdlickas mit religiöser Thematik in erster Linie aus dem Interesse an der Fabel und der Situation der handelnden Personen. "Ich konzentriere mich vor allem auf den Handlungsablauf der Bibel, auf den roten Faden." (Hrdlicka, 1984, S. 64).
Die Erzählung folgt dem "Buch der Richter" des Alten Testamentes, Kapitel 13-16, und erzählt von Samson, einem der Richter Israels, vom Stamm der Nasiräer. Der Legende nach waren diese von Gott mit wunderbarer Kraft ausgestattet und konnten so im Kampf gegen die Philister große Heldentaten vollbringen. Ihre Kraft erhielten sie durch das Gelübde, sich alkoholischer Getränke und unreiner Speisen zu enthalten sowie sich das Haupthaar wachsen zu lassen. Als Samson nach Gaza kam, nutzten die Pharisäer seine Schwäche für die Kurtisane Dalila, die ihn dazu brachte, sein Geheimnis preiszugeben und - von Wein betäubt - einzuschlafen. Nun konnte Samson überwältigt werden. Man stach ihm die Augen aus, er wurde gefangen genommen und ins Gefängnis gesteckt. Dort wuchsen ihm seine abgeschnittenen Haare nach, er gewann seine Wunderkraft wieder. Als er bei einer Festveranstaltung vorgeführt wurde, brachte er den Tempel zum Einsturz und begrub Tausende Philister und sich unter den Trümmern.
Zu der biblischen Historie um Samson und Dalila hat Hrdlicka ganze acht Radierungen geschaffen. Zu sehen ist die Szene, auf der der handlungsmäßige Akzent liegt: auf der Blendung des Titelhelden.
Drastik und Anschaulichkeit bei der Darstellung von Gewalt treten nicht erst mit Hrdlicka auf den Plan. Im Gegenteil, auch Hrdlickas veristische Gewaltdarstellungen haben ihre Vorbilder. Einer dieser berühmten Vorbilder ist zweifelsohne Caravaggio. Von diesem stammt die wohl bekannteste Darstellung von Judith und Holofernes. Anders als bis dahin üblich gewesen, zeigt Caravaggios Gemälde die Enthauptung des Holofernes in ihrem schrecklichen Vollzug. Caravaggio will den Betrachter nicht vor vollendete Tatsachen stellen, sondern lässt ihn die Bluttat hautnah miterleben. Der unerhörte Verismus der Darstellung ist von geradezu erschütternder Unmittelbarkeit. Der Betrachter wird also zum direkten Zeugen einer Enthauptung.
Ein weiterer Vorreiter in Sachen Gewaltdarstellung ist Rembrandt. Mit "Der Triumph der Dalila" von 1636 ist Rembrandt ein Werk gelungen, welches der Dramatik und erschreckenden Unmittelbarkeit von Caravaggios Gemälde in nichts nachsteht. Auch Rembrandt vermochte eine solche Gewaltszene in äußerster Konsequenz und Schonungslosigkeit darzustellen. Dabei ist wichtig, dass in beiden Werken der physische Kampf zwischen Samson und den Philistern im Zentrum steht. Beiden Künstlern ist es wichtig, die körperliche Auseinandersetzung zwischen Samson und seinen Feinden in ihrer gewaltsamen Handgreiflichkeit zu präsentieren. Sehr wahrscheinlich ist Samsons angewinkeltes rechtes Bein ein Zitat aus Rembrandts Gemälde.
1.2.2 Technik der Druckgraphik
Als Ergänzung zum zuletzt erläuterten Werk soll in diesem Kapitel auf die Technik der Druckgraphik und Hrdlickas Umgang mit der Graphik eingegangen werden.
Den ersten Kontakt zum Medium Druckgraphik bekam Alfred Hrdlicka bald nach seinem Eintritt in die Wiener Akademie der bildenden Künste (1945/46). Seine erste Radierung stammt aus dem Jahr 1947, und aus den folgenden Jahren sind zumindest Einzelabzüge verschiedener Arbeiten erhalten.
Die Dimension des druckgraphischen Werkes von Hrdlicka ist beeindruckend und man fragt sich zu Recht, was den Bildhauer, Zeichner und Maler zu einem solchen Umfang bewogen haben könnte.
In einem Brief an den Stuttgarter Kunsthändler Freerk Valentien äußerte sich Hrdlicka wie folgt: "[...] auf der Suche nach dem persönlichen Einstieg bin ich in ein Labyrinth geraten. Welcher künstlerischen Technik sollte ich mich bedienen? Die Radierung ist zweifelsohne das geeignete Medium dafür, doch war die Uferlosigkeit des Themas mehr Hemmschuh als Ansporn, alles, was ich gelesen und mir überlegt habe, auf 12 oder 16 Platten festzuhalten. Die flüchtige Skizze auf Papier schien mir anfangs besser geeignet als das verbissene Ätzen, Schaben und Kratzen. Andererseits habe ich sozusagen ein natürliches Misstrauen gegen die Zeichnung, weil ihr visueller Reiz mich alles andere als beflügelt...". Interessant ist hier das Misstrauen gegenüber dem, das ihm zu leicht von der Hand geht. Allerdings ist die Radierung, was die Widerstandsfähigkeit des Materials angeht, der Bildhauerei wesentlich näher als die Zeichnung. Anders als Leinwand oder Zeichenpapier enthält die Druckplatte als Untergrund ein Geheimnis und der Künstler ist weitaus mehr gefordert, seine Imaginationsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Da ist einerseits der spätere Abzug, der seitenverkehrt erscheint, andererseits das komplizierte Vermischen verschiedener Techniken. Letztes erfordert enormes handwerkliches Können.
Hrdlicka selbst bringt den Unterschied zwischen Bildhauerei und Graphik auf den Punkt, indem er sagt: "Solange ich ein Thema in seiner Generallinie, seiner ganzen Handlungsbreite verfolge, lässt sich das natürlich viel besser mit den Mitteln der Graphik ausdrücken. Die Quintessenz davon ist dann die Plastik." (Schubert, 2007, S. 91).
2. Der mythologische Mensch
2.1 "Marsyas II" (1963 / 64): der zerschundene Körper
Ein weiterer thematischer Block sind die mythologischen Szenen, zu denen die Erzählungen um Marsyas gehören.
"Marsyas II" (1963 / 64) ist Bestandteil des Themenkreises "Fleischmarkthallengeschöpf", besteht aus rötlichem Untersberger Marmor und hat eine Größe von 233 x 39 x 35 cm.
Die Skulptur ist als hängende Figur konzipiert, entstanden aus einer zerbrochenen Marmorsäule und befestigt an einer Eisenhalterung (ähnlich der des "Gekreuzigten"). Der erste Zustand besaß noch beide Arme, die Hrdlicka 1965 wegschlug. Heute befindet sich die Skulptur im Besitz der Staatsgalerie Stuttgart, wo sie leider schon seit Jahren im Depot aufbewahrt wird.
Ähnlich dem "Gekreuzigten" zeigt der nackte, auf dem Kopf hängende Körper des Marsyas deformierte Formen. Unbewusst mag Hrdlicka sich hier an schmerzvoll gedrehte Figuren des Manierismus inspiriert haben. Wie bei allen Darstellungen des Gewalttätigen betont Hrdlicka hier die Körperlichkeit überhaupt. Die Figur hat große, klobige und geäderte Füße. Ihre Beine sind verrenkt und die Kniescheiben betont. Unter einem herunterhängenden Glied wölbt sich ein kleiner Bauch. Die abgeschlagenen Arme bewirken, dass der runde Kopf mit dem toten Gesicht und der wie bei Schlachtvieh heraushängenden Zunge den Ausdruck kreatürlichen Leidens vermittelt. An der Stelle der Arme wird zudem durch gröbere Behandlung des Steins der Eindruck herausgerissenen Fleisches oder abgezogener Haut suggeriert.
Die anatomischen Deformierungen verkörpern den inneren qualvollen Schmerz des Opfers. Durch die Anspannung und die scheinbare Auskugelung des Beckenknochens werden die Kraftanstrengung und die Ohnmachtnähe des Protagonisten mitfühlbar. Der Effekt der Zerstörung wird durch die weggeschlagenen Arme intensiviert.
2.2 Der Mythos um Marsyas: der von Apollon bestrafte Musiker
Athene erfand die Flöte und eine bestimmte Melodie, die die Totenklage der Euryale, der Schwester Medusas, nachahmt. Als sie aber beim Spiel ihr Gesicht in einem Wasser gespiegelt sah und bemerkte, dass das Spielen des Instruments ihr Gesicht entstellte, warf sie die Flöte fort. Marsyas, der als Begleiter der rasenden und Trommeln schlagenden Kybele durch Phrygien zog, fand das Instrument, erlernte dessen Spiel und war schließlich so von seiner Kunst überzeugt, dass er Apollon zum Wettkampf forderte. Die Musen, die als Schiedsrichter bestimmt wurden, entschieden sich für das Kitharaspiel des Gottes. Apollon, der über den Hochmut Marysas erzürnt war, hängte diesen zur Strafe an einer Fichte (dem heiligen Baum der Kybele) auf. Marsyas wurde bei lebendigem Leib die Haut abgezogen. Aus seinem Blut entsprang der gleichnamige Fluss Marsyas.
2.3 Interpretation des erniedrigten Widerständlers
Der torsierte Stein der Marsyas-Figur zeigt die Folgen von Folter ganz unmittelbar. Es geht allerdings nicht bloß um menschliche Gewaltanwendung allgemein. Mit der Darstellung unvorstellbarer leiblicher Qualen thematisiert Hrdlicka gleichfalls Unsichtbares, nämlich das Ideologische als Grund für die Gewalt.
Indem Hrdlicka "Marsyas II" weder verklärt noch ästhetisch untermauert, konfrontiert er den Betrachter mit einer grausamen Rohheit und Brutalität. Bei seiner Darstellung werden Mensch und Vieh in ihrer Handhabung gleichgesetzt. Marsyas ist für Hrdlicka somit Symbolfigur erlittener Grausamkeit, sowie der Inbegriff fleischlicher Verletzlichkeit, ein Pseudonym des Geschundenen.
Hrdlickas Darstellung ruft zum Widerstand gegen Autoritäten, die Macht missbrauchen und Menschen Leid zufügen, sowie gegen die politische Propagierung des Übermenschen.
Besonders im Vergleich mit hellenistischen Darstellungen des gleichen Themas, die sich einer idealisierten Anatomie bedienen, fällt auf, worum es Hrdlicka geht: Seine Version des Marsyas ist auf die äußere und innere Darstellung des körperlichen Schmerzes aus und verleiht seiner Hauptfigur ein eher den Impulsen der Natur hingegebenes animalisches Dasein. Hrdlickas Marsyas, Pseudonym für das Leid der kompletten Menschheit, wird somit zum Individuum und tritt an den Betrachter heran. Schon das Motiv des Torsos - wie oben dargestellt - mit seinen Amputationen und Verwundungen steht für die Grausamkeiten von Menschen gegen Menschen. Hrdlickas Ziel ist es, eine unmittelbare Nähe zum Betrachter zu schaffen, sprich es geht um Individuen statt sich in Symbolik verlierende Kunst.
Marsyas ist für Hrdlicka obgleich in der antiken Sage Halbgott, ein Mann des Volkes, der die Obrigkeit, in der Sage also die Gottheit, nicht akzeptiert, sondern herausfordert. Gezeigt wird mit "Marsyas II" der Prototyp des Widerständlers, der für seine Auflehnung gefoltert und ermordet wird - erniedrigt zudem dadurch, dass er wie Schlachtvieh kopfüber aufgehängt wird.
Der Vollständigkeit halber muss ergänzt werden, dass es zwei weitere Marsyas-Darstellung Hrdlickas gibt: "Marsyas I" (1964) und "Marsyas III" (1972).
Die Bildhauerei stellt für Hrdlicka eine Form der Häutung des Rohmaterials dar, in seinem Fall also des Steines, der Künstler ist somit Schänder der Skulptur. Die Gestalt wird demnach verletzt, indem sie geschaffen wird. Hrdlicka selbst äußerte einmal: "Das, was Apollo Marsyas angetan hat, habe ich meinen Skulpturen angetan, sie geschunden, gehäutet, zu Tode gearbeitet." (Hrdlicka, 1981, S. 12).
3. Gewalt und Sexualität als motivische Einheit
3.1 Beschreibung der Radierung "Judith und Holofernes" (1962)
In der herausragenden Radierung "Judith und Holofernes" von 1962 sind Judith und Holofernes in halb gewaltsamer, halb sexueller Interaktion zu sehen. Judith beugt sich rechtwinklig über Holofernes. Ihre linke Hand dagegen hält einen Dolch, dessen Klinge für den Einsatz bereit über den Rücken der Frau erhoben ist. In den zwischen Beinen und Körper entstehenden Raum ist die Figur des Holofernes kompositorisch eingepasst. Mit vorgestrecktem Oberkörper hält dieser die Beine Judiths fest umschlungen. Tief graben sich seine Finger in die kräftigen Oberschenkel der Frau. Gleichzeitig hält er seinen Kopf seitlich in den Schoß der Frau gepresst. Die rechte Gesichtshälfte des Mannes wird von ihrem gewölbten Schenkel teilweise verdeckt.
Der Kopf der weiblichen Figur ist in hartem Profil wiedergegeben. Das Kinn derselben ist dabei weit nach vorne gereckt und ihre Wangen scheinen aufgeblasen. Starr sind ihre Augen nach vorne gerichtet. Hals und Nacken verschwinden völlig hinter ihren vorgezogenen Schultern. Zwischen den Hälften ihres Gesäßes ist Schambehaarung sichtbar. Nur an den Füßen trägt sie hochhackige Stöckelschuhe. Die Spitze ihres linken Schuhes ist dabei zwischen die Fußzehen des Mannes geschoben.
Im Gegensatz zu demjenigen der Frau, ist das Gesicht des Mannes nicht im Profil wiedergeben. Sein Gesicht präsentiert sich stattdessen nahezu parallel zur Bildfläche. Darin sind eine in Falten gelegte Stirn, zwei leicht schielende Augen und ein lüstern grinsender Mund zu sehen. Eine Reihe von bleckenden Zähnen ist zwischen den Lippen sichtbar.
Die Durchgestaltung der Radierung nimmt von links oben nach rechts unten deutlich zu. Im linken Teil der Radierung bleiben große Flächen völlig unbearbeitet. Nur einzelne, hier noch unterscheidbare Linien sind zu sehen. Im rechten Teil der Radierung jedoch verdichten sich diese allmählich zu einem entwirrbaren Netz. Der äußerste rechte Streifen der Radierung ist völlig von diesem nervösen Linien- und Strichgeflecht ausgefüllt.
3.2 Interpretation
Die Erzählung um Judith und Holofernes gehört seit langem zum festen Stoffrepertoire der abendländischen Kunst. Tausendfach ist diese altbekannte biblische Historie bearbeitet worden. Nicht ohne Grund wählte auch Hrdlicka aus dem schier unendlichen Stofffundus der Bibel gerade diese Erzählung. Sie enthält das Moment physischer Gewalt, Brutalität und Grausamkeit.
Holofernes ist Oberbefehlshaber des Heeres unter König Nebukadnezzar - ein äußerst erfolgreicher Feldherr. Volk um Volk erobern seine Streitkräfte, einzig Israel leistet erbitterten Widerstand. Betulia, das Dorf, in dem sich die Israeliten und Israelitinnen verschanzen, wird belagert und von der Wasserversorgung abgeschnitten. Nach 34 Tagen steht es vor der Kapitulation, die durch Judith im letzten Moment verhindert wird. Sie betört mit ihrer Schönheit Holofernes und verschafft sich Zutritt zu seinem Zelt. Wohl um sich für die Liebesnacht, die ihm winkt, noch etwas Mut anzutrinken, schaut der Feldherr so tief ins Glas, dass er einschläft. Da enthauptet ihn die Schöne mit seinem eigenen Schwert. Dank diesem Mord gelingt es tags darauf den Israeliten, das feindliche Heer in die Flucht zu schlagen.
In der Radierung "Judith und Holofernes" Hrdlickas spielt zudem das Motiv der männermordenden Frau eine Rolle. Hrdlickas Auseinandersetzung mit dem Thema beschäftigt sich jedoch nicht nur auf die biblischen Radierungen der 60er Jahre. Auch in den 80er Jahren beschäftigt er sich erneut mit dieser für ihn so wichtigen Figur. Hier taucht sie in der Person Charlotte Corday wieder auf, der Mörderin des französischen Radikalrevolutionärs Jean Paul Marat. Es ist bezeichnend, dass keine der vielen männermordenden Frauen Hrdlickas Ergebnis seiner künstlerischen Phantasie sind. Er fand Inspiration einerseits in den Erzählungen des Alten und Neuen Testaments, andererseits in historischen Kriminalfällen. Auch hier fordert er Bezug zur Wirklichkeit, was Zeugnis seiner veristischen Mentalität ablegt. Weshalb sich Hrdlicka diesem Motiv hingab, ist nicht schwer zu beantworten. In der Figur der männermordenden Frau bilden Gewalt und Sexualität eine motivische Einheit. Gerade die Wechselwirkungen von Gewalt und Sexualität interessierten Hrdlicka. Er zeigt, wie sich sexuelle Lust zu gewaltsamer Triebhaftigkeit steigern kann.
Sicher ist, Hrdlickas biblische Radierungen der 60er Jahre erlauben keine klare Grenzziehung zwischen den Bereichen Gewalt und Sexualität. Auch in der Radierung "Judith und Holofernes" ist nur schwer zu entscheiden, ob eine Gewalthandlung oder ein Sexualakt zu sehen ist, ob die Figuren kämpfen oder kopulieren. Vor allem die Gestik Judiths ist in höchstem Maße zweideutig. Während sie mit der Rechten nach dem Glied von Holofernes greift, hält sie mit der Linken die Klinge fest umschlossen, mit welchem sie diesen ermorden wird.
Die Aktualität der Szene erreicht Hrdlicka mit dem kleinen Attribut der Stöckelschuhe, die auf die heutige Zeit verweisen. Somit ist die Zeitbezogenheit, auf die Hrdlicka stets großen Wert legt, gegeben.
4. Die Darstellung der sich auflehnenden Masse
4.1 "Friedrich-Engels-Denkmal" (1978-81)
Die gleichsam dicht geballte, aus dem Marmorblock herausgemeißelte Figurengruppe hat eine Höhe von 3,20 Meter.
Sie zeigt uns überlebensgroß nackte, gefesselte Gestalten, die sich unter ihrer Fesselung aus wuchtigen Ketten aufbäumen. Ein ein Meter hoher Granitblock bildet den Sockel. Das Werk steht im parkähnlichen Garten des Engels-Hauses in Wuppertal. Dies gibt dem Denkmal den notwendigen Freiraum, der für eine distanzierte Betrachtung und für die Wirkung essentiell ist.
Ohne einzelne Figuren im engeren naturalistischen Sinn nachrechnen zu wollen, kann man die Gruppe so beschreiben, dass sie aus etwa drei bis vier Männergestalten und weiteren Torsi besteht, deren Proportionen nicht naturalistisch präzise wiedergegeben sind - manche Einzelteile hingegen sind es.
Nähert man sich dem Werk vom Eingang des Engels-Hauses her, so erkennt man in der rechten Längsseite einen mächtigen Sitzenden, dessen angewinkeltes Knie tragende Funktion hat und dessen starke Linke nach oben führt und Ketten trägt. Davor drängt ein wuchtiger Torso-Arm, eine Linke, aus dem Blockinneren; diese ist ungekettet und greift nach links herum - wie der Betrachter auch gehen müsste - an die Ketten der anderen, sie packend. In der Schmalseite und weiter schräg, nach links gehend, sieht man vier Knie, die zwei Gestalten tragen: Ein schlanker junger Mann wächst aus dem rohen Steinblock. Sein Kopf wurde zur Faust, die vorragt. Und links neben ihm sieht der Betrachter einen hochaufgerichteten, kräftigen Mann, dessen Leib von einem tiefen Schmerz gespannt sich aufbäumt. Die Bauchpartie ist stark eingezogen - künstlerisch von höchster Qualität, in der Tradition von Michelangelo. Seine Linke aber scheint die Faust zu sein, die dem Jüngeren neben ihm aus dem Kopfbereich vorstößt. Kopf (Idee) wird zur Faust, die zur Tat drängt. Dieses Prinzip kann als Gestaltmutation bezeichnet werden.
Die herabhängende Rechte dieses Schmerzenmannes ist am schmalen Handgelenk mit einer starken Schelle gekettet. Dorthin quasi zur Rückseite der Gruppe, greift um den Sitzenden der Südseite ein mächtiger linker Unterarm, der wiederum dicke Ketten trägt. Überdimensionale Füße stützen an der Rückseite die sich Aufbäumenden.
Für den Katalog der Ausstellung seiner Skulpturen in der Wiener Orangerie vom Mai 1981 schrieb der Bildhauer über die in Arbeit befindliche Gruppe für Friedrich Engels:
Masse in einem Block herzustellen, ist ein schwieriges Unterfangen, doch ich hatte nicht die Absicht, à la Rodin Einzelfiguren zueinander zu stellen (Bürger von Calais). Das plastische Spiel vom Engels-Denkmal ist ein Verwirrungsspiel, beruhend auf dem Prinzip wechselnder Proportionen und Überschneidungen, denn innerhalb einer Masse ist der Einzelne nur torsohaft wahrnehmbar. Hier kommt das Prinzip des "torsohaften Brennpunkts" voll zum Tragen. Auf den ersten Blick kann niemand sagen, wie viel Figuren es eigentlich sind, nie stimmt die Anzahl von Gliedmaßen und Körper überein. Die starke Linke, die aus dem Zentrum hervorwächst, wirkt trotzdem keineswegs aufgesetzt, obwohl man sie keiner der Figuren zuordnen kann. (Hrdlicka, 1981)
4.2 Werkgenese
Die Stadt Wuppertal schlug vor, mit den zur Verfügung stehenden Mitteln von 130.000 Mark eine Plastik aufstellen zu lassen. Man beschloss, sich auf den Engels-Garten zu konzentrieren. Bei der Auftragsvergabe entschied man sich für Hrdlicka und war von seinen daraufhin zugesandten Entwurfsskizzen, die ein Buch zeigen, aus dem die Masse der Aufständischen heraustreten, sehr angetan.
Aufgrund von Schwierigkeiten bei der Suche nach einem geeigneten Stein, zog sich der Beginn der Arbeit an diesem Denkmal hin. Über Nacht entschloss sich Hrdlicka dann eine "Rundherum-Plastik" anzufertigen.
Nach langem Hin- und Her bezüglich der Bezahlung (,die Hrdlicka an der Badewanne von Joseph Beuys und den Metallblöcken von Richard Serra maß), wurde das Denkmal im Juli 1981 im Engels-Garten aufgestellt. Man erkannte in Wuppertal letztendlich doch noch, dass Hrdlickas Drei-Jahres-Arbeit mehr wert war, als ursprünglich veranschlagt und so erhielt der Bildhauer 300.000 Mark Honorar, dabei wurden ihm zusätzlich die Materialkosten erstattet.
4.3 Interpretation
Hrdlicka beschäftigte sich schon privat lange vor der Auftragsvergabe mit den Büchern Engels. Sie halfen ihm, zu der letztendlichen Werkidee zu gelangen. In den anschließend ausgeführten Entwurfsskizzen nehmen seine Ideen Gestalt an und vermitteln einen ersten Eindruck. Danach geht er direkt zum Stein über, den er in der Technik der "taille directe" bearbeitet. Dabei verzichtet er auf die sonst üblichen Hilfen durch Steinmetzen oder Maschinen.
Hrdlicka ist in seiner Kunst Friedrich Engels sehr nahe, denn wie dieser die Unterdrückung der Arbeiterklasse kritisierte, so kritisiert Hrdlicka die Gewalt am Opfer und thematisierte die Auflehnung gegen die Obrigkeit, wie etwa im Marsyas II (siehe Kapitel 2.3).
Der Grundgedanke bildet das Motto des "Kommunistischen Manifestes": "Ihr habt nichts zu verlieren als Eure Ketten..." (Schubert, 2007, S. 20). Verzweiflung, körperliche Kraft und Folgen der Ausbeutung sollen, wie in der Erfahrung und im historischen Schicksal der Arbeiterklasse, unmittelbar erscheinen.
Die Darstellung der Beine bildet eine Aufwärtsbewegung. Das zum Sitzen wiedergegebene Bein als Bein mit dem geringsten Widerstand steht für die Unterdrückung, während das Bein links daneben sich abzudrücken versucht und damit einen Aufbruch der Masse andeutet. In der chaotischen Darstellung im oberen Teil der Skulptur kommt der Tumult einer Menschenmenge zum Ausdruck.
Die linke am weitesten ausgeführte Figur mit den extrem vortretenden Rippen drückt in ihrer deformierten Körperdarstellung den Schmerz aus.
Weiter auffallend ist die Faust, die im Wuppertaler Denkmal Friedrich Engels gleich mehrmals vorkommt. Hierbei ist es immer die linke Hand, die zur Faust geballt wird. Sie deutet die ungeheuerliche Kraft an, mit der sich die Arbeiter zu wehren vermögen. Der überdimensionierte Arm: "Das ist", interpretiert Hrdlicka, "die starke Linke des Proletariats, die Hoffnung, die immer bleibt in Zeiten größter Unterdrückung, die Kraft der Massen, die für mich niemals eine Phrase oder ein Gegenstand von Resignation gewesen ist." (Hiepe, 1980, S. 561). Während also die Hand beziehungsweise die Faust das handelnde Element darstellt, wird in der Leibessprache die Qual der Versklavung verkörpert.
Mit Hilfe der Fesseln findet Hrdlicka ein Gleichgewicht zwischen Kraft und Verwundung. So ist der Gesamteindruck zugleich einheitlich und doch konfus.
Dietrich Schubert betont, dass das Engels-Denkmal mit zeitlos wirkender Nacktheit und Gekettetheit, die für andere Zeiten wirksam zu stehen vermag, die Gewalt und die Gräuel von Gestern und Heute zeigt. Im Jahre 1972 sagt Hrdlicka in Essen bei einer Künstler-Selbstdarstellung: "Kunst muss Zeuge ihrer Zeit sein". Weil er seine Geketteten im Block für das Gedenken an Friedrich Engels nicht als historisches Denkmal verengte, sondern ihnen durch die Anschauung des Schmerzes und der Hoffnung in natürlicher Nacktheit die Dimension des Überzeitlichen gab, gelingt es diesem Werk für die Epoche um 1850 und für unsere Zeit Zeugnis abzulegen.
5. Zusammenfassung
Die Kunst von Alfred Hrdlicka hinterfragt und klagt an, sie zwingt zum Nachdenken und Überdenken. Sie will, dass der Betrachter reagiert, Stellung nimmt, teilnimmt. Hrdlicka versteht sein Werk als beharrliche Einladung, sich Themen zu stellen, denen nicht auszuweichen ist.
In einem Interview vom Herbst 1980 fasste der Bildhauer seine Überzeugungen als Künstler unserer Zeit und als Realist mit den Worten zusammen: "Was ich an der abstrakten Kunst hasse, ist, dass sie eine völlig auslegbare Kunst ist. Ich bin gegen die Auslegbarkeit [...] (nannte Mondrian) [...]. Die Kunst kann sich nur durch den Menschen ausdrücken. Ihr Thema ist das menschliche Schicksal.".
Ein weiterer wichtiger Aspekt für die Kunst Hrdlickas ist seine Forderung, dass alle Kunst zeitbezogen sein müsse. Seit um 1960, seit "Marsyas I" und "Marsyas II", hat Hrdlicka großen Wert darauf gelegt, dass er - in Opposition zum herrschenden Kunstbetrieb und zur "Kunstbetriebskunst " (wie er dies nannte) - in unzeitgemäßer Technik des Meißelns unzeitgemäße Werke schafft, die aber zeitgemäße, extreme Existenzen gestalten. Ganz im Sinne von Courbet und Daumier ("Il faut être de son temps") packt Hrdlicka immer wieder Inhalte unserer Zeit an: Themen der Gewalt, der Sexualität, der Unterdrückung etc.
Seine Stoffe versucht Hrdlicka in der Breite des Ereignishaften, in ihrer Fülle von Gestalten und Aspekten, in ihrer ganzen Dichte und Gültigkeit primär mit den Mitteln der Zeichnung und der Graphik umzusetzen. Die Quintessenz davon ist dann - laut Hrdlicka - die Plastik. Es ist der permanente Totentanz des 20. Jahrhunderts, es ist - wie Ernst Fischer einmal sagte - das "Golgatha" des 20. Jahrhunderts, das Hrdlicka bildlich darstellt.
Abschließend bleibt noch auf die Verwandtschaft zwischen Hrdlicka und Dix hinzuweisen. Was Hrdlicka im Jahre 1974 über seinen Kunst-Herold Otto Dix schrieb - Dix mache uns wie kaum ein anderer das Ausgeliefertsein des Künstlers an seine Umwelt deutlich - trifft für Hrdlicka als Realist und Expressionist unserer Gegenwart ebenso zu (Schubert, 2007, S. 12). Hier wird die innere und teils äußere Verwandtschaft - primär zum Dix der zwanziger Jahre - sichtbar, die einen historischen Bogen verdeutlicht.
Wie Hrdlicka gestaltete Dix alles das, was er gesehen hat, weil er zeigen wollte, "dass es so ist... weil ich weiß, so ist das gewesen und nicht anders" (Dix). 1963 sagte Dix in einem Rückblick: "Ich musste das alles selber sehen. Ich bin so ein Realist, dass ich alles mit eigenen Augen sehen muss, um das zu bestätigen, dass es so ist... Ich bin eben ein Wirklichkeitsmensch!" (Schubert, 2007, S. 12).
Und auch Alfred Hrdlicka ist ein "Wirklichkeitsmensch", wenn er sagt: "Mir fällt nichts ein, mir fällt sehr viel auf." (Hrdlicka, 1974, S. 9). Er ist kein Träumer, er ist ein Zeichner und Bildhauer. Er ist wach, er beobachtet. Er spricht aus, was ihm auffällt.
6. Bibliographie
Buderath, Bernhard: Alfred Hrdlicka-Anatomien des Leids, Skulpturen, Plastiken, Gemälde, Graphik und Bühnenbilder, AK-Jahrhunderthalle Hoechst 1984, Stuttgart, Klett-Cotta 1984.
Hiepe, Richard: "Die starke Linke. Das Engels-Denkmal von Alfred Hrdlicka", in: Bildende Kunst (Berlin-Ost), Henschel-Verlag, Heft 11, 1980, S. 560-562.
Hrdlicka, Alfred: "Hrdlicka über sich selbst." In: Katalog Kestner-Gesellschaft zur Ausstellung vom 15. März bis 5. Mai 1974. Hannover, Kestner-Gesellschaft 1974.
Hrdlicka, Alfred, Habarta, Gerhard [Red.]: Alfred Hrdlicka - Das plastische Werk, Wien, Orangerie, Palais Auersperg, 1981.
Hrdlicka, Alfred: "Schaustellungen" - Bekenntnisse in Wort und Bild, München, Deutscher Taschenbuch-Verlag, 1984. Hrdlicka, Alfred; Weber, Carmen Sylvia (Hrsg.): Alfred Hrdlicka - Bildhauer, Maler, Zeichner, Katalog zur Ausstellung in der Kunsthalle Würth Schwäbisch Hall, 19.01.-29.06.2008, Künzelsau, Swiridoff, 2008.
Hüttel, Richard: "Alfred Hrdlicka und Pier Paolo Pasolini-Abgründe zweier Freibeuter", in: Alfred Hrdlicka: Der Mensch ist ein Abgrund-Skulptur, Zeichnung, Grafik, Wittlich, Galerie Bose 1998.
Knieriem, Michael (Hrsg.): Die starke Linke des Alfred Hrdlicka, Wuppertal, Galerie & Ed.1 Hungerland, 1981.
Lewin, Michael (Hrsg.): Alfred Hrdlicka - Die Ästhetik des automatischen Faschismus, Essays und neue Schriften, Wien/Zürich, Essays im Europaverlag, 1989.
Mennekes, Friedhelm: Kein schlechtes Opium - Das Religiöse im Werk von Alfred Hrdlicka, Stuttgart, Verlag Kath.Bibelwerk 1987.
Rombold, Günter: "Naturalismus als Protest - Alfred Hrdlicka, die Bibel und die Realität von heute", in: Zeitschrift Kunst und Kirche, Jahrgang 1978, Linz, Springer 1978, S. 177-180.
Schubert, Dietrich: Alfred Hrdlicka. Beiträge zu seinem Werk, Worms, Werner 2007.
Biographie von Alfred Hrdlicka
Ich bin 1928 geboren, das gehört vielleicht auch noch dazu, in Wien. Ich habe die Hauptschule gemacht, das mit mittlerem Erfolg, und damit hätte sich die Sache eigentlich gehabt. Was für mich das Wesentliche ist, ist die Zeit, in der ich war, das heißt also, das Milieu und die Zeit als Ganzes. Die Zeit vom Zweiten Weltkrieg, die vierziger Jahre, in die meine Kindheit fällt, da war politisches Denken sehr gefährlich. Das ist auch der Grund, weshalb ich mich heute noch sehr für Politik interessiere. Politische Gesinnung ist nicht etwas, was man wechseln kann wie den Anzug oder der man beitreten kann wie einem Sportverein. Das ist auch etwas, was mich an der Kunst interessiert, dass Politik und Kunst zusammenhängen, wenn es auch am Anfang nicht so aussieht. (Hrdlicka, 1974, S.38)
So schreibt Alfred Hrdlicka in seinem autobiographischen Aufsatz Hrdlicka über sich selbst und man erfährt sogleich welche wichtige Position die Politik in seinem Leben und Werk einnimmt. Doch was kam nach der Kindheit? Nach einer zweieinhalbjährigen Zahntechnikerlehre fing er 1946 an, Malerei an der Akademie der Bildenden Künste Wien zu studieren. Seine Professoren waren Albert Paris Gütersloh und Josef Dobrowsky. Anschließend, im Jahr 1953, nahm er das Studium der Bildhauerei auf. Hier lernte er bei Fritz Wotruba, der ihn 1957 angesichts seiner Abschlussarbeit fragte, ob er ein zweiter Michelangelo werden wolle. Hrdlicka sucht den Kampf. Er ringt, altmodisch gesagt, mit dem Material. Augenfällig wird das bei seinen Skulpturen. Sie sind, wie zu Michelangelos Zeiten, aus einem einzigen Steinblock gehauen. Jeder Schlag ein Treffer. Man fragt sich zu Recht, wer das, außer ihm heute noch macht. 1960 fand seine erste Ausstellung "Skulptur, Malerei und Graphik" gemeinsam mit Fritz Martinz statt. Vier Jahre später, 1964, erhielt Hrdlicka internationale Bekanntheit, als er zusammen mit Herbert Boeckl Österreich auf der 32. Biennale in Venedig vertrat. 1966 erlebte Hrdlicka zum ersten Mal die Welt physisch kranker Menschen. Diese Begegnungen beeindruckten ihn in einem solchen Ausmaß, dass er sich mit dem Leid dieser Menschen, später mit Leid, Angst, Schmerz, Unterdrückung und der Bedrohung des Menschen schlechthin, künstlerisch beschäftigt. Hrdlicka hatte ab 1971 verschiedene Professuren inne, wie beispielsweise die Professur für Bildhauerei an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart oder die Professur an der Hochschule für Bildenden Künste in Hamburg. Von 1986 bis 1989 war er als Professor für Bildhauerei an der Universität der Künste in Berlin tätig und es folgte eine Berufung an die Universität für angewandte Kunst Wien. Heute lebt der Bildhauer mit seiner zweiten Frau Angelina Siegmeth in Wien.
Document d'accompagnement : Vergleich Hrdlickas Friedrich-Engels-Denkmal und Michelangelos Sklaven sowie Kentaurenschlacht
Comparaison entre une oeuvre du sculpteur autrichien Alfred Hrdlicka, un monument commémoratif en l'honneur de Friedrich Engels, et deux oeuvres du sculpteur de la Renaissance Michel-Ange.
"Sie wollen wohl ein zweiter Michelangelo werden!", war die Reaktion Fritz Wotrubas auf die Abschlussarbeit Hrdlickas im Jahre 1957. Dieses Zitat verdeutlicht die enge Beziehung Hrdlickas zum großen Renaissance-Meister. Seit seinem Frühwerk war Michelangelo eine wichtige Inspirationsquelle für Hrdlicka. Nicht nur thematisch - beide interessieren sich fast ausschließlich für die menschliche Figur -, sondern auch technisch: Hrdlicka arbeitet wie Michelangelo in "taille directe" also direkt am Steinblock, was bedeutet, dass die Figur in der Imagination des Künstlers Gestalt haben muss. Das "Friedrich-Engels-Denkmal" in Wuppertal bietet sich an, um einige Parallelen zwischen den beiden Bildhauern aufzuzeigen. Eventuell dienten die "Sklaven" Michelangelos sogar als Vorbild für seine Darstellung der Gefesselten. Den Sklaven ähnlich ist das Hervordringen einzelner Körperpartien aus dem grob behauenen Stein. Es scheint, als wollten sich die Figuren aus dem Stein befreien. Bei beiden Werken fällt das Interesse für muskulöse Körper auf, die kämpfen, miteinander ringen und sich in irgendeiner Art und Weise zu befreien versuchen. Weiter muss man sich bei der Skulptur Hrdlickas das Problem der Darstellung von Masse vergegenwärtigen. Es ist äußerst schwierig mehrere Personen in einer Einheit darzustellen. Hrdlicka sagte dazu:
[...] Wie mache ich aus so einem rohen Block auf engem Raum eine Masse? Ich gehe vom Zentrum aus und mache eine Masse, die unübersichtlich ist, rundherum, und man weiß nicht, wie viele Hände und wie viele Füße - ich habe also mit einem ganz seltsamen Trick der Unklarheit die Masse dargestellt. Ich habe also nicht eine Masse in der plastischen Anhäufung verschiedener Individualitäten wie bei Rodins Bürgern von Calais gemacht, [...]. (Knieriem, 1981, S. 24)
Dem Problem der Darstellung von Masse war auch Michelangelo in seinem Relief der "Kentaurenschlacht" von 1491/92 ausgesetzt. Ebenso wie beim "Friedrich-Engels-Denkmal" hat man auf Anhieb den Eindruck von Chaos und fragt sich bei beiden Werken, was denn überhaupt dargestellt ist und wie viele am Kampf Beteiligte zu sehen sind. In beiden Werken erkennt man stellenweise nur einzelne Körperteile, einen Rücken ohne die restliche Figur, einen Arm oder einen Kopf, von dem man nicht weiß, zu welchem Körper er gehört. Sowohl im Werk Hrdlickas als auch in dem von Michelangelo dominiert also eine Leibsprache in einer Synthese von Ausdrucksgesten und Zielgesten, der Leib als Primat und Wesenhaftes - und dabei wiederum fungieren die gefesselten Arme und Fäuste (bei Hrdlicka) und die starken Beine und großen Füße als Träger der oberen Teile. Es ist in beiden Werken das "natürliche Nackte", das die Qual der Unterdrückung und der Ausbeutung und zugleich die Zielgesten zur Befreiung zu tragen hat. Beide entschieden sich für die torsohafte Figur, um die "starke Physis" - wie Hrdlicka es nennt - anschaulich wirksam machen zu können (Schubert, 2007, S. 21). Und so sichern sich beide Werke auch den Aspekt der Überzeitlichkeit: Im Fall Hrdlickas stehen die Geketteten für die Lage der arbeitenden Klasse aus der Zeit um 1850, für die Unterdrückten des vorigen Jahrhunderts, und sind somit zugleich offen für die Wirkung und Rezeption in unserer Zeit. Im Falle Michelangelos ist zwar die Schlacht der Kentauren dargestellt, steht aber gleichermaßen für den körperlichen Kampf unter Menschen generell. So gelingt es also beiden Bildhauern, eine Synthese aus dem Besonderen und Allgemeinen herzustellen, die (nach Hegel) jedem wesentlichen Kunstwerk zu eigen sein muss, will es über die Grenzen seiner Zeit wirken (Schubert, 2007, S. 21).
Pour citer cette ressource :
Julia Klarmann, Alfred Hrdlicka: Überblick über das Werk des Wiener Bildhauers, La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), mars 2009. Consulté le 19/11/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/arts/peinture-et-sculpture/alfred-hrdlicka-yberblick-yber-das-werk-des-wiener-bildhauers