Der Bildhauer Ernst Barlach: die Kunst der Menschlichkeit
1. Einleitung: Ernst Barlach als Unterrichtsthema
Im Deutschunterricht wird Ernst Barlach oft im Zusammenhang mit seinem Engagement gegen den Krieg behandelt, im Kontext des dritten Reiches, während dem er wegen seiner Einstellung und seiner Kunst verfolgt wurde.
Diese Arbeit wird ihn unter einem anderen Aspekt vorstellen - abseits der zuvor beschriebenen biografischen und historischen Begebenheiten -, um den Künstler nicht zu vernachlässigen. Wobei es natürlich zu beachten gilt, dass Barlachs Biografie, die Rezeption seiner Kunst zur Zeit des Nationalsozialismus und seine Kunst selbst eng miteinander verbunden sind: Seine Schöpfungen zu verstehen kann dabei helfen, seine Rolle als Kriegsgegner und somit als Verfolgter nachvollziehen zu können.
Aus diesem Grund erscheint es wichtig, im Folgenden genauer auf sein Werk einzugehen: Denn Barlach, der in seinen Arbeiten in unvergleichlicher Weise dem menschlichen Wesen nachzuspüren und es zu visualisieren versuchte, gilt auch aufgrund seines individuellen und zeitlos eindrucksvollen Stils als einer der wichtigsten Bildhauer des 20. Jahrhunderts.
Der Künstler selbst, losgelöst von seiner repräsentativen Rolle als Geächteter unter den Nationalsozialisten, erscheint aus mehreren Gründen geeignet, im Unterricht behandelt zu werden. Da er vor allem figürlich gearbeitet und weitgehend auf Abstraktion verzichtet hat, ist sein Werk im Vergleich zu anderen Künstlern seiner Epoche verhältnismäßig leicht zugänglich. Außerdem bieten seine Arbeiten ein großes emotionales Potential, mit dem sich fast jeder Betrachter identifizieren kann. Wenn die Schüler sich auf die Wirkung der Arbeit einlassen, so können sie durch ihre emotionale Involvierung motiviert werden, mehr über den Künstler erfahren zu wollen.
Außerdem ist bei Barlach die handwerkliche Leistung nicht zu verachten. Es ist nicht nur beeindruckend, dass er in drei Künsten tätig war - neben seinen Plastiken schuf er ein eindrucksvolles zeichnerisches, druckgrafisches und sogar literarisches Werk. Besonders bei seinen plastischen Arbeiten in Holz wird deutlich, dass die Kunstwerke aus harter Arbeit entstanden sind. Dies könnte den Schülern Respekt vor dem Künstler verschaffen, da er äußerst authentisch ist: Wenn er leidende Menschen darstellt, so leidet er mit, indem er hartes Holz mühsam bearbeitet.
Des Weiteren kann die Erarbeitung von Barlachs Werk dazu genutzt werden, andere zeitgleich existente Kunstströmungen anzuschneiden, da Barlach zwar nicht völlig dem Zeitgeist entfliehen konnte, aber ein interessantes Kontrastprogramm zu Impressionismus, Expressionismus oder Konstruktivismus bietet. In diesem Kontext wäre es mitunter auch lohnend, über eine Kooperation mit dem Kunstunterricht nachzudenken.
Insgesamt eröffnet die Beschäftigung mit Barlach die Möglichkeit, nicht nur den häufig literaturlastigen Fremdsprachenunterricht mit kunstwissenschaftlichen und kunstgeschichtlichen Inhalten anzureichern und somit einen Beitrag zu einer umfassenden Bildung über die deutsche Kultur zu leisten, sondern auch, ihn um kreativere, freiere Arbeitsformen zu erweitern und so die Motivation der Schüler, die hier individuell entdeckend lernen können, zu fördern.
2. Der Künstler Ernst Barlach
2.1. Biografie
In diesem ersten Abschnitt soll nun die Biografie Barlachs anhand wichtiger Eckdaten nachvollzogen werden.
Ernst Barlach wurde am 2. Januar 1870 in Wedel (Holstein) geboren. Er verlebte nach eigenen Angaben eine kleinbürgerliche Jugend, in der er viel las und zeichnete. Außerdem war er von seinem Vater, welcher Arzt gewesen war, häufig zu Patienten mitgenommen worden und war so mit Menschen unterschiedlichster Klassen zusammen gekommen. Gleichzeitig konnte er schon hier Qual und Leid der Mitmenschen beobachten (vgl. Krahmer, 1984, S. 9).
In dieser Zeit wurde er zudem stark von seiner landschaftlichen Umgebung geprägt - die flache Ebene Norddeutschlands und das regnerische Wetter beeinflussten seine Wahrnehmung insofern, als dass sie ihn von klein auf nachdenklich stimmten, was später einen Einfluss auf seine Kunst nehmen sollte (vgl. Krahmer, 1984, S. 9).
1888 wurde Barlach Schüler der Gewerbeschule in Hamburg, da er Zeichenlehrer werden wollte. Drei Jahre später begann er sein Studium an der Dresdener Kunstakademie. Hier entstanden die ersten erwähnenswerten Skulpturen. Es folgten mehrere Monate in Deutschland, in denen Barlach hauptsächlich schriftstellerisch und zeichnerisch tätig war. Nach seinem Aufenthalt in Paris 1897 widmete er sich figürlichen Werken für verschiedene öffentliche Gebäude.
Ein wichtiges Jahr für Barlachs künstlerische Entwicklung war 1906, als er mit seinem Bruder nach Russland reiste. Hier erlebte er ein Gefühl der Grenzenlosigkeit, das ihm zu seinem eigenen Stil verhalf (vgl. Krahmer, 1984, S. 9).
1907 ging er mit dem Berliner Kunsthändler Paul Cassirer einen Vertrag ein, sodass dieser die zukünftigen Arbeiten Barlachs gegen ein festes Jahresgehalt übernahm. In dieser Periode fertigte der Künstler die ersten Holzarbeiten an. Bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges entstanden weitere Plastiken, ebenso wie Zeichnungen und literarische Werke.
Nach Kriegsbeginn arbeitete Barlach in einem Güstrower Kinderhort, außerdem war er 1915 mehrere Monate Soldat in Sonderburg. Bis zum Ende des Krieges schuf er weitere Holzskulpturen, Lithografien, Gipsreliefs und arbeitete außerdem literarisch.
Nach dem ersten Weltkrieg wurde der Künstler zunehmend bekannter. So fand beispielsweise 1926 eine Barlach-Ausstellung bei Cassirer statt - nach Jahren künstlerischen Schaffens, während derer Barlach sowohl Einzelplastiken als auch Arbeiten für Kirchen anfertigte. 1934 wurden mehrere seiner Werke erstmals auf einer Ausstellung der Berner Kunsthalle gezeigt. Allerdings geriet ab 1933 Barlachs Kunst (wie auch die von Käthe Kollwitz und Wilhelm Lehmbruck) immer mehr in die Kritik durch die aufsteigenden Nationalsozialisten; 1937 wurden seine Arbeiten als "Entartete Kunst" ausgestellt. Obwohl seine Werke in nicht-nationalsozialistischen Kreisen sehr geschätzt und geachtet wurden, erhielt er bald Ausstellungsverbot. Bis kurz vor seinem Tod am 24. Oktober 1938 in Rostock entstanden die letzten Arbeiten (vgl. Schurek 1961, S.130ff).
2.2. Die Kunst Ernst Barlachs
Ernst Barlach selbst sah sich nicht als großen Künstler an. Für ihn war es eine Pflicht oder vielmehr ein Dienst, sich künstlerisch zu betätigen (vgl. Flemming, 1958, S. 75). Er empfand die Kunst als Zeichen tiefer Menschlichkeit, als Möglichkeit, Seele und Geist auf die Probe zu stellen. Die künstlerische Arbeit verstand er als eine Verpflichtung gegenüber Gott und seinen Mitmenschen (vgl. Flemming, 1958, S. 75f).
Dennoch war es für ihn befriedigend, Kunst zu schaffen, weil sie ihm ermöglichte, befreit von der Gefangenschaft im eigenen Ich ein Gefühl der Unendlichkeit zu empfinden und dieses durch die Kunst zu transportieren.
Wenn hier die Kunst Barlachs angesprochen wird, so muss noch einmal präzisiert werden, wie schon in der Biografie angedeutet, dass es nicht nur eine einzige Kunst gab, in der er tätig war. Zeit seines Lebens beschäftigte er sich mit den drei Künsten der Plastik, Grafik und Schriftstellerei, ohne eine zu bevorzugen (vgl. Flemming, 1985, S. 76). Auch wenn es in dieser Arbeit um die Plastiken Barlachs gehen soll, so ist es dennoch bemerkenswert, dass sich seine charakteristische Kunstauffassung in allen drei Bereichen seines Werkes wiederfinden lässt.
Bereits zu Lebzeiten wurde Barlach von einigen Zeitgenossen, die selbstverständlich nicht die Kunstauffassung der Nationalsozialisten teilten, sehr geschätzt, was einerseits in seiner Kunst selbst begründet liegt, andererseits auch damit zusammenhängt, dass er als "Leitbild für eine junge traditionell-christliche Kunst" (Fromm, 2004, S. 11) angesehen wurde. Allerdings war dies ein vorschneller Schluss, da das christliche Interesse bei Barlach nicht im Vordergrund stand. Er war nämlich ebenso von okkultistischen und mystischen Auffassungen beeinflusst (vgl. Fromm, 2004, S. 96f). So ist beispielsweise der Einfluss der Eurythmie in seinem Werk deutlich erkennbar, da Barlach rhythmisch gestaltete und oft bewegte Figuren darstellt, die ihren Blick nach oben richten, wie auf der Suche nach einer kosmischen Energie (vgl. Fromm, 2004, S. 101). Die Bewegtheit der Linien, welche Barlachs Figuren rhythmisieren, macht deutlich, dass der Künstler vom Zeitgeist des Jugendstils beeinflusst war (vgl. Ernst Barlach, 1959, S. 17).
Zentral ist sicherlich der Gedanke, dass Barlach durch seine Kunst nicht das Sichtbare abbilden, sondern Unsichtbares (d.h. auch Übernatürliches) sichtbar machen wollte. "Daran angelehnt beurteilte Barlach [...] Kunst auch nicht nach objektiv nachvollziehbaren Qualitäten, sondern bestimmte den Wert nach der Qualität, mit der sie seine Vorstellungen von einem Geheimen und Verborgenen reflektierten" (Fromm, 2004, S. 104).
Das "mystische Schauen" war essentieller Bestandteil der Kunst Barlachs. Visionen, Träume und mystische Ideen beeinflussten sein Werk, naturwissenschaftlich-objektivistische Anschauungen hingegen lehnte er ab (vgl. Fromm, 2004, S. 109). Es waren zutiefst menschliche, subjektive innere Bilder, die der Künstler in seinen Arbeiten auszudrücken suchte (vgl. Carls, 1950, S. 25).
Insofern ist es nur allzu verständlich, dass Barlach dem Impressionismus, der zu seiner Zeit die Kunstwelt inspirierte, mit Ablehnung gegenüber stand: Wie bereits angedeutet genügte es dem Künstler nicht, Sichtbares und flüchtige, spontane Seheindrücke abzubilden, sondern er wollte die innere Natur, das Nicht-Sichtbare darstellen. Somit wandte er sich auch gegen den reinen Naturalismus, da er sich nicht auf die äußere "Maske" der Dinge und Wesen beschränken mochte, sondern an deren Innerlichkeit interessiert war. Auch der Konstruktivismus war ihm zuwider, da er ihn als unmenschlich empfand: Seiner Meinung nach könnten Linien und geometrische Formen, also das konstruktivistisch-technoide Formeninventar dieser abstrakten Kunstrichtung (die von den Nachfolgern Kasimir Malewitschs wie beispielsweise Piet Mondrian, László Moholy-Nagy oder El Lissitzky vertreten wurde), dem Menschen nicht gerecht werden (vgl. Flemming, 1958, S. 77).
Wie in diesen Ausführungen bereits erkennbar wird, war Barlach fast ausschließlich am Menschen interessiert. Er wählte menschliche Gestalten, um Immaterielles, Inneres gegenständlich auszudrücken (vgl. Fromm, 2004, S. 22). So sollten beispielsweise menschliche Urgefühle durch die Gestaltung von Skulpturen deutlich werden. Besonders das menschliche Leid ist ein zentrales Thema, das immer wieder von Barlach behandelt wurde. Aber auch ideelle Inhalte oder sogar Musikstücke und Literatur versuchte er in figürlichen Darstellungen sichtbar zu machen.
Es muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass Barlach einen langen Weg zurücklegen musste, bevor er imstande war, seinen künstlerischen Ideen einen für ihn befriedigenden Ausdruck zu verleihen. Durch sein Studium an der Akademie wurde ihm vornehmlich der zeittypische Klassizismus vermittelt, der ihm in keinster Weise gefiel, da dieser die "Bestrebungen nach einfacher Formgebung" untergrub (Fromm, 2004, S. 137), welche charakteristisch für den Künstler werden sollten. Nach einem Personalwechsel an der Akademie kam Barlach mit realistischen Kunstauffassungen in Kontakt, die ihm zwar mehr zusagten, aber ihm immer noch nicht erlaubten, das auszudrücken, was ihn wirklich interessierte.
Erst während seiner Russlandreise, also im Alter von 36 Jahren, fand er endlich den lange gesuchten, eigenen Stil: Es fand eine "Kristallisation" aller Ideen statt - plötzlich erkannte Barlach, welche Gestaltungsmöglichkeiten seine Ideen angemessen repräsentieren könnten (vgl. Groves, 1972, S. 4). Die Weite der Steppenlandschaft vermittelten ihm ein Gefühl von Unendlichkeit, die darin sich bewegenden Menschen - meist einfache Bauern, Hirten oder Bettler - empfand er als Plastiken in der weiten Landschaft. Diese Menschen wirkten auf ihn, als wäre ihr Inneres und Äußeres untrennbar verbunden und direkt sichtbar, frei von Selbstentfremdung durch Kultur und Zivilisation (vgl. Groves, 1972, S. 4). Indem er diese Menschen studierte, konnte er seinen Plastiken den angestrebten Ausdruck der Unendlichkeit verleihen, sie zeigten das dem Verstand Unzugängliche, Immaterielle. Es war vor allem der Eindruck des im positiven Sinne Primitiven und Urwüchsigen, das Barlach an den russischen Menschen faszinierte, da diese Einfachheit seiner Meinung nach das Mystische in ihren Seelen erhalten habe (vgl. Fromm, 2004, S. 17). Barlach hatte sich ausgiebig mit primitiver Kunst, östlicher Plastik, dem Mittelalter und der Gotik (Fromm, 2004, S. 17), beschäftigt, deshalb empfand er auch eine starke Verbindung zu slawischen Menschen, die ihn an asiatische Kunstwerke erinnerten. Die "in Russland verwirklichten Vorstellungen von Primitivismus und Spiritualität ebneten Barlach [...] den Weg zu einer originären künstlerischen Gestaltung [...]: Hier setzte er erstmals avantgardistische Formelemente um und fand Ausdruck für subjektive Empfindungen. [...] Er betrachtete es nicht länger als seine künstlerische Aufgabe, die sichtbare Wirklichkeit darzustellen, sondern ahnungsvolle, unbewusste Zusammenhänge sichtbar zu machen" (Fromm, 2004, S. 18f).
Wie in den Ausführungen deutlich wurde, entwickelte Barlach völlig eigenständige, von zeittypischen Kunstströmungen weitgehend unbeeinflusste Ideen, die er künstlerisch umsetzen wollte. Aus diesem Grund ist sein Werk nicht eindeutig einem Stil zuzuordnen; er stellt somit ein Einzelphänomen dar. Teilweise wird er nachträglich mit dem Expressionismus in Verbindung gebracht, da er um Ausdruck (von Unsichtbarem) bemüht war (vgl. Fromm, 2004, S. 22). Allerdings entwickelte er einen eigenständigen Realismus, der härter war als es zum Konzept vieler Expressionisten gepasst hätte, denn er wollte nicht nur positive Empfindungen, sondern auch Leid und Elend verbildlichen (vgl. Ernst Barlach, 1985, S. 11). Er wird deshalb der damaligen Avantgarde zugerechnet, in deren Kontext er als Einzelgänger anzusehen ist (vgl. Fromm, 2004, S. 25).
2.3. Das plastische Werk Ernst Barlachs
Barlach realisierte seine Plastiken in verschiedenen Materialien. Zu Beginn seiner künstlerischen Laufbahn arbeitete er häufig mit Ton. Des Weiteren existieren von ihm Plastiken in Gips oder Bronze. Das Material aber, das seinen Visionen am meisten entgegenkam, war das Holz. Allein die Bearbeitung des Holzes entsprach der Idee, die er mit seinen Kunstwerken auszudrücken suchte: Er wollte mitleiden - mitfühlen, was die Figur, die er gestaltete, an emotionalem Potential ausdrücken sollte (vgl. Barlach, 1959, S. 7). Die Bearbeitung des Holzes ist häufig mühsam, je nachdem, welches Holz verwendet wird. Insofern konnte der Künstler sein zu schaffendes Werk im Werkprozess nachempfinden.
Diese Materialgerechtigkeit spielte in einer weiteren Hinsicht eine wichtige Rolle. Barlach wollte, wie bereits angedeutet, Urwüchsiges und Wesentliches durch seine Plastiken vermitteln. Hierfür fand er das Holz wie geschaffen: Seine Struktur und Färbung vermitteln den Eindruck von Natürlichkeit und Wärme, was den dargestellten Figuren deutlich mehr Menschlichkeit verleiht, als wenn sie in Gips oder Ton realisiert würden (vgl. Flemming, 1958, S. 82).
Außerdem fällt auf, dass Barlach häufig bewusst die Arbeitsspuren an den Holzplastiken stehen ließ. Somit entstand eine strukturierte Oberfläche, die das einfallende Licht in unterschiedlichste Richtungen reflektierte. Teilweise wirken die Plastiken, als wären sie mit einer Art Schuppenkleid aus Licht überzogen - sie strahlen in alle Richtungen (vgl. Barlach, 1959, S. 12). Hiermit gelang es Barlach, seine Idee der Vermittlung von Transzendentem, Kosmischen umzusetzen (vgl. Fromm, 2004, S. 104).
Aus all diesen Gründen ist es leicht nachvollziehbar, dass Barlach durch die Arbeit mit Holz seinen Wunsch nach Materialgerechtigkeit realisieren konnte: Dieser natürliche Werkstoff unterstützte mit seinen Eigenheiten und Strukturen die Aussage des Künstlers, sodass eine totale Konvergenz zwischen Form und Inhalt entstand - ein Kriterium, das später als Garantie für Qualität angesehen wurde (vgl. 2009, S. 142).
Zu seiner Arbeitsweise ist anzumerken, dass er die Holzskulpturen auf dem Umweg über Entwürfe, meist in Ton angefertigt, entstehen ließ. Wie bereits erwähnt, wollte Barlach mit seinen Figuren das "Wesentliche" darstellen, das heißt, er verzichtete auf unnötige Details, die seiner Intention im Wege standen. Also bildete er die gesehene und gründlich studierte reale Figur in einem kleinen Entwurf ab, da allein durch die Größe auf Details verzichtet werden musste. Nach Vorlage dieser Tonskizzen entstanden dann die größeren Holskulpturen (vgl. Flemming, 1958, S. 81).
Barlach fand somit eine adäquate Technik, seinen Wunsch nach Einfachheit der Motive zu erfüllen. Wie zuvor erwähnt, war er von primitiver Kunst beeindruckt und ließ sich davon inspirieren. Der klassische Formenkanon war ihm zuwider, er sagte sich los "von Ikonographie, überkommenen Materialien, Techniken und Formaten" (Fromm, 2004, S. 133). Befreit von derartigem "traditionellen Ballast" fand er seinen eigenen Formbegriff, der "die Trennung zwischen Form und Inhalt aufhob, sie als Einheit begriff" (Fromm, 2004, S. 133).
Nicht nur die formale Gestaltung seiner Plastiken war dem Zeitgeist enthoben, sondern ein weiterer Faktor macht seine Figuren unverwechselbar: Barlach richtete sich gegen die tradierte Idee, menschliche Körper als Akte darzustellen, sondern legte einen besonderen Akzent auf die Gewänder der Figuren. Er wollte das Menschentum als Spiegel der Unendlichkeit darstellen, deshalb faszinierte ihn die himmelwärts orientierte Gotik - besonders ihre Kathedralen, die wie eine Verbindung zwischen Himmel und Erde wirken - und die gotische Plastik mit ihren schweren Gewändern, die die menschlichen Körper in ihrer Heiligkeit als zeitlose Vertreter des Reich Gottes abbildet (vgl. Schmid/Unger 2003, S. 126). Allerdings stellte der Bildhauer die Gewänder nicht in ihrem "natürlichen" Faltenwurf dar, sondern unterstützte mit den Richtungen der Falten die gesamte Linienführung seiner Werke. Bewegtheit konnte nicht wie bei Aktdarstellungen anhand von Muskeln gezeigt werden, deshalb wurden die Gewänder als Träger einer körperlosen Kraft gestaltet (vgl. Barlach 1959, S. 17). Ähnlich den Formprinzipien des Jugendstils entstehen Schwünge und Bewegungen, die zwar anatomisch schwer nachvollziehbar sind, aber der Intention des Künstlers Ausdruck verleihen - die Linienführung wird zu einem elementaren Gestaltungsmittel.
Nicht nur der Faltenwurf und die richtungsweisenden Linien der Gewänder wurden vom Künstler gemäß seiner Intention organisiert und inszeniert; auch die nicht- naturalistische Blockhaftigkeit vieler Figuren dient der Vermittlung von Barlachs Ideen: "Es kommt [...] der Bezug zum Elementaren durch eine [...] Vereinheitlichung von Rumpf und Gliedern zum Ausdruck, sei es dadurch, daß die Glieder an das Massiv des Rumpfes herangefaltet werden [...], sei es dadurch, daß sie sich dem großen Zug einheitlichen Bewegungsschwunges einbiegen müssen" (Barlach 1959, S. 14).
Des Weiteren ist im Hinblick auf die formale Gestaltung von Barlachs Plastiken anzumerken, dass sie meist eine Hauptansicht besitzen, also selten allansichtig sind (vgl. Barlach 1959, S. 15). Er schuf einige Reliefs, die naturgemäß nur eine Schauseite besitzen, aber auch die Vollplastiken bedürfen teilweise "eines Grundes, einer hinterfangenden Wand und bleiben somit latente Bauplastik" (vgl. Barlach 1959, S. 15). Insofern bot es sich an, dass Barlach in mehreren Kirchen Architektur und Plastik verband, indem er Figuren für Friese entwickelte. Doch auch die Vollplastiken, die nicht im Hinblick auf die Integration in einen architektonischen Kontext konzipiert wurden, haben eine Schauseite, die das vom Künstler intendierte emotionale oder transzendentale Potential deutlich macht.
Anhand dieser Ausführungen sollte gezeigt werden, inwiefern Barlachs Gestaltungsprinzipien darauf ausgerichtet sind, die elementaren Emotionen und Ideen auszudrücken, die der Künstler vermitteln wollte.
3. Vorstellung und Interpretation exemplarischer Plastiken
3.1. "Lachende Alte" (1937, Nussbaum), "Frierende Alte" (1937, Teakholz)
"Lachende Alte": ernst-barlach.com/barlach-pl-606-lachende-alte
"Frierende Alte": ernst-barlach.com/barlach-pl-609-frierende-alte
Ernst Barlach, Frierende Alte, Bronze (1937)Quelle: Wikimedia Commons
Die beiden 1937 entstandenen Skulpturen wurden aus verschiedenen Gründen ausgewählt. Sie sind repräsentativ für Barlachs Werk, da sie Urgefühle der Menschen repräsentieren. Die Gestaltung der Plastiken weckt im Betrachter Emotionen, indem sie die Gefühle der dargestellten alten Frauen - die trotz des gleichen Grundmotivs in diesem Falle nicht gegensätzlicher sein könnten - deutlich erkennen lässt.
Zuerst soll nun die "Lachende Alte" genauer betrachtet werden. Der erste Eindruck, bedingt durch die Gestaltung des Materials, also des warm anmutenden Nussbaumholzes, ist positiver Art: Glatt, fast glänzend bearbeitet, reflektiert das Holz das Licht am gesamten "Körper" der alten Frau, sodass ein ausgewogenes Verhältnis der Hell-Dunkelkontraste entsteht. Die ins Holz eingearbeiteten Linien sind lang und fließend, gehen ineinander über und drücken Dynamik und Offenheit aus. Die Rhythmisierung der Linien, wie erwähnt ein Charakteristikum der Skulpturen Barlachs, ist gleichmäßig und dennoch spannungsvoll.
Dies harmoniert mit der dargestellten Thematik des Lachens: Obwohl es sich um eine alte Frau handelt, die offensichtlich schon einen von dem Alter gezeichneten und von der Zeit stark angegriffenen und gebeugten Körper besitzt, versprüht ihre Haltung höchste Freude. Sie scheint sich vor Amüsement hin- und herzuwiegen, wobei der Künstler ihre Bewegung in dem Moment "eingefangen" hat, als sie ihr Gesicht, dessen Mund geöffnet und dessen Augen vor Lachen zusammengekniffen sind, gen Himmel richtet - eine für Barlach typische, religiös anmutende Geste. Das zutiefst erdverbundene menschliche Dasein, von Zeit und Leid geprägt und geschunden, wird hier mit einer transzendenten Dimension, die Einfachheit mit der Unendlichkeit verbunden. Somit drückt die "Lachende Alte" die Verschmelzung von Form und Inhalt, an der Barlach interessiert war, in idealer Weise aus.
Dies lässt sich von der "frierenden Alten" in gleicher Weise behaupten. Die Körpersprache dieser Frau ist jener der "lachenden Alten" gänzlich entgegengesetzt:
Sie wirkt zusammengekauert wie ein Häufchen Elend, was durch die nicht mehr vornehmlich auf Linien, sondern auf Rundungen basierende Komposition ausgedrückt wird. In hart und kalt wirkendem Teakholz gestaltet, klotzig und unbeweglich anmutend, hat sich die Frau zusammengezogen, wie es scheint, um ihre eigene Körperwärme aufzufangen und sich so gut wie möglich gegen die Kälte abzuschirmen. Im Vergleich zu der "lachenden Alten", die sich, wie befreit von der Last des irdischen Daseins von ihrem Holzsockel erhebt, bleibt die frierende Alte offensichtlich den Qualen der Erde verhaftet, da der Künstler ihren Körper mit dem Sockel des Untergrundes verschmelzen lässt. Ihr Leid drückt sich nicht nur in der Komposition der Skulptur aus, sondern spiegelt sich auch in ihrem Gesicht wieder: Sorgenvolle Falten lasten auf der Stirn über ihren hohlen, mumienhaft wirkenden geschlossenen Augenlidern. Ihr grober Mund ist ebenfalls von Falten umgeben, die großes Elend vermuten lassen. Armut und Not haben anscheinend auch ihre Wangen einfallen lassen.
In jeglicher Hinsicht ist die "Frierende Alte" also ein Sinnbild des Leides, das Barlach als Bestandteil des irdischen Daseins ansah.
Ein anderer bevorzugter Aspekt der Menschendarstellungen Barlachs wird hier ausgedrückt: Die Frau hat slawisch anmutende Züge, was, wie zuvor erwähnt, für Barlach Ausdruck der reinen Existenz, frei von Entfremdung war. Insofern erscheint es plausibel, dass der Künstler für die Darstellung des urmenschlichen Leides auf die Existenz in der russischen Einöde anspielt.
3.2. Bettler auf Krücken (1930, Klinkerbrand violettgrau)
Ernst Barlach, Bettler auf Krücken (1930)Quelle: Wikimedia Commons
Wie schon bei der "Frierenden Alten" deutlich wurde, war eines der für Barlach besonders wichtigen Themen jenes des menschlichen Elends. Aus diesem Grund gilt der Bettler als eines der Lieblingsmotive des Künstlers. Die circa zwei Meter hohe Plastik aus violett-grauem Klinkerbrand, 1930 für den in den gotischen Außenfries der Lübecker Katharinenkirche zu integrierenden Figurenzyklus "Gemeinschaft der Heiligen" entworfen, drückt ein Höchstmaß an Leid aus. Allein die Wahl der Figur des Bettlers ist ideal, um eine qualvolle Existenz darzustellen: Seine Existenz hat ihn mager und schwach werden lassen, sodass er sich, da seine einknickenden Beine ihn nicht tragen können, auf Krücken stützen muss. Seine noch aufrechte Haltung verdankt er einzig dieser Gehhilfe, die dem gesamten Körper Stabilität verleiht. Allein der Kopf ist frei und scheinbar nicht bewegungseingeschränkt: Sehnsuchtsvoll und hilfesuchend blicken die blind wirkenden Augen in Richtung des Himmels, als erwarte der arme Mensch von dort die Rettung, die er auf der Erde nicht finden konnte (vgl. Badt, 1971, S. 25).
Auf der Formebene wurde diese elende Existenz, die ihr einziges Heil im Himmel zu suchen scheint, mit künstlerischen Mitteln sehr treffend inszeniert: Der Faltenwurf des Gewandes wie auch die Ausarbeitung der Arme sind scharfkantig und schroff. Knochig und hart wirkt diese Figur, geradezu durchschnitten von den Falten des Gewandes, die im Bauchbereich dreieckförmig nach unten weisen und die gleichsam auf das harte, irdische Schicksal des Mannes hindeuten. Eben diese nach abwärts gerichteten Formen, die sich im knochigen Hals des Bettlers wieder finden, kontrastieren mit den senkrechten, aufrechten Linien der Krücken und Arme, welche nach oben verweisen, der Blickrichtung folgend: In die Freiheit, fern von der Erde und ihren Mühen.
3.3. "Die gemarterte Menschheit" (1919, Eiche)
"Die gemarterte Menschheit": ernst-barlach.com/barlach-pl-275-gemarterte-menschheit
Hier geht es im Gegensatz zu den vorher besprochenen Werken nicht um das Elend einzelner Menschen, sondern um das gequälte Kollektiv, sozusagen das leidvolle menschliche Schicksal an sich, wie es Barlach empfand. "Barlachs Holzrelief des namenlos Geschundenen, den es buchstäblich in der Luft zerreißt" (Reinmuth, 2010, S. 66) verdeutlicht die Idee irdischen Lebens an sich, die in jeder Hinsicht nachvollziehbar ist, wenn in Betracht gezogen wird, dass der Künstler durch seine Erfahrungen im ersten Weltkrieg gezeichnet war, besonders zur Zeit der Entstehung des Kunstwerks, im ersten Nachkriegsjahr 1919, als die Erfahrungen noch sehr präsent gewesen sein müssen.
Um die gemarterte Menschheit zu repräsentieren, wählte Barlach eine einzelne Figur, die den Menschen an sich darstellen soll, in seiner charakteristischsten und allgemeingültigsten Form. Körper und Gesicht zeigen keine Merkmale von Individualität. Die Züge sind gezeichnet und gealtert vom Leid, ansonsten ist keine Charaktereigenschaft abzulesen. Die leidvolle Ausstrahlung verbunden mit dem nicht individualisierten Körper symbolisiert in idealer Weise das gemarterte Menschengeschlecht an sich.
Die formale Gestaltung des Reliefs unterstreicht die Qual des Zerrissen-Werdens. Das Hochformat betont die langgezogene Gestalt und bezieht so die Erfahrung der Schwerkraft beim Betrachter ein. Dies ist auch bei dem Motiv selbst erkennbar. Der Körper wirkt durch die nach oben angebunden Hände sehr langgestreckt. Dies wird noch dadurch unterstrichen, dass der ganze Mensch unnatürlich verlängert dargestellt wird. Hier wird der Einfluss der gen Himmel strebenden Gotik auf Barlachs Kunst deutlich. Wie die gotischen Kathedralen mit ihren weit nach oben ragenden Türmen, den langen schmalen Fenstern und den aufwärts weisenden Spitzbögen, die irdische Sphäre der göttlichen annähern wollten, so lässt Barlach die Figur sich in der Vertikalen verlängern.
Barlachs gemarterter Mensch nähert sich allerdings nicht eindeutig der himmlischen Sphäre an. Vielmehr scheint er sich in einem Dazwischen zu befinden: Wie schon die im Eichenholz eingemeißelten, dreieckig gestalteten Gewandfalten sowohl nach oben, als auch nach unten weisen, so wird die Person vom Gewicht abwärts gezogen, während oben die Hände gefesselt sind. Es ist also das Zusammenwirken der Kräfte von oberhalb und unterhalb des Menschen, die das Zerreißen seiner Existenz bewirken. In Barlachs Darstellung geschieht dies auf materielle Weise, durch die Schwerkraft. Das Werk lässt sich aber auch metaphorisch interpretieren: Nicht ein Gewicht zieht den Menschen nach unten, sondern es ist seine schmerzvolle irdische Existenz, die mitunter an die Hölle erinnern mag. Gleichzeitig strebt er aber aufwärts, in übersinnliche, transzendente Sphären. Doch wird er sich nie seiner menschlichen Fesseln entledigen können, nie der Erde entfliehen, den Himmel nie erreichen - außer, vielleicht, durch Leid und Tod. So könnte im Extremfall Barlachs "Gemarterte Menschheit" interpretiert werden.
Zweifelsohne hat Barlach im Werkprozess, durch die Bearbeitung des harten, widerspenstigen Eichenholzes mitgelitten mit den geplagten Menschen, deren Abbild seine Plastik repräsentieren soll (vgl. Steinkamp, 2008, S. 271). Insofern kann hier wieder die perfekte Konvergenz zwischen Form und Inhalt einerseits, aber auch von Künstler und Kunstwerk andererseits festgestellt werden.
3.4. "Das Grauen" (1923, Linde)
"Das Grauen" (leider nicht in Holz): ernst-barlach.com/barlach-pl-365-das-grauen
Ernst Barlach, Das Grauen, (1923), Nachguss aus Bronze 1980Quelle: Wikimedia Commons
Auffällig an der Plastik "Das Grauen" ist die Tatsache, dass Barlach hier einen abstrakten Sachverhalt figürlich darstellt. Das Motiv, wie für den Künstler typisch, ist wieder ein menschliches, dass in diesem Falle aber eine reine Empfindung erfahrbar macht. Hierfür wurde ein idealisierter, allgemeingültiger Menschentypus gewählt, keiner Nationalität zuzuordnen, da Gesicht, Hände, Gewand und Haltung so stark abstrahiert und auf das Notwendigste reduziert wurden, dass nur noch die Menschlichkeit an sich erkennbar ist. Nicht einmal das Geschlecht ist auszumachen - ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, ist in diesem Fall, wo es um die Darstellung des Grauens geht, völlig unerheblich.
Einzig der Ausdruck der Figur steht im Mittelpunkt: Gesicht, Armhaltung und die Hände, die bestürzt den Kopf halten, sprechen eindrucksvoll von dem Schrecken, dem Entsetzen, der Fassungslosigkeit, die der Mensch angesichts des nicht näher definierten Grauens empfindet. Grenzenlose Angst spricht aus den weit aufgerissenen Augen, die erstarrt zu sein scheinen, ebenso wie aus dem versteinerten Mund (vgl. von Walter, 1930, S. 28).
Die Bearbeitung der Skulptur lenkt das Augenmerk des Betrachters ganz eindeutig auf das Gesicht, in dem sich das Grauen widerspiegelt.
Schon bei der formalen Betrachtung des Lindenholzes wird deutlich, dass es kaum auffällige Strukturen unterhalb der Arme besitzt: Lediglich der Faltenwurf des Gewandes, das im Kniebereich ein nach unten weisendes Dreieck bildet, ist erkennbar, aber dieses Detail lenkt in keinster Weise von der oberen Körperpartie ab. Diese Gestaltung nimmt die Linienführung entlang der Arme auf, die ebenfalls dreieckförmig nach unten zeigen und verweist somit gleichsam auf den oberen Bereich, wo sich das Entsetzen am eindrücklichsten zeigt.
Die für Barlach typische Universalität und Allgemeingültigkeit der Darstellung demonstriert diese Skulptur wieder in beeindruckender Weise: Das Grauen, welches vom Künstler nicht näher definiert wurde, kann in der Realität tausend Formen annehmen und in jeder erdenklichen Situation auftreten. Man könnte an das mögliche Grauen der Entstehungszeit von Barlachs Plastik, 1923, denken - an den geschichtlichen Hintergrund der Weimarer Republik, einer Zeit voller Spannungen, zwischen zwei Kriegen, während der dem Künstler die grauenhaften Erfahrungen des ersten Weltkrieges noch zutiefst präsent waren - oder an jegliche andere Form des Grauens, die jedem Mensch, damals wie heute, widerfahren kann. Die zeitübergreifende Eigenschaft des Grauens hat der Künstler einzufangen vermocht: sein Abbild auf dem menschlichen Gesicht, das ein Spiegel des erfahrenen Schreckens, der Angst, der Fassungslosigkeit ist, unabhängig von der Ursache. Insofern verdeutlicht es eindrucksvoll, wie es Barlach gelang, Nicht-Greifbares gegenständlich, das heißt figürlich, auszudrücken.
3.5. "Das Wiedersehen" (1926, Nussbaum)
Ernst Barlach, Das Wiedersehen (Christus und Thomas) (1926)Stukko holzfarben getönt (für Archivzwecke 1939 vom Holz abgeformt)Quelle: Landesmuseum Mecklenburg
Im Vergleich zu den vorher besprochenen Plastiken thematisiert das 1926 entstandene "Wiedersehen" ganz offenkundig eine religiöse Begebenheit. Thomas begegnet Jesus nach dessen Auferstehen wieder und kann erst durch dieses Zusammentreffen glauben, dass Christus tatsächlich von den Toten zurückgekehrt ist. Barlach fängt den Moment ein, als Thomas die Wahrheit begreift: Er musste sich den lebenden Gott vergegenwärtigen, um die Erkenntnis von dessen Existenz zu erlangen (vgl. Ackermann/Arndt, 1999, S. 318). Dieser Moment, in dem Thomas die Wahrheit erkennt, wurde von Barlach sehr eindrucksvoll inszeniert.
Auf der handwerklichen Ebene fällt auf, dass es sich wieder um das warm anmutende Nussbaumholz handelt, welches der Plastik Lebendigkeit verleiht. Des Weiteren wurde das Holz so bearbeitet, dass es zwar den typisch organischen Charakter behält, aber keine auffälligen und von dem Motiv ablenken Fakturen besitzt: Somit wird die gesamte Aufmerksamkeit auf die dargestellte Szene fokussiert. Kein einziger Verweis auf das irdische Dasein, wie er durch eine auffällige Bearbeitung des Holzes symbolisiert worden wäre, stört den Blick auf die universelle, vergeistigende Begegnung des Menschen, der den Gottessohn (wieder)erkennt. Diese Szene wird durch den Moment des Sich-Aufrichtens repräsentiert. Jesus steht gerade, den Kopf andächtig geneigt, mit einem nachdenklich-melancholischen, aber vor allem ruhigen Gesichtsausdruck. Er befindet sich in der erhabenen Position des trotz der erduldeten Leiden wohlwollenden Menschenfreundes. Gütig lässt er sich von Thomas als der erkennen, der er ist, erlaubt dem Zweifelnden die Erkenntnis. Als dieser, ungläubig und voller Ehrfurcht, begreift, dass es tatsächlich der Sohn Gottes ist, der ihn festhält, scheint er sich aufzurichten, sich aus der Position des ängstlich Zusammengekauerten in eine Haltung zu begeben, die ihn größer macht und somit dem Himmel ein Stück näher bringt (vgl. Ackermann/Arndt, 1999, S. 318).
Neben dieser religiösen Dimension kann die Skulptur auch als Ausdruck einer universellen zwischenmenschlichen Situation angesehen werden. Allgemein formuliert inszeniert sie die Situation, wo ein Mensch einem anderen aufhilft, ihm neuen Mut, neuen Glauben verleiht, den er vorher, vor dem Wiedersehen, verloren hatte.
Insofern verbindet auch "das Wiedersehen" das Menschliche mit dem Transzendenten - und zwar nicht nur dadurch, dass die dargestellte Situation einerseits religiös, andererseits alltäglich interpretiert werden kann. Allein in der Darstellung von Thomas und Jesus Christus wird die Beziehung zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen durch das verbindende Element der Erkenntnis, der Anerkennung einer wahren Tatsache, ausgedrückt. Es ist also die Wahrheit, transzendent, aber nicht zwingend religiös, die den Menschen aus seiner erniedrigten Existenz erheben kann.
Diese Brücke zwischen der menschlichen Existenz, von Zweifel und Leid geprägt, und dem reinen, erhabenen Göttlichen, wird gleichzeitig durch Jesus Christus selbst, den fleischgewordenen Sohn Gottes, symbolisiert.
"Das Wiedersehen" ist also eine Skulptur, in der Barlach sein Kernthema, das essentiell Menschliche und das Universelle, auf völlig verschiedenen Ebenen rezipierbar macht.
4. Schlussbetrachtung
Diese Arbeit sollte Ernst Barlach, den im Dritten Reich verfolgten und wegen seiner Kunst verachteten, im Hinblick auf einige wichtige Aspekte seines Lebens, seiner Anschauung und seiner Kunst genauer betrachten. Es fiel auf, dass sein Werk und Denken von ungemeiner Tiefe, Ernsthaftigkeit und Komplexität geprägt sind. Das Hauptanliegen hierbei war, die Übereinstimmung von Mensch und Kunst zu demonstrieren. Diese Konvergenz ist bei Barlach auf verschiedenen Ebenen erkennbar: Die Biografie des Künstlers, sein Leben und Denken spiegeln sich deutlich in seinen Werken wieder. Zugleich geht es in seinen Werken selbst um den Menschen, um die Bedingungen seiner Existenz auf Erden, seiner Verankerung im Diesseits und seinem Streben nach einer transzendenten Sphäre jenseits seiner Lebenswelt. Um diese nahezu philosophischen Reflexionen über die Menschheit, ihr Leiden und ihr Sehnen auszudrücken, fand Barlach - in perfekter Übereinstimmung zwischen Form und Inhalt - eine Ausdrucksweise, die eben diese Bedingungen der menschlichen Existenz versinnbildlicht. Um auch im Werkprozess Authentizität zu wahren und sich völlig mit Material und Motiv zu identifizieren, wählte Barlach Holz und Bearbeitungsweise passend zur jeweiligen Skulptur, sodass er mit den Menschen mitfühlen konnte, die er in seinen Arbeiten zum Leben erwecken wollte.
Es ist zweifelsohne diese vielfache Konvergenz zwischen Mensch und Kunst, die Barlachs Plastiken eine zeitlose Authentizität und Nachvollziehbarkeit verleiht, sodass sie bei jedem möglichen Betrachter, in welcher Zeit und in welcher Situation er sich auch befindet, unmittelbar Gefühle erwecken können.
Aufgrund dieser emotionalen Zugänglichkeit seines Werkes eignet sich der Künstler hervorragend für den Fremdsprachenunterricht: Barlachs Plastiken können die Schüler zum Nachdenken bringen, zum Sprechen, Diskutieren oder (kreativen) Schreiben anregen und Interesse wecken, sich mit dem Künstler selbst, seinen Ideen und dem kunsthistorischen Kontext zu beschäftigen..
Diese Betrachtungen seines Werks könnten sowohl als Einführung genutzt werden, um die Schüler zu motivieren, sich mit dem berühmten Vertreter der "Entarteten Kunst" in der Zeit des Nationalsozialismus auseinander zu setzen, indem sie zuerst sein künstlerisches Anliegen und seine Figuren frei, offen und kreativ entdecken, die den damaligen "ästhetischen Anforderungen" sehr zuwider sein mussten. Anderseits könnte Barlach "als Kunstschaffender" auch im Anschluss an die Behandlung seiner Rolle im Dritten Reich thematisiert werden, da die Schüler somit ihre Erwartungen an die Werke eines "verfolgten Künstlers" mit den konkreten Beispielen abgleichen können.
Literaturangaben
Marion Ackermann/Karl Arndt: Kunst und Geschichte. Festschrift für Karl Arndt zum siebzigsten Geburtstag, Band 38, Berlin 1999
Kurt Badt: Ernst Barlach, der Bildhauer. Ein Vortrag, Neumünster 1971
Ernst Barlach: Plastik. München 1959 (Einführung von Wolf Stubbe)
Ernst Barlach: Ernst Barlach. Stuttgart 1985 (Essay von Willy Kurth)
Carl Dietrich Carls: Ernst Barlach. Das plastische, grafische und dichterische Werk, Flensburg/Hamburg (5. Auflage) 1950
Willi Flemming: Ernst Barlach. Wesen und Werk, Bern 1958
Andrea Fromm: Barlach und die Avantgarde. Frankfurt am Main 2004
Naomi Jackson Groves: Ernst Barlach. Leben im Werk, Königsstein im Taunus 1972
Kerrin Klinger: Kunst und Handwerk in Weimar. Von der Fürstlichen Freyen Zeichenschule zum Bauhaus, Köln/ Weimar 2009
Catherine Krahmer: Ernst Barlach. Hamburg 1984
Eckart Reinmuth: Ernst Barlachs Dramen. Theologische und kulturwissenschaftliche Kommentare, Münster 2010
Peter Schmid/ Klemens Unger: 1803 - Wende in Europas Mitte. Vom feudalen zum bürgerlichen Zeitalter, Regensburg 2003
Paul Schurek: Barlach. Eine Bildbiografie, München 1961
Maike Steinkamp: Das unerwünschte Erbe. Die Rezeption "entarteter" Kunst in Kunstkritik - Ausstellungen und Museen der Sowjetischen Besatzungszone und der frühen DDR, Berlin 2008
Reinhold von Walter: Ernst Barlach. Eine Einführung in sein plastisches und graphisches Werk, Berlin 1930
Pour citer cette ressource :
Maren Butzheinen, Der Bildhauer Ernst Barlach: die Kunst der Menschlichkeit, La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), février 2012. Consulté le 21/11/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/arts/peinture-et-sculpture/der-bildhauer-ernst-barlach-die-kunst-der-menschlichkeit