Christa Wolfs "Kindheitsmuster". Der schwierige Umgang mit der Kindheit im Nationalsozialismus als literarischer Gegenstand
I. Zum Leben Christa Wolfs und zum Prinzip der "subjektiven Authentizität"
Christa Wolf ist 1929 in Landsberg an der Warthe, heute Gorzow Wielkopolski, geboren und 2011 in Berlin gestorben. 1945 wurde ihre Familie durch die Rote Armee nach Westen vertrieben, was zu einer Entwurzelung führte. 1949 trat sie der SED bei und engagierte sich innerhalb der DDR. Bis 1977 war sie Mitglied des Komitees der DDR-Schriftsteller. Nichtsdestotrotz erwies sie sich nicht als unkritisch gegenüber dem Regime. 1965 kritisierte sie die Kulturpolitik des Regimes, was zur Folge hatte, dass sie in Ungnade fiel.
Wolf ist vor allem für ihr literarisches Werk bekannt. Unter anderem veröffentlichte sie 1963 Der geteilte Himmel und 1968 Nachdenken über Christa T., die heute zum deutschen literarischen Kanon gehören. 1976 wurde Kindheitsmuster veröffentlicht und war aufgrund des heiklen Themas, mit dem es sich beschäftigte, von Anfang an sehr umstritten. Das Thema der Begeisterung eines großen Teils der Bevölkerung für die nationalsozialistischen Ideen wurde in der DDR tabuisiert, als ob es sich um eine Frage handelte, mit der sich die BRD allein auseinandersetzen sollte. In dieser Rezension aus dem Spiegel von April 1977 betont Hans Mayer den wegbrechenden Aspekt dieses Werkes:
Damit hat sie, beim Bericht über das Dritte Reich, den Zweiten Weltkrieg, die Flucht vor der Roten Armee, natürlich zwei offizielle Tabus entweder zu brechen oder zu respektieren, jedenfalls zu beachten.
Einmal die heroische These einer offiziellen Faschismustheorie der DDR, wonach im Dritten Reich eine verbrecherische Minderheit von Agenten des Monopolkapitalismus den Rest des deutschen Volkes niedergehalten habe: trotz heroischen Widerstandes der Antifaschisten. Das zweite Axiom will behaupten, die Rote Armee sei als Befreierin vom Faschismus und als Begründerin einer neuen, sozialistischen Humanität aufgetreten.
Das erste Tabu wird von Christa Wolf zwar vorsichtig, doch unverkennbar verletzt. Die Geschichte der Familie Jordan und ihrer Tochter Nelly ist eine Geschichte von kleinen Leuten im Dritten Reich, die sich wenig Gedanken machen über die neue politische Ordnung und die Ursachen eines plötzlich und bald vergehenden bescheidenen Wohlstandes. Das Kind Nelly Jordan ist begeistert, wie es Lehrer und Lehrplan verlangen, für den Führer und sein Reich. Da man Juden nicht kennenlernt, gibt es in solcher Hinsicht auch keine besonderen Vorkommnisse.
Die Geschichte der Familie Jordan, die im Roman von Nelly erzählt wird, hat außerdem viele Gemeinsamkeiten mit der eigenen Geschichte Christa Wolfs. Dort, wo Wolf in Landsberg an der Warthe, heute Gorzow Wielkopolski geboren ist, ist Nelly in L., heute G. geboren. Beide sind im gleichen Jahr geboren, wurden am Ende des Krieges von der Roten Armee vertrieben. Doch ist Wolf nicht die Erzählerin. Dies entspricht einem Prinzip, das sich im Herzen Christa Wolfs Prosa befindet, und zwar dem Prinzip der subjektiven Authentizität. Nadine J. Schmidt definiert dieses Prinzip als Mittel, „[...] um die Selbsterkundung innerhalb der literarisch inszenierten Erinnerungsarbeit im Roman näher zu beschreiben.“ (2014: 121) Dementsprechend ist Nelly nicht Christa Wolf, aber die Ähnlichkeiten zwischen den beiden sind zahlreich und die Erzählung von Nellys Vergangenheit trägt zur Aufarbeitung beziehungsweise Bewältigung und zur Reflexivität gegenüber Wolfs eigener Vergangenheit bei.
II. Zusammenfassung des Werks
1971 reist Nelly mit ihrem Mann H., ihrer Tochter Lenka und ihrem Bruder Lutz in ihre Heimatstadt L., heute G. in Polen zurück. Das Ziel dieser Reise ist das Erwachen der Erinnerungen an die Kindheit, die während des Aufstiegs Hitlers am Anfang der 1930er Jahre und des Dritten Reiches erlebt wurde. Die ganze Problematik dieser Reise lässt sich unter der folgenden Frage, die Nelly selbst stellt, zusammenfassen: „Wie sind wir geworden, wie wir heute sind?“. (KM: 276) Die Erzählung besteht aus einem Wirrwarr von Elementen aus Nellys Kindheit und aus deren Gegenwart. Die Kurse, in denen die NS-Propaganda verinnerlicht wurde, die Beziehung zu den verschiedenen Familienmitgliedern werden thematisiert. Zusätzlich zu dieser Erzählung der Kindheit stellt Nelly ihren Bezug zu dieser Vergangenheit infrage. Sie macht sich der Tatsache bewusst, dass sie in der Diktatur gelebt hat und dass sie von der Propaganda des NS-Regimes tief geprägt worden ist. Nelly schreibt ein Buch über diese Vergangenheit, das dazu dienen soll, sich vor dem Vergessen zu schützen. Die problematische Kindheit verursachte eine Zerrissenheit ihrer Persönlichkeit und Nelly versucht, durch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu einem vereinigten „Ich“ zurückzukehren.
III. Zur Kernfrage des Romans: Was ist ein Kindheitsmuster?
Als Ausgangspunkt für den folgenden Beitrag scheint es unvermeidlich, sich mit dem Begriff des „Kindheitsmusters“ auseinanderzusetzen. Die Benennung „Kindheitsmuster“ stellt einen roten Faden im Roman dar. Sie ist zuerst der Grund dafür, warum Nelly ihre eigene Geschichte schreiben will. Durch die Erzählung ihrer Kindheit und die Erforschung dieses Musters geht Nelly zu einer Art Ätiologie des Übels, das die Zustimmung zur NS-Ideologie darstellte, vor. Das Kindheitsmuster fungierte als Orientierungsmuster für Nelly. Ihr Mann, H., bietet den einzigen Definitionsversuch dieses Begriffs im Buch: „Grund-Muster. Verhaltens-Muster. Kindheitsmuster, sagte H. beiläufig [...]. Damit war das geregelt.“ (KM: 51) Die Idee einer Norm und eines zu folgenden Vorbilds wird in dieser Definition impliziert. Diese Überschrift hat zur Folge gehabt, mehrere Deutungen in der Forschung zu entwickeln. Wolfgang Emmerich zufolge ist der Begriff „Kindheitsmuster“ im Sinne des englischen „pattern“ zu verstehen und beinhaltet die Verhaltensmuster, die sich im Laufe der primären Sozialisierung entwickeln, das heißt innerhalb der Familie, der Schule und des Bundes deutscher Mädchen. Alles in allem habe dieses Muster zur Verdrängung des moralischen Gewissens Nellys und zur Übereinstimmung mit dem Verhalten, das von ihr erwartet wurde, beigetragen. (Emmerich 1996: 321) Nury Kim schlägt eine andere und interessante Deutung des Begriffs vor, die sich auf der Etymologie des Begriffs „Muster“ stützt. „Muster“ kommt aus dem Lateinischen monstrum und Kim geht davon aus, dass Kindheitsmuster nicht nur die Dimension des Verhaltensmusters beinhaltet, sondern auch die Erzählung des Werdegangs eines Kindes zur Zeit des Nationalsozialismus zu einem Monstrum, das autoritäre Züge entwickelte. (1995: 198) Kim bemerkt folglich, dass die Erzählerin einer bestimmten Vorgehensweise folgt: Nelly identifiziere ein autoritäres Charakteristikum ihres kindlichen Selbst und versuche dann, zum Ursprung dieses Charakteristikums durch die Erwähnung von Anekdoten zurückzukommen. (Kim 1995: 198) Dies stellt plastisch dar, dass die Vergangenheit konstitutiv für die Gegenwart ist.
Gleichsam war Nelly ihrer Willensfreiheit beraubt, sie war unmündig. Die Kindheit war die Zeit der Unmündigkeit und der intellektuellen Abhängigkeit. Der Umweg über Kants Theorie erweist sich als interessant, in dem Maße, wie er in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht die Unfähigkeit des Kindes, sich als Ich-behauptende Instanz auszudrücken, thematisiert:
Es ist aber merkwürdig: daß das Kind, was schon ziemlich fertig sprechen kann, doch ziemlich spät (vielleicht wohl ein Jahr nachher) erst anfängt durch Ich zu reden, so lange aber von sich in der dritten Person sprach, (Karl will essen, gehen u. s. w.) und daß ihm gleichsam ein Licht aufgegangen zu sein scheint, wenn es den Anfang macht durch Ich zu sprechen (...) Vorher fühlte es bloß sich selbst, jetzt denkt es sich selbst. (Kant 1833: 4)
Nellys Unfähigkeit, „ich“ zu sagen, ist der Beweis für ihre bisherige Unfähigkeit, sich als reflexive Instanz wahrzunehmen. Der Prozess, der sich während der Kindheit normalerweise entwickelt, konnte im Falle Nellys aufgrund dieses Kindheitsmusters nicht vollendet werden. Die Propaganda des NS-Regimes hielt Nelly in ihrer Unmündigkeit und ihrem kindlichen Wesen zurück, so dass sie erst später – eigentlich bei ihrer Reise nach L. – zu einer Reflexion über sich selbst kommt und beginnt, sich endlich selbst zu denken. Das Ende der NS-Zeit war jedoch kein Synonym für eine sofortige Bewusstmachung dieser Unmündigkeit. In den 1970er Jahren zeigt Nelly noch gewisse Schwierigkeiten, diese Vergangenheit mit Abstand zu betrachten. Die Anerkennung der Prägung dieses Musters konnte nur später erfolgen, nachdem Nelly eine gewisse Distanz gegenüber ihrer Vergangenheit gewinnen konnte. Diese Distanz wurde durch das literarische Medium ermöglicht.
IV. Pronomina und Erzählebenen: Grammatikalische Mittel als Behelf zur Selbstentfremdung Nellys
Die narrativen Prozesse, die Nellys Erzählung kennzeichnen, spiegeln die Absicht der Erzählerin, sich von ihrer eigenen Vergangenheit zu abstrahieren, deutlich wider. Das sichtbarste und vielleicht entscheidendste Merkmal dieser Erzählung besteht in der Verwendung verschiedener Personalpronomen durch Nelly, um ihre Geschichte zu beschreiben. Die geheimnisvollen ersten Worte der Erzählerin gelten als Rechtfertigung dieser literarischen Wahl: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“ (KM: 9) Über sich selbst in der zweiten oder dritten Person zu sprechen, ermöglicht die Entstehung eines Entfremdungseffekts: Auf diesem Weg kann Nelly befreit über ihre Kindheit schreiben und sich nicht nur als Subjekt, sondern auch als Objekt wahrnehmen, was die Analyse der Vergangenheit vereinfacht.
Außerdem entsprechen die verschiedenen Personalpronomen den verschiedenen Epochen von Nellys Leben. Das „Sie“ stellt Nellys Kindheit dar, während das „Du“ Nelly während ihres Aufenthaltes in Polen 1971 entspricht. Dies hat zur Folge, eine zersplitterte Persönlichkeit zu skizzieren: Der Leser stellt eine Art Nichtkongruenz zwischen den verschiedenen Zeitperioden des Lebens Nellys fest. Sie erscheint als ein zersplittertes „Ich“ und das ganze schriftliche Unternehmen, das Nelly beginnt, erweist sich als der Versuch, zu einem vereinigten „Ich“ zu gelangen. Antje Diesing zufolge ist „die umfangreichste und am einfachsten in Grenzen zu fassende Ebene die des erinnerten Kindes, dem die Erzählerin den Namen Nelly Jordan gibt.“ (2010: 148) Gewissermaßen schafft die Erzählerin eine Dichotomie zwischen ihrem kindlichen und heutigen Selbst, um Ersteres besser untersuchen zu können. Die Situation ist jedoch unklar, wenn man sich mit der Situation mit dem „Du“ beschäftigt. Das Du dient zur Identifikation der Erzählerin im Jahre 1971. Man könnte erwarten, dass Nelly die Aufarbeitung ihrer Vergangenheit sechzehn Jahre nach Ende des Krieges hätte gelingen können. Es ist offenbar nicht der Fall und sie betont den Unterschied zwischen der ersten und zweiten Person und die Notwendigkeit, sich als ein „Du“ zu betrachten, um sich zu erinnern:
Es ist der Mensch, der sich erinnert – nicht das Gedächtnis. Der Mensch, der es gelernt hat, sich selber nicht als ein Ich, sondern als ein Du zu nehmen. Ein Stilelement wie dieses kann nicht Willkür oder Zufall sein. Der Sprung von der dritten Person in die zweite (die nur scheinbar der ersten nähersteht) am Morgen nach einem lebhaften Traum. (KM: 157)
Genau wie mit ihrer Kindheit distanziert sich Nelly von ihrem Selbst, um es besser zu analysieren. In dieser Hinsicht ist es entscheidend, dass Nelly den Prozess der Erinnerung durch den Menschen unterstreicht. Ihre Feststellung kristallisiert den Übergang zur Mündigkeit und zur wahren Auseinandersetzung mit der Vergangenheit heraus. Erst nach dem Krieg versteht Nelly, dass sie in der Diktatur gelebt hat. Die Erinnerung und das Schreiben haben zu dieser Bewusstmachung beigetragen.
V. Gedanken über den Schreibprozess: Schreiben als therapeutische Erfahrung
In Kindheitsmuster erweist sich die literarische Tätigkeit als therapeutisch. Das Schreiben soll zum besseren Verständnis der Vergangenheit beitragen. Das Werk beinhaltet eine metanarrative Ebene, indem Nelly selbst das Buch über ihre Geschichte schreibt. Für sie ist es auch die Gelegenheit, sich mit Problemen wie der Selbstzensur auseinanderzusetzen. Die bevorzugte Art und Weise zu schreiben soll dazu beitragen, die Klippe der Selbstzensur zu umschiffen, wie es im folgenden Ausschnitt festzustellen ist: „Das große und vielschichtige Problem der Selbstzensur. Ganz anders muss geschrieben werden. [...] Wenn die Sehnsucht, die Notwendigkeit, gekannt zu werden, mehr zu fürchten ist als alles.“ (KM: 298)
Diese Schwierigkeit, sich – ehrlich – zu erinnern, gilt auch, so Nury Kim, für das Schreiben, das ebenfalls durch Angst und Hemmungen charakterisiert ist. (1995: 192) Kim zufolge spiegelt der Roman seine eigene Entstehungsgeschichte wider: Gleichsam beinhalte er eine Metaebene. Die schreibende Nelly bezieht sich auch in vielerlei Hinsicht auf die schreibende Christa Wolf, die auf die Ästhetik der „subjektiven Authentizität“ verweist. Interessanterweise stellt Ursula Kuzi fest, dass sich die Autorin Nelly von anderen Autoren unterscheide, indem sie „ [...] ohne den zärtlichen Stolz, mit dem andere Autoren ihre Schreibutensilien als Markenzeichen ihrer beruflichen Identität erwähnen“ schreibe. Das Schreiben erweise sich eher als eine Art Aufgabe, die ihren Ursprung in Nellys schlechtem Gewissen finde. (Kuzi 2003: 107) Die Dimension der Pflicht ist besonders spürbar, wenn Nelly 1971 mit ihrer Tochter Lenka diskutiert und Lenka eine Anekdote erzählt. Als Nellys Tochter von einer Jugend-Tourist-Reise nach Zivohost zurückkam, sangen Touristen ein Lied, in dem ein polnisches Mädchen vergewaltigt wird. (KM: 373-375) Das Lied wird mit Lachen und Leichtigkeit empfangen, was Nelly – also das „Du“ – erschüttert wahrnimmt. Sie schätzt, dass „[d]ie Sänger keine Zeile dieses Buches lesen [werden]. Sie haben nicht hingesehen, als, vor nun schon zwei Jahren, drei polnische Frauen, die im deutschen KZ Ravensbrück ‚medizinischen Experimenten’ unterworfen waren, vor der Fernsehkamera aussagten.“ (KM: 374) Das Schreiben steht gegen das, was diese Sänger verkörpern: den Leichtsinn gegenüber der schweren NS-Vergangenheit und ihre Neigung, das unermessliche Leiden, das die NS-Kräfte die polnische Zivilbevölkerung unter anderem erdulden ließ, so einfach zu vergessen. Nellys Unternehmung besteht im Bruch des Tabus und des Vergessens durch das Schreiben. Das Schreiben ist nicht nur mit einem verfeinerten Bewusstsein der eigenen Vergangenheit, sondern auch mit einem Gefühl der Schuld verbunden.
VI. Die Frage der Schuld: Schreiben, um nicht zu vergessen
Die Frage der Schuld erweist sich als eines der Hauptmotive von Nellys Schreiben. Sie hat selbst während der NS-Zeit mitgemacht, hat den Ideen, die im Bund deutscher Mädchen verteidigt wurden, zugestimmt. Obschon sie sich keine Ausschreitungen vorzuwerfen hat, hat sie trotzdem das Regime intellektuell unterstützt und die Schuld, die daraus folgt, kommt als wiederkehrendes Motiv in ihrer Narration vor. Im Jahre 1971 liest sie ein Gedicht von Günter Kunert, das über ihre Haltung Aufschluss gibt: „Hüte dich vor der Unschuld/deiner Weggenossen.“ (KM: 371) Das Zitat aus Kunerts Gedicht ist auch interessant, insofern als Kunert zu Nellys – und zu Christa Wolfs – Generation gehört. Genau wie sie ist er 1929 geboren, jedoch als Sohn einer jüdischen Mutter. Diese Reise in die eigene Vergangenheit ist nicht nur eine Unternehmung, um die Ursachen des Bösen besser zu verstehen, sondern auch, um nicht zu vergessen und ihre Verantwortung wachzurufen. Nellys Erzählung lässt entdecken, dass sie zwischen zwei Tropismen hin- und hergerissen war. Auf der einen Seite herrschte der mütterliche Tropismus, das heißt der Tropismus der Moralität und des Verdachts gegenüber Hitler und dessen Propaganda. Auf der anderen Seite stand der Tropismus, der durch die Faszination für Hitler und die Entfaltung innerhalb des Bundes deutscher Mädchen gekennzeichnet war. Beispielsweise betonte die junge Nelly: „Ich will keine Jüdin sein.“ (KM: 186), was symptomatisch für das Bekenntnis zu den Ideen ist, die ihr in der Schule vorgestellt und wiederholt wurden.
Des Weiteren ist Nellys Erzählung symptomatisch für eine ganze Generation, wie es durch das Treffen einer anderen Person veranschaulicht wird: „Ich wollte Ihnen bloß sagen, ich gehöre Ihrer Generation an, und ich kann mit dem Schuldgefühl von damals her nicht fertig werden.“ (KM: 402) Die Haltung dieser Person spiegelt diejenige Nellys wider: Die Zugehörigkeit zu dieser Generation, die im Dritten Reich aufgewachsen ist, erscheint als Quelle der unerträglichen Schuld, die diese Menschen einige Jahrzehnte nach Ende des Krieges immer noch empfinden. In dieser Hinsicht erweist sich das Schreiben als der Versuch, etwas zu unternehmen, um nicht bei einer Art Passivität zu verbleiben und aktiver zu handeln. Im Gegensatz dazu taucht eine entgegengesetzte Haltung während derselben Lesung auf, als eine andere Person „[...] öffentlich die Frage [stellte], ob die Literaten nicht endlich aufhören sollten mit der Pflichtübung Auschwitz.“ (KM: 402) Dieser Mensch stellt das Engagement von deutschen Intellektuellen gegen das Vergessen infrage. Durch diese Aussage bekommt der Leser den Eindruck, dass ein neues Kindheitsmuster entstanden sei, das darin bestehe, die Frage der Schuld des deutschen Volkes im Zweiten Weltkrieg immer wieder aufzuwerfen. Die Beschäftigung mit der neueren Vergangenheit sei jetzt zu einem unvermeidlichen Thema bei den zeitgenössischen Schriftstellern geworden. Die Gewissenserforschung solle jetzt vorbei sein und die Intellektuellen sollten an die Zukunft denken, was in der zeitgenössischen Literatur nicht zu beobachten sei, da zahlreiche Autoren die Notwendigkeit verspürten, die Erfahrung des Dritten Reiches zu thematisieren und diese prägende Vergangenheit durch das literarische Medium aufzuarbeiten.
VII. Schlussbemerkungen
Kindheitsmuster ist beispielhaft für die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit. In diesem Werk greift Christa Wolf auf Nelly zurück, um ihre eigene Erfahrung auf eine distanzierte Art untersuchen zu können. Die Notwendigkeit, sich zu erinnern, ergibt eine interessante und komplizierte Erzählstruktur, die die Objektivierung der Kindheit zum besseren Verständnis in der Gegenwart darstellt. Das zersplitterte „Ich“, das Nelly 1971 immer noch ist, lässt sich durch diesen Prozess erfahren. Auf den letzten Seiten von Kindheitsmuster kommt man zum Ende des Schreibens im Jahre 1975. Letztendlich hat Nelly es geschafft, „ich“ zu sagen und die verschiedenen Dimensionen ihrer Vergangenheit zu versöhnen. Die Vergangenheitsbewältigung und das Ende des Schreibprozesses sind dementsprechend kongruent, was die Effizienz der Literatur als Schlüsselmittel zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit für Christa Wolf deutlich zeigt.
Juli 2015
Bibliografie
Wolf, Christa (1976): Kindheitsmuster. Berlin/Weimar: Aufbau.
Diesing, Antje (2010): Erzählen als identitätsbildender Prozess in Christa Wolfs „Nachdenken über Christa T.“ und „Kindheitsmuster“. Frankfurt am Main: Peter Lang.
Emmerich, Wolfgang (1996): Kleine Literaturgeschichte der DDR. Leipzig: Gustav Kiepenheuer Verlag.
Kant, Immanuel (1833): Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Leipzig: Verlag von Immanuel Müller.
Kim, Nury (1995): Allegorie oder Authentizität: zwei ästhetische Modelle der Aufarbeitung der Vergangenheit: Günther Grass’ „Die Blechtrommel“ und Christa Wolfs „Kindheitsmuster“. Frankfurt am Main: Peter Lang.
Köpnick, Lutz (1992): „Rettung und Destruktion: Erinnerungsverfahren und Geschichtsbewußtsein in Christa Wolfs ‚Kindheitsmuster’ und Walter Benjamins Spätwerk“, Monatshefte, Vol. 84, No. 1. Madison: University of Wisconsin Press, S. 74-90.
Kuzi, Ursula (2003): Metafiction and Aesthetics in Christa Wolf's Nachdenken Über Christa T., Kindheitsmuster and Sommerstück. Leicester : University of Leicester.
Schmidt, Nadine J. (2014): „‚Grenzen des Sagbaren’ – Reflexionen zur literarischen Konstruktion von Erinnerung in Christa Wolfs Roman ‚Kindheitsmuster’“, in: Gansel, Carsten (Hrsg.): Christa Wolf – Im Strom der Erinnerung. Göttingen: V&R, S. 121-138.
Internetquelle
Mayer, Hans (1977): „Der Mut zur Unaufrichtigkeit“. Der Spiegel, Nr. 16 – URL: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-40915865.html (Letzter Abruf am 12.07.2015)
Pour citer cette ressource :
Nicolas Batteux, Christa Wolfs "Kindheitsmuster". Der schwierige Umgang mit der Kindheit im Nationalsozialismus als literarischer Gegenstand, La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), août 2016. Consulté le 07/12/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/litterature/mouvements-et-genres-litteraires/nachkriegsliteratur/christa-wolfs-kindheitsmuster-der-schwierige-umgang-mit-der-kindheit-im-nationalsozialismus-als-literarischer-gegenstand