Maxim Leo im Interview
Maxim Leo wurde 1970 in Ost-Berlin geboren, ist gelernter Chemielaborant, studierte Politikwissenschaften, wurde Journalist. Er arbeitet als Reporter bei der Berliner Zeitung, schreibt mit Jochen-Martin Gutsch Bestseller über sprechende Männer und außerdem Drehbücher für den »Tatort«. 2006 erhielt er den Theodor-Wolff-Preis. Für sein autobiographisches Buch Haltet euer Herz bereit wurde er 2011 mit dem Europäischen Buchpreis ausgezeichnet. 2014 erschien sein Krimi Waidmannstod. Ein Fall für Kommissar Voss. Maxim Leo lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Berlin. (Quelle Kiepenheuer & Witsch)
Cette interview a été réalisée lors de la venue de Maxim Leo à Lyon en mai 2017 dans le cadre des Assises Internationales du Roman. Nous remercions chaleureusement Maxim Leo d'avoir accepté de répondre aux questions de Mareike Boldt, étudiante à l'ENS de Lyon.
In Ihrem Buch Haltet euer Herz bereit sprechen Sie häufig über die Rolle der Worte und über die der Sprache, zum Beispiel in Bezug auf Ihren Großvater oder auf Ihre Mutter. Welche Bedeutung haben Worte und Sprache für Sie, als Schriftsteller und Journalist?
Es spielt natürlich eine ganz entscheidende Rolle, weil ohne die Sprache gäbe es ja keine Literatur, kein Buch und keinen Satz, keinen Gedanken. Obwohl Gedanken weiß ich nicht.
Gedanken gäbe es vielleicht schon, nur keine ausgesprochenen.
Darüber gibt es große Streits. Vor allem Anthropologen diskutieren darüber, ob und wie die Sprache und die Gedanken sowie die Schrift miteinander zusammenhängen. Aber ich weiß, für mich als Autor ist die Sprache natürlich essentiell und vor allem der Ton. Um den geht es vor allem beim Schreiben. Das Schwierigste ist es, einen angemessenen Ton für die Geschichte und für die Position des Erzählers zu finden und ihn zu halten.
Und haben Sie das Gefühl, dass Sie jetzt die Wahrheit im Buch darstellen?
Nö, ich stelle meine Wahrheit dar. Aber ich versuche, den Leuten so gerecht wie möglich zu werden und zu verstehen, wie sie funktionieren, was sie bewegt und was sie antreibt. Aber die Wahrheit gibt es ja nicht, da jeder seine eigene Wahrheit hat. Bei der Interpretation der Anderen wird auch jeder zum anderen Ergebnis kommen. Wenn man zum Beispiel dieselbe Familie von fünf verschiedenen Leuten aus dieser Familie beschreiben lassen würde, würde man am Ende fünf verschiedene Familien haben, insofern gibt es die Wahrheit nicht.
Bei der gestrigen Veranstaltung ging es unter anderem um die Vergangenheitsbewältigung in Büchern. Inwiefern hat Ihnen das Schreiben geholfen, Ihre Kindheit und die Vergangenheit in der DDR nachvollziehen zu können und zu verstehen?
Das hat mir sehr geholfen, weil Schreiben im Grunde natürlich eine sehr therapeutische Angelegenheit ist. Beim Schreiben finden bestimmte Verdauungsvorgänge statt, man verdaut seine Gedanken, seine Erfahrungen. Somit werden sie aus dem Kopf herausgeholt und in die richtigen Bahnen gebracht, geordnet. Man versteht dann die Dinge besser. Insofern ist Schreiben eigentlich bzw. kann zumindest für jemanden eine Art Kur sein. Wahrscheinlich kann es auch extrem verstörend sein. Es hat aber zumindest immer etwas Therapeutisches.
Okay, für Sie hat es dann auch etwas Therapeutisches?
Ja, weil man in dem Moment anfängt zu reden. Die Psychotherapie beruht ja auf nichts Anderem als darauf, dass die Leute anfangen, über sich zu reden, und wenn man sich selbst zum Reden bringt, ist man sozusagen sein eigener Therapeut, ohne dass man jetzt ein großes Problem dafür haben müsste. Man schafft aber den eigenen Sinn für sich selbst und für das eigene Leben und kann vielleicht sogar die eine oder andere Lüge, mit der man so lebt, besser erkennen und dann kann man sie auch wieder vergessen.
Und welches war der schwierigste Moment während der Entstehung des Buches? Hatten Sie überhaupt einen schwierigen Moment?
Mhm, vielleicht waren die Interviews am schwierigsten, in denen es um sehr persönliche und auch um schmerzhafte Dinge ging. Mit meiner Mutter nicht nur in der Rolle des Sohnes zu sein, sondern auch in der des Geschichtenerzählers, des Familienforschers, der auch Fragen stellen muss, weil sonst die Arbeit keinen Sinn macht, wenn man nur da lang navigiert, wo es leicht und unverletzlich ist, das waren so die schwierigen Momente.
Und wo Sie Ihre Familie ansprechen, es ist ja ein sehr persönliches Buch, gerade wenn Sie über Ihre Mutter sprechen und zeigen, wie sie zur DDR stand... Wie hat Ihre Familie das Buch aufgenommen?
Ganz gut, es gab jetzt keine größeren Proteste.
Und haben es alle gelesen?
Na ja, mein Großvater - der eine Großvater hatte einen Schlaganfall und der andere war tot. Meine Mutter ist selber Historikerin und weiß, wie nervend es ist, wenn irgendwelche Leute sagen, dass sie das ganz anders sehen. Es gab eine Regel bei uns: Ihr könnt sagen: „So war es nicht“, dann können wir darüber reden, aber ihr könnt nicht sagen: „Das mag ich nicht“, wenn es um Fakten geht, um nicht mögen oder mögen.
Konnten Sie diese Rolle, die Sie angesprochen haben, die als Familienforscher, konnten Sie die einfach wieder ablegen?
Ich bin ja gerade dabei ein neues Buch über meine Familie zu schreiben, insofern geht es immer weiter. Aber es öffnet natürlich Türen, die man auch nicht wieder zu machen kann, weil was man weiß, weiß man. Es ist aber nicht so, als ob es mir den Nachtschlaf rauben würde oder mich ständig wahnsinnig beschäftigten würde.
Beim Verfassen einer Autobiographie oder bei einem biographischen Interview werden viele Bewusstseinsprozesse beim Protagonisten selbst angestoßen. Was haben Sie über sich selbst gelernt? Nicht nur über Ihre Familie, sondern auch über sich selbst?
Durch den therapeutischen Effekt des Schreibens begreift man viel über sich selbst. Ich habe unter anderem festgestellt, dass der Individualismus, den wir so meinen, in uns zu tragen, zum Teil Illusion ist, und dass wir ein kleines Glied einer langen Kette sind, die sich Familie nennt und die uns ein paar Möglichkeiten gibt, nach links oder nach rechts zu gehen, aber diese Möglichkeiten sind doch nicht so groß, man ist sehr vorherbestimmt. Diese Illusion gestehen sich die wenigstens ein. Man möchte Herr seines Geschicks sein.
Ja, man möchte nicht so sein wie seine Eltern.
Da habe ich eine gewisse Demut gemerkt. Am Ende ist man nicht so frei, wie man denkt.
Und hat es Sie am Anfang Überwindung gekostet, dieses Buch zu schreiben?
Nö.
Gab es einen Auslöser?
Den Auslöser beschreibe ich ja ganz am Anfang im Buch, dass mein Großvater einen Schlaganfall hatte. Er war so immer das geistige Oberhaupt der Familie und hat gesagt, was man denken kann und was nicht, was man sagen kann. Als er nicht mehr da war bzw. sprachlich nicht mehr anwesend war, gab es auf einmal die Möglichkeit, ein Buch zu schreiben. Dieses wäre schwieriger gewesen, wenn er noch im Vollbetrieb seiner sprachlichen, kommunikativen Kräfte gewesen wäre.
Glauben Sie, dass er sich dann mehr eingemischt hätte?
Es erschien mir auch unangemessen, ihn auf diese Art und Weise zu bewerten und sein Leben als Familienforscher auseinander zu nehmen, weil er immer die große Autorität in unserer Familie darstellte. Der Schlaganfall hatte die Lage verändert. Als ich vom Krankenhaus nach Hause fuhr, als ich ihn zum ersten Mal dort besucht hatte, dachte ich, dass jetzt die Zeit sei, ein Buch zu schreiben.
Nun eine allgemeinere Frage zur DDR-Thematik. Inwiefern ist für Sie der Begriff „Wendeliteratur“ und die DDR-Thematik immer noch aktuell?
Ich bin eher erstaunt, dass es immer weitergeht. Jetzt kommt gerade die Verfilmung von In Zeiten des abnehmenden Lichts von Ruge in die Kinos. Das liegt auch daran, dass es spannende Geschichten sind. Das Interesse an diesen Stoffen ist immer noch sehr groß. Diktaturen liefern immer spannende Geschichten. Deswegen sitzen in den Stasi-Archiven Leute aus Hollywood, die nach Stoffen suchen und daraus Filme oder Bücher machen wollen. Ich glaube also, diese Geschichten sind nicht so schnell auserzählt, wobei das Problem ist, dass die Dramatisierung dieser Stoffe immer zum Recht ähnlichen Ergebnis führt: die Bösen werden immer böser, die Guten immer besser. Es kommt zu einer karikaturhaften DDR, die es so eigentlich nicht gegeben hat, eine Museums-DDR, die es nie gab, die aber alle in Filmen und Büchern toll finden.
Fast 30 Jahre nach dem Mauerfall existieren immer noch viele Klischees. Finden Sie, dass Filme wie Sonnenallee oder Goodbye Lenin zur Aufklärung über den Alltag in der ehemaligen DDR beitragen?
Auf jeden Fall. In einer gutgemachten Komödie ist ja Wahrheit. Ich finde solche Filme viel wichtiger als solche ernsthaften, furchtbaren deutschen Fernsehfilme, die immer mit der gleichen Langeweile dieselben Sachen und dieselben Stasimänner zeigen. Goodbye Lenin und die Sonnenallee sind da die wenigen Hoffnungsschimmer. Der Rest ist ja langweilig, abgrundtiefe, furchtbar langweilige Scheiße und insofern ist die Komödie eher der Weg als diese ernsthafte Beschäftigung, die am Ende auch nur zu einer Klischeefabrik wird.
Es gibt ein Bild von der DDR, das viele gerne behalten würden, sowohl die, die darin gelebt haben, als auch die aus dem Westen, die versuchen, ein Teufelsbild zu schaffen. Über die Jahre hinweg hat sich jeder ein Bild zurechtgeschnitten und wird davon auch nicht mehr lassen.
Vielen Dank für das Interview.
Ja gerne.
Pour citer cette ressource :
Mareike Boldt, Maxim Leo, Maxim Leo im Interview, La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), octobre 2018. Consulté le 06/12/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/litterature/litterature-contemporaine/entretiens/maxim-leo-im-interview