Marcel Beyer - Die Stimmen der Geschichte
Gespräch mit Marcel Beyer (27.05.2011)
https://video.ens-lyon.fr/eduscol-cdl/2011/2011-05-27_ALL_Beyer.mp4
In ihrem Erinnerungsbuch über ihre Deportation nach Auschwitz Keine von uns wird zurückkehren stellt die französische Autorin Charlotte Delbo folgenden Gedanken an den Anfang: "Heute bin ich nicht sicher, ob das, was ich geschrieben habe, wahr ist. Sicher bin ich, dass es der Wahrheit entspricht." (1990 : 6). Diese Reflexion über den Wahrheitsgehalt von Erinnerungen ist die zentrale Frage ihrer Erinnerungs-Texte (vgl. Qui rapportera ces paroles ?). Immer wieder fragt sie sich, wer ihre Geschichte hören wird und ob ihre Erinnerungen dem entsprechen, was sie gesehen, gehört und also erlebt hat. Die Frage nach dem, was wahr ist oder was der Wahrheit entspricht, wenn man über die Vergangenheit schreibt, wird so zum Motor des Erzählens. So wie sich Charlotte Delbo auf die Stimme ihrer Erinnerung verlassen muss, um ihre Schreckenserinnerungen aufzuzeichnen und so ein wahres Zeugnis ablegen zu können, so legt der Erzähler Marcel Beyer das Ohr an die Wand der Geschichte, um die eine Stimme aus dem Stimmengewirr der Vergangenheit herauszuhören, die ihm ihre Geschichte erzählen will.
Auf diese Art und Weise kann er Geschichten in unsere Gegenwart herüberholen und sie uns übermitteln. Marcel Beyer ist in diesem Sinn ein Sammler von Stimmen, die aus der unmittelbaren deutschen Vergangenheit in unsere Gegenwart hinüberdringen und wie bei jedem ernsthaften Sammler ist nicht das Objekt das Sammelziel allein, sondern die dahinterstehende Geschichte und die sich dabei ergebenden Beziehungen zu anderen Geschichten, wie es Walter Benjamin in Das Passagenwerk beschrieb. Und diese Beziehung zwischen dem Sammler und den Objekten entspringt bei Marcel Beyer einem Gefühl der Verantwortung. Denn "wäre es nicht denkbar [...]", so lässt W. G. Sebald seinen Erzähler Austerlitz im gleichnamigen Buch fragen, "dass wir auch in der Vergangenheit, in dem, was schon gewesen ist und größtenteils ausgelöscht ist, Verabredungen haben und dort Orte und Personen aufsuchen müssen, die, quasi jenseits der Zeit, in einem Zusammenhang stehen mit uns?" (2011 : 363). In seinen Romanen geht Marcel Beyer diese Verabredungen ein, leiht den Stimmen aus der Vergangenheit seine Erzählerstimme und nimmt dabei Orte und Personen in den Blick, die mit uns in einem Zusammenhang stehen. Der Blick in seinem Erzählen, ist dabei immer ein Blick in die Abgründe der deutschen Geschichte.
Am Anfang des Erzählens in seinem Roman Flughunde, der im Jahr 1995 erschien, steht folgende Frage: An welchem Ort findet man eine Stimme? An welchem Ort formt sie eine Geschichte? Der Erzähler Hermann Karnau, ein Stimmensammler wie Marcel Beyer, erkennt: "Dort in der Dunkelheit des Kehlkopfes: Das ist deine eigene Geschichte, die du nicht entziffern kannst." (1995 : 22). In diesem Zitat finden sich drei Schlüsselwörter für das Verständnis des gesamten Textes: Dunkelheit, Kehlkopf und Geschichte. Der erzählerische Abstieg in die Abgründe der deutschen Geschichte führt unweigerlich in die Dunkelheit. Nahezu der ganze Text spielt in dunklen Räumen, in düsteren Gewölben oder bei Nacht. Der Akkustiker Hermann Karnau, der für die Tonqualität von Joseph Goebbels Reden bei Nazi-Aufmärschen und -Versammlungen verantwortlich ist, möchte eine Karte der menschlichen Stimme erstellen und trägt auf ihr ein, an welchen Orten und in welchen Situationen die Laute, die der menschliche Kehlkopf formt, entstehen. Er begibt sich für diese Arbeit auch an die Schreckensorte des Dritten Reiches, in die Folterkeller und auf die Schlachtfelder, um den Kehlkopflauten zu lauschen, sie aufzuzeichnen und sie schließlich auf seiner Karte einzutragen. Die Konzentration auf den Laut macht das Licht unnötig. Das, was er hört, und das, was die Dunkelheit ausblendet, bilden den Kern der Geschichte, die Marcel Beyer uns erzählt und der er sich in seinem Schreiben nachdrücklich zuwendet. Es geht dabei nicht nur um die Laute oder das Schweigen derjenigen, die Hermann Karnau aufzeichnet und die er kartographieren möchte, sondern es geht auch um das Schweigen einer Gesellschaft, um das Verschweigen von schuldvoller Verstrickung in ein mörderisches System. Das Hörbarmachen des Schweigens, das Ausleuchten der Dunkelheit ist für Marcel Beyer ein Weg, diesem Verschweigen Fragen entgegen zu stellen, um mögliche Antworten zu erhalten. Denn die Frage lautet, wie man der Geschichte der Eltern, der Großeltern nahe kommen kann, wenn es da nur Schweigen gibt. In seinem im Jahr 2000 erschienenen Roman Spione heißt es: "Die Toten werden die Lebenden nicht in Ruhe lassen [...]. Wenn du einmal in ihre Nähe kommst, werden sie dich nie wieder gehen lassen." (2002 : 110). Sprach im Roman Flughunde eine Stimme direkt aus der Vergangenheit, so rücken in Spione die Toten in den Mittelpunkt, deren Schweigen durch die Generation der Enkel gebrochen werden soll. Doch da, wo es keine Stimme mehr gibt, können Bilder helfen. Der Blick in die Vergangenheit wird für vier Jugendliche, die die Geschichte ihrer Großeltern rekonstruieren wollen anhand alter Fotoalben möglich. Dem Schweigen der Bilder müssen sie ihre eigenen Stimmen entgegensetzen. Und das, was sie sich erzählen, was sie vermuten, was auf den Bildern zu sehen ist und vor allem, was auf den fehlenden Fotos zu sehen sein könnte, lässt sie an die Vergangenheit ganz nah herankommen, ohne jedoch ihr wirklich das Geheimnis entreißen zu können. "Durch den Spion steht alles nah und ungreifbar vor meinem Auge" (2002 : 9), sagt der Ich-Erzähler am Anfang des Textes. Er versucht mit seinen beiden Cousinen und seinem Cousin, die Geschichte ihres Großvaters zu ergründen, und sein Geheimnis aufzudecken. Was sie dabei vor allem entdecken, sind blinde Flecken in der Familiengeschichte. Es sind auch die Leerstellen der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Das Schweigen der Großelterngeneration über ihre Verstrickung in die planmäßige Vernichtung des europäischen Judentums ist für die Enkelgeneration in vielerlei Hinsicht ein vergiftetes Erbe und eine schwere Bürde (vgl. die einschlägigen Untersuchungen von Harald Welzer). Die vier Jugendlichen müssen sich die Vergangenheit, die einerseits so fern und andererseits durch ihren Großvater so nah an sie herangerückt ist, immer wieder neu erzählen und die Leerstellen füllen. "Was ich nicht sehen kann, muss ich erfinden. [...] Ich habe längst damit begonnen, die unklaren, die blinden Stellen nach meinen eigenen Vorstellungen zu ergänzen." (2002 : 66-67). Die offenen Fragen führen wieder hinab in die Abgründe der Geschichte. Die Jugendlichen entdecken, dass sie in einer Verbindung zu den Toten stehen und dass die Taten ihrer Großeltern, ihre Hinterlassenschaft trotz des Schweigens von unheimlicher Präsenz ist. Marcel Beyer findet dafür das überzeugende Bild eines gigantischen Pilzes, der unter den Häusern der Protagonisten wächst. Dieser Pilz wächst und wuchert un-terirdisch, ist nicht sichtbar, aber dennoch vorhanden. Seine drohende Präsenz wird nur wahrnehmbar, wenn er seine Sporen aussendet, die in der Luft fliegen und einen eigenartigen Geruch mitbringen, der von Fäulnis und Tod zeugt (2002 : 15f.). Später werden Gräben um die Häuser gezogen und Löcher gegraben, um die Gefahr, die von diesem Pilz und seinen Aus-dünstungen ausgeht, zu beseitigen. Doch die Sporen, die der Pilz ausstößt, bleiben und nisten sich überall ein. Sie durchdringen die Poren und setzen sich fest. Und wie die verdrängte und verschwiegene Vergangenheit in Form der Toten zurückkehrt und ihr Recht einklagt, so legen sich die Sporen über alles und jeden als Zeichen der Auslassungen der "Schweigegeneration" (so Marcel Beyer in seiner Rede zur Verleihung des Uwe-Johnson-Preises 1997. In: Die Zeit 49/1997). Die Vergangenheit manifestiert sich auf den eigenartigsten und oft auch abgründigsten Wegen in der Gegenwart, dies müssen die Jugendlichen bei ihrer Suche lernen. Ob das allerdings, was sie zu finden geglaubt haben, wahr ist oder der Wahrheit entspricht oder doch nur Fantasie ist, dies muss offen bleiben.
Das fragmentarische, das zerstückelte Wissen, aus dem Erinnerung besteht und zusammengesetzt wird, ist auch zentrales Thema des Romans Kaltenburg von Marcel Beyer, der im Jahr 2008 veröffentlicht wurde. Im Zentrum des Textes stehen Ludwig Kaltenburg, ein Ornithologe, der in Dresden ein privates Forschungsinstitut betreibt und sein ehemaliger Schüler und späterer Mitarbeiter Hermann Funk. Versuchten in Spione die Jugendlichen anhand der Fotos die Vergangenheit zum Sprechen zu bringen, so steht Hermann Funk vor der Aufgabe, die Bruchstücke der Erinnerungen an seinen Lehrer, Mentor, Kollegen und Freund zu einer Erzählung zusammenzufügen. Woran die Jugendlichen in Spione noch scheiterten, das gelingt nun Katharina Fischer, einer jungen Dolmetscherin, die mit Funk in ein Gespräch über Kaltenburg gerät und ihn dazu bringt, über die Vergangenheit zu sprechen und seine Erinnerungen an ihn zu formulieren. Funk muss allerdings bemerken, dass er, je mehr er die Erinnerungsbruchstücke über Kaltenburg in seiner Erzählung zusammenfügt, immer mehr dunkle Seiten in Kaltenburgs Vergangenheit entdeckt, die Kaltenburg systematisch verschwiegen hatte. So stehen in diesem Text auch wieder die zentralen Themen Marcel Beyers im Mittelpunkt: die Vergangenheit und ihre Rekonstruktion in der Erinnerung. Während sich Funk in den Gesprächen mit Katharina Fischer langsam dem schwarzen Loch in Kaltenburgs Leben nähert, nämlich der Tätigkeit Kaltenburgs als Mediziner in einem geheimen Forschungsprojekt in den 40er Jahren in Posen und in Stalingrad, muss er erkennen, dass das Leben Kaltenburgs und damit auch sein eigenes Leben im Schatten einer "Todesatmosphäre" (2008 : 82f. und 346) stand. In seinen Versuchen, die frühen Erinnerungen an Kaltenburg zu rekonstruieren, meint er anfangs noch, die Beziehung, die der von Vater und Sohn gleicht, zu retten. Doch je tiefer er in die Vergangenheit hinabsteigt, umso mehr muss er erkennen, dass die Erinnerungen Fallstricken gleichen. "Als könnten Erinnerungen Halt bieten", weist seine Ehefrau Klara ihn in einem Gespräch zurecht, "wo doch im Gegenteil die Rückschau uns zutiefst erschüttern, unser jetziges Leben aus den Fugen geraten lassen müsste." (2008 : 358). Die Beschäftigung mit Vögeln, mit toten Vögeln, wie es sein Mentor Kaltenburg tat, ist seine Art, diese Erschütterung auszuhalten und die Erfahrung des Schreckens und des Terrors, den er als Kind während der Bombenangriffe auf Dresden erlebte und bei denen er seine Eltern verlor, zu bannen. In den Gesprächen mit Katharine Fischer und seinen Erinnerungsversuchen bemüht sich Funk, das Leben Ludwig Kaltenburgs offenzulegen und diesen Menschen zu verstehen. Das Porträt, das dabei entsteht, weist wiederum dunkle Stellen auf, es sind die Leerstellen der "Todesatmosphäre" des Dritten Reiches, in das Kaltenburg involviert war. Kaltenburgs rätselhafte Tier-Studie "Urformen der Angst" verweist indirekt auf diese Leerstellen, ohne sie jedoch zu füllen. Am Ende muss Hermann Funk allerdings erkennen, dass er selbst bei Befolgen des Mottos seines Lehrers Kaltenburg, "Leben heißt Beobachten" (2008 : 128), nicht in der Lage sein wird, die gesamte Wahrheit über ihn zu erfahren. Sein Blick durch den Spion auf das Leben Ludwig Kaltenburgs zeigt beim Rückblick immer mehr verschwommene Stellen und blinde Flecken, die sich "an den Rändern ausfransen und sich er-neut zu schwarzen Flecken zusammenziehen." (2008 : 395).
Unverständlich und rätselhaft wie die Flugbahnen seiner geliebten Vögel bleibt die Lebensspur von Ludwig Kaltenburg. Und für Hermann Funk wird es erst mit dem zeitlichen Abstand der Jahre möglich sein, sich den dunklen Stellen dieses Lebens zu nähern. Im Versuch, die Erinnerung sprechen zu lassen, die Fragen erneut zu stellen, auf die Ludwig Kaltenburg ihm zeitlebens keine Antwort gab, kann er der Wahrheit seines Lebens erst spät auf die Spur kommen. Die toten und verbrannten Vögel, die in der Nacht des Bombenangriffs in Dresden auf den jungen Hermann Funk herab fielen, kann er so am Ende seines Lebens wieder fliegen sehen. Ob das wahr ist oder nur der Wahrheit entspricht, ist letztendlich unerheblich, in der Erinnerung fliegen die Vögel weiter.
Bibliographie
Walter Benjamin: Der Sammler. In: Das Passagenwerk, Band I, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1983.
Marcel Beyer: Flughunde. Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1995. Marcel Beyer: Spione. Frankfurt am Main, Fischer, 2002.
Marcel Beyer: Kaltenburg. Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2008.
Charlotte Delbo: Keine von uns wird zurückkehren. Band I. Aus dem Französischen von Elisabeth Thielicke. Frankfurt am Main, Fischer, 1990.
Charlotte Delbo: Qui rapportera ces paroles ? Paris, Editions Pierre-Jean Oswald, 1974.
Winfried Georg Sebald: Austerlitz. München/Wien, Hanser, 2011.
Harald Welzer: Opa war kein Nazi: Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt am Main, Fischer, 2002.
Pour citer cette ressource :
Andreas Girbig, Marcel Beyer - Die Stimmen der Geschichte, La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), juillet 2011. Consulté le 21/11/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/litterature/litterature-contemporaine/entretiens/marcel-beyer-die-stimmen-der-geschichte