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Etwas Lebendiges in der Welt

Par Arno Geiger
Publié par cferna02 le 23/06/2015

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Dans le cadre des Assises Internationales du Roman, Arno Geiger livre sa conception de l'art, une quête de l'éphémère, de l'approximatif, et son aversion envers l'art total épris de pureté et de perfection.
Der österreichische Schriftsteller Arno Geiger wurde 1968 in Bregenz geboren. Er wuchs in Wolfurt, im Voarlberg, auf. Er studierte Deutsche Philologie, Alte Geschichte und Vergleichende Literaturwissenschaft in Innsbruck und Wien. Von 1986 bis 2002 arbeitete er als Videotechniker auf den Bregenzer Festspielen. Seit 1993 lebt er als freier Schriftsteller in Wolfurt und Wien. Für seinen Roman Es geht uns gut wurde er 2005 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.

Neuester Roman: Selbstporträt mit Flusspferd, Hanser Verlag, 2015, 288 Seiten.
C. Helie Gallimard

Ce texte fait partie des actes de la neuvième édition des Assises Internationales du Roman, organisées par la Villa Gillet en mai 2015 à Lyon.

Die Überlieferung besagt, Kaiser Karl V. habe vier Sprachen gesprochen, spanisch, italienisch, französisch und deutsch. Spanisch habe er mit Gott gesprochen, italienisch mit Frauen, französisch mit Männern, deutsch mit seinem Pferd. Die deutsche Sprache hat in ihrer Geschichte viele Auszeichnungen erfahren, diejenige, dass Kaiser Karl V. mit seinem Pferd deutsch gesprochen habe, kommt mir als eine der schönsten vor. Hätte ich ein Pferd, spräche auch ich mit ihm deutsch, in der Sprache, die mich trägt und fortbringt, in der Sprache, die mich abwirft und liegen lässt. In der Sprache, die mir aufhilft.

Zuhause bin ich in meiner Muttersprache, nicht in meinem Vaterland. Mein Argwohn gegen Vaterländer rechtfertigt sich aus der Geschichte.

Einem gewissen Sachzwang folgend, akzeptiere ich das Konzept von Ländern und spreche ihnen einen gewissen Wirklichkeitswert nicht ab. Österreich existiert geographisch, es existiert als Rechtsperson, man kann es im Atlas finden und mit ihm Verträge abschließen. Trotzdem halte ich es mit Arno Schmidt, der gesagt hat, ein Schriftsteller soll nicht Vaterland und nicht Religion haben.

So kommt es, dass meine Kunst kein Land abbildet und keine Ideen, sondern Menschen, Menschen mit einer eigenen Geschichte, einem eigenen Denken und einem eigenen Empfinden. Literatur soll Freund des Individuums sein, nicht Freund des Allgemeinen – das ist als Hintergrund meines Schreibens immer da.
Der Mensch ist höher geboren als sein Land.

Länder verursachen mir ebenso keinen Schauer des Erhabenen wie das Absolute und Unabänderliche. Ich pfeife auf das Absolute und Unabänderliche und hoffe, dass mich diese Haltung vor Ressentiments bewahrt, und auch davor, mir beim Schreiben zu sicher zu sein. Wer schreibt, sollte sich nicht sicher sein.

Totalität in der Politik und in der Kunst ... dieser Traum von Gottesgnadentum ist schrecklich. Mir gefällt, was der Philosoph Ludwig Wittgenstein schreibt: dass er glaube, das gute Österreichische sei besonders schwer zu verstehen, in gewissem Sinne subtiler als alles andere, weil seine Wahrheit nie auf Seiten der Wahrscheinlichkeit stehe, immer auf Seiten des Merkwürdigen. Für mich ist das Merkwürdige das Selbstverständliche, und nur Menschen mit Sehnsucht nach dem Absoluten – nach Nationalstaaten und Nationalismen zum Beispiel – können das Selbstverständliche des Lebendigen beunruhigend finden.

Das Lebendige ist das, was mich als Schriftsteller anzieht. Das Beiläufige, das Ungefähre und Unbestimmte. Das Private, Alltägliche und Flüchtige. Flüchtig wie ein am Himmel galoppierendes Pferd. Gleichzeitig habe ich eine geradezu pathologische Abneigung gegen alles Perfekte. Ich bin kein Dichter der Perfektionsanstrengung, weil ich finde, der Wunsch nach Perfektion ist Teil der von Sigmund Freud attestierten Menschheitsneurose. Man spürt darin die Sehnsucht, Ebenbild Gottes zu sein als etwas absolut Durchgeistigtes und Reines.

Die Forderung nach absoluter Reinheit, die Forderung nach der absoluten Nation, nach dem perfekten Kunstwerk ... es gibt daran nichts Seriöses, überhaupt nichts! Das Totale, das Absolute, das Perfekte ... diese Dinge sind feststehend, starr, und alles Starre steht dem Lebendigen entgegen. Ich werde immer für das Lebendige eintreten.

Sprache ist etwas Lebendiges in der Welt. Kunstwerke sind etwas Lebendiges in der Welt. Hätte ich ein Pferd, spräche ich mit ihm deutsch.

 

Pour citer cette ressource :

Arno Geiger, "Etwas Lebendiges in der Welt", La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), juin 2015. Consulté le 05/11/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/litterature/litterature-contemporaine/textes-inedits/etwas-lebendiges-in-der-welt