Die Formierung der „Gründungsgrünen“ in der Bundesrepublik der siebziger und frühen achtziger Jahre
"Wer den Gründungskongreß der Grünen in allen Phasen erlebt hat, dem muß die Vorstellung, die Entscheidung über eine neue Regierung, ja gar die innen- und außenpolitische Handlungsfähigkeit einer Bundesregierung solle im Zweifel von dieser Organisation abhängen, grelle Alpträume verursachen", urteilte die Süddeutsche Zeitung in ihrer Ausgabe vom 15. Januar 1980, in der sie über den Gründungsparteitag der Grünen in Karlsruhe berichtete (Leicht 1980). Von einem "zweitägigen Satzungs-Towuwabohu" sprach der Spiegel und orakelte, die neu gegründete Partei erscheine "gar zu bunt, [...] als dass sie auf längere Sicht Bestand haben dürfte" (Der Spiegel 1980/4, 26). Neben dem für damalige bundesdeutsche Parteitage völlig untypischen Stil war es immer wieder die ideologische und habituelle Vielfalt der 1004 Delegierten in der Karlsruhe Stadthalle, die die Aufmerksamkeit der Beobachter auf sich zog. Und noch aus der Rückschau nimmt sich das Zusammentreffen an jenem 12. und 13. Januar 1980 bemerkenswert aus: "Bäuerliche BauplatzbesetzerInnen vom Kaiserstuhl", so die ehemalige Bundesvorsitzende der Partei Jutta Ditfurth, "begegneten radikalen Feministinnen aus Köln. Militante Brokdorf-DemonstrantInnen aus Hamburg und Hessen diskutierten mit christlichen PazifistInnen aus Bayern und VogelschützerInnen aus Niedersachsen. Punks mit Schlipsträgern. KommunistInnen mit AnthroposophInnen." (Ditfurth 2000, 71).
Diese Vielfalt an Personen, Projekten und Programmen ist für die frühen Grünen ebenso charakteristisch wie erklärungsbedürftig. "Nicht rechts, nicht links, sondern vorn", lautete eine häufige Selbstcharakterisierung aus grünen Gründungstagen. Klassische industriegesellschaftliche Erklärungsmuster wie das Rechts-Links-Schema erwiesen sich zur Einordnung der grünen Bewegung tatsächlich als äußerst erklärungsarm. Das Spektrum reichte vom konservativen Naturschutz über verschiedene Konzepte eines "Dritten Weges" bis hin zu unterschiedlichen Gruppen der undogmatischen Neuen Linken und Teilen kommunistischer Kadergruppen.
Ausgehend von dieser Diversität gilt es daher zu fragen: Was einte die aus Sicht des klassischen Rechts-Links-Denkens so verschiedenartigen grünen Gruppierungen und warum kam es im Verlauf der siebziger Jahre zu diesem ebenso auffälligen wie wirkmächtigen Zusammenschluss? Im Folgenden soll mit den frühen Grünen also eine zentrale politisch-ideologische Formation der siebziger und frühen achtziger Jahre betrachtet werden. Aus politik- und sozialwissenschaftlicher Perspektive hatte die junge Partei zeitgenössisch bereits große Aufmerksamkeit auf sich gezogen (zum Beispiel: Klotzsch/Stöss 1986, van Hüllen 1990, Raschke 1993, Keller 1993). Ziel dieses Beitrags und des ihm zugrunde liegenden Dissertationsprojektes ist es hingegen, die Entstehung von grüner Bewegung und Partei aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive zu beleuchten. Den zeithistorischen Hintergrund bilden die soziokulturellen und ideellen Transformationsprozesse der Jahre ab etwa 1970, die seit einiger Zeit ins Zentrum des Interesses der gegenwartsorientierten Zeitgeschichtsforschung in Deutschland gerückt sind. Ihnen wird dabei häufig ein tiefgreifender Wandlungs- und Umbruchscharakter attestiert (zum Beispiel: Archiv für Sozialgeschichte 2004, Doering-Manteuffel/Raphael 2008, Jarausch 2008, Wirsching 2006).
Der Beitrag gliedert sich in drei Teile. Zunächst sollen die wichtigsten Stationen des grünen Formierungsprozesses und seine relevanten Akteure skizziert werden. Der zweite Teil gilt den Entstehungsbedingungen der jungen Partei. Drittens soll der Blick auf Programmatik und Ideenwelt der Gründungsgrünen geworfen werden.
1. Stationen und Akteure im grünen Formierungsprozess
Seit den 1960er Jahren hatten in der Bundesrepublik wie überall in Westeuropa neue Akteure die politisch-öffentliche Bühne betreten. Das parlamentarische Parteiensystem wurde herausgefordert von außerparlamentarischen Gruppen und Bewegungen, angefangen mit Außerparlamentarischer Opposition und Studentenbewegung (Gilcher-Holtey 2008, Frei 2008) fortgesetzt mit den so genannten "Neuen Sozialen Bewegungen", die das Bild der siebziger und achtziger Jahre prägten (Dalton/Kuechler 1990, Roth/Rucht 2008). Das Verhältnis zwischen 1968 und den "Neuen Sozialen Bewegungen" war durch Kontinuität und Aufbruch gleichermaßen geprägt.
a) Das antiautoritäre Erbe der 68er: Die Alternativbewegung
Vornehmlich aus dem antiautoritären Erbe der 68er ging eine vielfältige und breit gefächerte Alternativbewegung hervor, die vor allem in den bundesdeutschen Groß- und Universitätsstädten verankert war (Huber 1980, Reichardt 2005). Von der Mehrheit der 68er unterschieden sie sich in räumlicher und zeitlicher Perspektive. Lokale und regionale Aktionszusammenhänge gewannen an Bedeutung, alternatives Engagement galt häufig konkreten Missständen und Interessen vor Ort. An die Stelle von Zukunftsoptimismus und universellen Veränderungsansprüchen setzten sie die Idee der "konkreten Utopie", die zeitnahe Verwirklichung eigener Wertmaßstäbe und Vorstellungen im Hier und Jetzt. Dennoch knüpfte die Alternativbewegung mit ihrer Betonung von Subjektivität und Individualität an das Erbe der 68er-Bewegungen an. Orientiert an alternativen Werten und dem Traum vom "anderen Leben" bildete sie eine breite Gegenkultur mit einer eigenen Infrastruktur aus. Diese reichte von politischen und sozialen Projekten über eigene Buchläden und Verlage bis hin zu Kinderläden, Kneipen und Kommunikationszentren. Städtische Wohngemeinschaften und soziale Beratungszentren gehörten ebenso dazu wie Landkommunen, die zwar nicht besonders zahlreich, aber in der öffentlichen Wahrnehmung besonders präsent waren (Huber 1980, Reichardt 2005). Hinzu kam ein breites Netz alternativer Presseprodukte, die der herrschenden Mehrheitsmeinung eine eigene alternative Wahrheit gegenüberstellen sollten. Aus dieser Tradition ging 1978 zum Beispiel auch die tageszeitung, die taz, hervor, die als bundesweites Organ einer undogmatischen Linken gegründet wurde (Flieger 1992, Magenau 2007).
b) Die Welt der Bürgerinitiativen
Parallel dazu waren am Übergang zu den siebziger Jahren im gesamten Bundesgebiet sog. Bürgerinitiativen entstanden (Mayer-Tasch 1981). Die zeitgenössischen Beobachter in den sozialwissenschaftlichen Instituten und in den Redaktionsstuben verwandten für sie zunächst den Begriff "Ein-Punkt-Bewegung", der deutlicher ihr eigentliches Spezifikum traf: Die Bildung einer Interessengruppe aus einem konkreten Anlass heraus und auf einen einzelnen Missstand bezogen. So waren es zunächst vor allem Angelegenheiten der lokalen und regionalen Stadt- und Verkehrsplanung sowie Interessen in den Bereichen Bildung und Umweltschutz, die Bürgerinitiativen auf den Plan riefen. In ihnen engagierten sich häufig Menschen, die bis dato nicht im außerparlamentarischen Raum politisch aktiv gewesen waren. Im Laufe der siebziger Jahre erfuhr das Phänomen erhebliche Veränderungen. Neue Themen wurden entdeckt und vor allem die Umweltproblematik gewann stetig an Dominanz. Gleichzeitig fand eine zunehmende Vernetzung im Denken und Handeln statt. Punktuelle Missstände wurden nun in einen größeren Zusammenhang gestellt. Damit einher ging die zunehmende kommunikative und organisatorische Vernetzung zwischen den einzelnen Initiativen. Es kam zu regionalen und überregionalen Zusammenschlüssen der vormals häufig isoliert arbeitenden Gruppen (Engels 2006, Rucht 1980, 80f.).
c) Der Weg in Partei und Parlamente
Ob Alternativkultur, Bürger- oder Basisinitiativen: Gemeinsam war ihnen, dass sie weniger die Themen und Konflikte der Arbeits- und Industriegesellschaft zum Gegenstand hatten, sondern Anliegen, die quer zu den klassischen industriegesellschaftlichen Konfliktlinien lagen und sich unter dem Stichwort "Lebensqualität" subsumieren ließen. Darüber hinaus waren die unterschiedlichen Gruppen und Organisationsformen in der Praxis nicht immer klar zu trennen. Gerade im Laufe der siebziger Jahre kam es zunehmend zu Verschmelzungen und Vernetzungen. Damit kam ein neuer Begriff ins Spiel, der der "Bewegung" (Raschke 1991). Man sprach von den sog. "Neuen sozialen Bewegungen" und fasste darunter die Umwelt- und die Anti-AKW-Bewegung, die Frauen- und die Dritte-Welt-Bewegung, die Hausbesetzer- und die Friedensbewegung. In der alltäglichen Zusammenarbeit und anlässlich gemeinsamer Protestereignisse trafen die unterschiedlichen Gruppierungen und Strömungen zusammen. Man fand Widersprüchliches, aber auch Gemeinsames. Für die schrittweise Formierung der Grünen kommt vor allem dem Anti-AKW-Konflikt große Bedeutung als Integrationsfaktor zu. 1977 - als der Atomkonflikt mit Großdemonstrationen in Brokdorf, Grohnde und Kalkar seinem Höhepunkt entgegenstrebte - wurden denn auch erste konkrete Schritte in Richtung der Parlamente unternommen (Engels 2006).
Dieser Weg verlief zunächst den unterschiedlichen Traditionen entsprechend entlang zweier Stränge (Klotzsch/Stöss 1986). Ein so genannter grüner Strang speiste sich aus denjenigen Gruppen, die sich in ihrer außerparlamentarischen Arbeit hauptsächlich auf die Umweltthematik konzentrierten. Vor allem in Gebieten mit schweren Umweltkonflikten, etwa in den Regionen, wo erbittert um die Errichtung von Atomkraftwerken gestritten wurde, errangen diese grünen Listen bei Kommunalwahlen erste Parlamentssitze. Neben diesem grünen Zweig der Vernetzung entfaltete sich ein so genannter bunter Strang, vor allem in den norddeutschen Großstädten, in mittleren Universitätsstädten sowie in West-Berlin. Neben der Umweltproblematik, die auch hier eine wichtige Rolle spielte, vertraten diese Listen einen bunten Strauß programmatischer Forderungen vor allem soziokultureller Spielart. Der parlamentarische Erfolg beider Stränge stellte sich gleichzeitig und sehr schnell ein. Bereits im Sommer 1978 gelangen der "Bunten Liste - Wehrt Euch" bei den Hamburger Bürgerschaftswahlen und der "Grünen Liste Umweltschutz" bei den niedersächsischen Landtagswahlen Achtungserfolge von 3,5 beziehungsweise 3,9 Prozent. In ein westdeutsches Landesparlament zog mit der "Bremer Grünen Liste" (BGL) erstmals im Oktober 1979 eine alternative Wahlformation ein. Ernsthafte Verhandlungen über die Bildung einer gemeinsamen politischen Kraft auf Bundesebene wurden seit 1978 geführt. Einige Gruppen bildeten im März 1979 ein Mitte-Rechts-Bündnis, das zu den ersten Wahlen zum Europäischen Parlament antrat. Besondere rechtliche Rahmenbedingungen ermöglichten nicht nur regulären Parteien, sondern auch Wahllisten die Kandidatur. Da dies die Möglichkeit bot, das heiße Eisen der Parteigründung bei den Diskussionen außen vor zu lassen, trat somit keine bundesdeutsche grüne Partei, sondern die "Sonstige Politische Vereinigung - SPV Die Grünen" zu den Europawahlen im Juni 1979 an. Mit fast 900.000 Stimmen, einem Anteil von 3,2 Prozent, scheiterte sie zwar an der Fünf-Prozent-Hürde, konnte jedoch einen Achtungserfolg verbuchen. In die Diskussionen um die Gründung einer grünen Bundespartei waren die bunten und alternativen Gruppen dann wieder einbezogen. Am 12./13. Januar 1980 in Karlsruhe wurde schließlich unter Beteiligung nahezu aller Kräfte aus dem grün-alternativen Bewegungssektor die Bundespartei "Die Grünen" aus der Taufe gehoben. Der Weg von der Bürger- und Basisinitiative zur Bundespartei war jedoch keinesfalls ein gerader und ohne Umwege, und er war auch nur eine Entwicklungsmöglichkeit von vielen.
d) Gründungsnetzwerke und herausragende Persönlichkeiten
Bei der Formierung der Grünen handelte es sich um einen dezentralen Prozess, Themen und Politikstil waren nicht mit denen der etablierten Parteien zu vergleichen. Dennoch spielten auch hier einzelne Netzwerke, Organisationen und Persönlichkeiten eine wichtige Rolle, die häufig in spezifischen Teilmilieus der "Neuen Sozialen Bewegungen" verankert waren, teilweise aber auch nur geringe Rückbindung zu ihnen hatten. Im bunten Spektrum finden wir zunächst Vertreter unterschiedlicher kommunistischer Kadergruppen, die sich als Zerfallsprodukt der 68er-Bewegung an der Wende zu den siebziger Jahren gegründet hatten. In der politischen Kultur der Bundesrepublik konnten sie jedoch keine einflussreiche Rolle gewinnen. Im letzten Drittel des Jahrzehnts waren die Gruppen Auflösungserscheinungen unterworfen, so dass markante Teile, vor allem aus dem Hamburger Kommunistischen Bund (KB), den Weg in die Grünen fanden (Koenen 2001, Kühn 2005). Darüber hinaus treffen wir auf weitere Gruppen der Neuen Linken, etwa die dem Alternativmilieu nahe stehenden Spontis (Kraushaar 2004) oder Teile des Offenbacher Sozialistischen Büros (SB), das ein wichtiges Netzwerk der undogmatischen Linken in den siebziger Jahren darstellte. Ihm gehörte unter anderem die Ikone der westdeutschen Studentenbewegung, Rudi Dutschke, an, der in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre zunehmend Interesse für ökologische Belange entwickelt hatte und Mitglied der Bremer Grünen wurde. Daneben agierten kleinere anthroposophisch orientierte Gruppen wie die "Freie Internationale Universität" des Künstlers Joseph Beuys oder, damit eng verbunden, der in Südwestdeutschland verankerte "Achberger Kreis". Diese fühlten sich ebenso dem Gedanken eines Dritten Weges verpflichtet wie zum Beispiel die populistische "Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher" (AUD), die von dem 1905 geborenen August Haußleiter rhetorisch geschickt geleitet wurde (Stöss 1980). Dieser konnte nicht nur auf den Vorsitz gleich mehrerer nationalneutralistischer Splitterparteien, sondern auch auf eine Vergangenheit im Umfeld der "Konservativen Revolution" zurückblicken. Die Angehörigen der AUD waren häufig im ersten Jahrhundertdrittel geboren worden und vom Geist der Reformbewegungen geprägt, die ein Charakteristikum im Deutschland der 1890er bis 1920er Jahre gewesen waren (Kerbs/Reulecke 1998). In den siebziger Jahren hatte die AUD einen Schwenk hin zu Umwelt- und Lebensschutz vollzogen, im Zuge dessen eine ganze Reihe jüngerer Mitglieder hinzustieß, die im linken oder sozialdemokratischen Spektrum sozialisiert worden waren. Schließlich findet sich auf dem konservativen Flügel der frühen Grünen die von dem ehemaligen Bundestagsabgeordneten und Umweltexperten der CDU, Herbert Gruhl, 1978 ins Leben gerufene "Grüne Aktion Zukunft" (GAZ). Diese ebenfalls stark von ihrem Vorsitzenden geprägte Gruppe stand für eine Mischung aus apokalyptischem Ökofatalismus und autoritären Staats- und Gesellschaftsvorstellungen, ein Rezept, das sich auch schon in Gruhls Katastrophenbestseller Ein Planet wird geplündert (Gruhl 1975) aus dem Jahr 1975 findet.
Darüber hinaus spielten einzelne Persönlichkeiten, die keinem dieser Netzwerke klar zuzuordnen waren, eine einflussreiche Rolle. Zu nennen ist vor allem die bekannte Frauen- und Friedensaktivistin Petra Kelly sowie prominente Unterstützer aus dem öffentlichen Leben. Etwa der Schriftsteller Carl Amery, der dem einflussreichen europäischen Netzwerk Ecoropa angehörte und sich unter anderem gemeinsam mit Heinrich Böll, dem evangelischen Theologen Helmut Gollwitzer und dem Zukunftsforscher Ossip K. Flechtheim in einer Wählerinitiative für die Grünen zur Europawahl engagierte. Andere Namen, die man heute mit grüner Politik verbindet, finden wir im grünen Gründungsprozess erst später wieder. Dazu zählt Joschka Fischer, der mit seiner Spontigruppe 1982 in die Partei eintrat oder auch seine Frankfurter Widersacherin, die Ökosozialistin Jutta Ditfurth, die auf Bundesebene ebenfalls erst später eine herausragende Rolle zu spielen begann.
2. Ungewöhnliche Koalitionen im Lichte neuer Herausforderungen
Die Formierung der "Neue Sozialen Bewegungen" ebenso wie der Grünen ist nicht zu trennen von den gesellschaftlichen Strukturen und Entwicklungen, welche die westeuropäischen Industriegesellschaften seit den späten 1960er Jahren kennzeichneten. An der Wende zu den siebziger Jahren waren tiefe Einschnitte und Veränderungen in der Nachkriegsentwicklung zu beobachten (zum Beispiel: Archiv für Sozialgeschichte 2004, Doering-Manteuffel/Raphael 2008, Jarausch 2008, Wirsching 2006).
a) Das Ende der Nachkriegszeit
Dies betraf zunächst die ökonomische Entwicklung. Hatten die fünfziger und sechziger Jahre im Zeichen von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder gestanden, so sorgten der Zusammenbruch des Weltwährungssystems und der Ölpreisschock zu Beginn der siebziger Jahre dafür, dass sich die weltwirtschaftlichen Verwerfungen auch in der Bundesrepublik negativ bemerkbar machten. An die Stelle von wirtschaftlichem Wachstumsglauben und der Hoffnung auf "immerwährende Prosperität" (Lutz 1989) war die Angst vor Arbeitslosigkeit und Rezession getreten (Abelshauser 2004, 288-292, Wirsching 2006, 223-288). Einschneidende Veränderungen schienen ebenfalls im Bereich von Liberalisierung und bürgerlichen Freiheiten zu drohen. Im Zeichen der Wirtschaftskrise stagnierten das hoffnungsvolle "Mehr-Demokratie-Wagen" Willy Brandts und der Anspruch einer Liberalisierungs- und Reformpolitik unter staatlicher Ägide. Der Kanzlerwechsel hin zu Helmut Schmidt bildete die sinnfällige Zäsur (Görtemaker 2004, 563-596, Wolfrum 2006, 330-335). Mit der ökologischen Frage drängte ab Beginn des Jahrzehnts zudem ein weiteres Thema massiv auf die öffentliche Agenda, das erheblichen Anlass zu pessimistischen Prognosen gab (Brüggemeier 1998, Kupper 2003). Oftmals düstere Zukunftsszenarien in Buchform wurden zu wahren Verkaufsschlagern, auch außerhalb des grün-alternativen Milieus. Sie schienen bestätigt durch eine Folge großer Umweltkatastrophen, etwa 1976 im italienischen Seveso oder 1979 im amerikanischen Harrisburg. Der apokalyptische Grundton wurde gegen Ende des Jahrzehnts nochmals verstärkt durch die neu entfachte Sorge um den Frieden. Der NATO-Doppelbeschluss des Jahres 1979 beendete eine Phase der Entspannung im Ost-West-Konflikt, deren Höhe- und vorläufiger Endpunkt die KSZE-Schlussakte von 1975 gewesen war. Der Angstbegriff "Atomkraft" verband die beiden Überlebensthemen Umwelt und Frieden inhaltlich wie semantisch miteinander (Nehring 2004, Weart 1988).
b) Die eigene Gegenwart als historische Ausnahmesituation
Die grüne Bewegung war im Kontext dieser neuen Problemhorizonte entstanden. Die hier nur kurz benannten Themen - Wirtschaft und bürgerliche Freiheiten, Umwelt und Frieden - wurden von ihren Anhängern häufig als Teilaspekte einer umfassenden Gesamtkrise wahrgenommen. Weit verbreitet war die Vorstellung, in einer Zeit zu leben, die in ihrer Krisenhaftigkeit einzigartig sei. Joseph Beuys und Wilfried Heidt etwa schrieben 1979:
"Insbesondere im geteilten Deutschland stehen wir Bedrohungen und Gefährdungen unserer Existenz gegenüber, wie es sie in der ganzen bisherigen Geschichte noch nie gegeben hat. Alle heute noch herrschenden Kräfte im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben betreiben eine Richtung, die uns täglich näher to the point of no return heranführt, so tief in die Krise hinein, daß völker-, vielleicht erdteilvernichtende Katastrophen, vielleicht sogar der Menschheitsuntergang immer wahrscheinlicher werden." (Beuys/Heidt 1979, 6)
Das Denken zahlreicher Gründungsgrüner war von einem intensiven Krisendiskurs gezeichnet, der häufig in geradezu apokalyptischem Denken gipfelte (Gebauer 2003). Weit verbreitet war außerdem das Gefühl, in einer Epoche zu leben, in der die geschichtliche Entwicklung in eine neue Phase getreten sei, in der "Zukunft" möglicherweise nicht mehr denkbar schien: "Das Auftreten der Grünen ist ein Ereignis der letzten Phase eines geschichtlichen Entwicklungsprozesses, an dessen Ende entweder eine zerstörte Erde oder eine planetarische soziale Erneuerung stehen wird." (Heidt 1980, 81). Diese apokalyptische Grundstimmung spiegelte sich teilweise auch in quasi-missionarischen Selbstbeschreibungen wider, wie etwa in der des Gewerkschafters Dieter Burgmann:
"Die grüne Bewegung und Partei ist historisch nur den großen Bewegungen der Geschichte wie z.B. der Arbeiterbewegung vergleichbar. Sie ist aber noch viel umfassender, viel existenzieller und deshalb auch nicht an bestimmte Klassen und Bevölkerungsschichten gebunden. Der Atomtod unterscheidet nicht zwischen Arm und Reich, zwischen Arbeitern, Angestellten und Bauern oder Beamten. [...] Die Geschichte wird uns nicht die Zeit lassen, eine zweite, bessere, vollkommenere Partei zu schaffen. [...] Die Zeit haben wir nicht mehr. Wir, die Grünen, stehen also unter absolutem Erfolgszwang. Entweder gelingt es, mit der grünen und alternativen Bewegung die notwendige Wende rechtzeitig herbeizuführen, oder die Katastrophe wird über die Menschheit hereinbrechen. Dies ist der Wettlauf mit der Zeit, [...]. Es geht um alles oder nichts!" (Burgmann 1980, 4)
c) Die Überwindung traditioneller Kategorien und die grüne Skepsis gegenüber dem Fortschritt
Angesichts der eigenen, als krisenhaft empfundenen Gegenwart wurden die hergebrachten Kategorien zur Beschreibung der Situation sowie die etablierten Instrumente zu deren möglicher Lösung als unbrauchbar und überholt verworfen. Carl Beddermann, Vorsitzender der konservativ orientierten "Grünen Liste Umweltschutz", die 1978 in Niedersachsen erste grüne Wahlerfolge erreicht hatte, beschrieb dies in einem Interview so einfach wie deutlich: "Die tradierten Kategorien können wir vergessen bei unserem Anliegen. Die Abwendung der heraufziehenden Öko-Krise ist eine neue Perspektive, wo diese alten Kategorien nicht mehr einzusetzen sind." (Beddermann 1978). Und der deutsch-französische Sponti Daniel Cohn-Bendit konstatierte aus der Rückschau mit ähnlicher Stoßrichtung: "Die Kritik an der industriellen Produktionsweise hat unsere linken Kategorien durcheinandergewirbelt." (Cohn-Bendit 2001, 260).
Die als historische Ausnahmekonstellation wahrgenommene Situation, für die die hergebrachten Institutionen, Kategorien und Begrifflichkeiten nicht mehr adäquat erschienen, machte deshalb aus Sicht der Akteure Kompromisse und ungewöhnliche Zusammenschlüsse jenseits der bisher vorherrschenden Parameter notwendig. "Die ökologische Bewegung", so schreibt die "Grüne Liste Schleswig-Holstein", "ist die Antwort nachdenklich gewordener und verantwortungsbewusster Menschen auf die selbstmörderisch gewordene Entwicklung der Industriestaaten." ("Grüne Liste Schleswig-Holstein" 1982, 6). Die Negation hergebrachter Kategorien und Ordnungsmuster kam in unterschiedlicher Weise zum Ausdruck, zum Beispiel indem mit dem Fortschrittsbegriff eine Schlüsselkategorie moderner Gesellschaften infrage gestellt wurde. Im Zuge der skizzierten Problemlagen, vor allem im Lichte der ökologischen Herausforderung, sahen viele Gründungsgrüne die Notwendigkeit einer Neudefinition von Fortschritt: "[...] die 70-er Jahre unseres Jahrhunderts", so Petra Kelly, "sind gekennzeichnet durch eine historische Zäsur, deren Tragweite uns erst langsam bewusst wird. Der jahrhundertealte, selbstverständliche Fortschrittsglaube hat sich ad absurdum geführt: Jetzt geht es um ein menschenwürdiges Überleben, das [...] eine Umstellung in nahezu allen Bereichen unserer Politik und unseres Lebens verlangt." (Kelly 1983, 2). Doch das bedeutete nicht, dass Fortschritt von den Gründungsgrünen per se zurückgewiesen wurde. Stattdessen haben wir es auch beim Fortschrittsbegriff mit einem jener grünen Begriffe zu tun, die von verschiedener Seite ganz unterschiedlich gefüllt wurden. Gründungsgrüne konservativer Provenienz wie vor allem Herbert Gruhl wandten sich scharf gegen das Fortschrittsdenken der Aufklärung, das er als Grundübel der Umwelt- und Menschheitskrise in den siebziger Jahren ausgemacht hatte. An dessen Stelle empfahl er die Rückkehr zu vor-aufklärerischen Prinzipien als geistiges, ein strenges Austeritätsprinzip als wirtschaftliches Regenerationsprogramm (Gruhl 1975).
Es war dieses Austeritätsprogramm, gepaart mit autoritären Staatsvorstellungen, das viele Grüne gegen Gruhl und seine Anhänger aufbrachte. Bettina Hoeltje, die über den "Kommunistischen Bund" zu den Grün-Alternativen gekommen war, forderte etwa, mit dem "Ausverkauf" von "fortschrittlichen Positionen" müsse endlich Schluss gemacht werden (Hoeltje 1980, 3). Gerade diejenigen Gründungsgrünen, die aus dem linken oder dem Gewerkschaftsspektrum stammten, hielten einen Fortschritt hin zur materiellen Besserstellung der Arbeiterschaft sowie anderer, wenig privilegierter Schichten für unverzichtbar. Darüber hinaus war für die Mehrheit der Gründungsgrünen die Reformierung und Liberalisierung der westdeutschen Gesellschaft, die in den sechziger und siebziger Jahren stattgefunden hatte (Herbert 2002), nicht verhandelbar.
Ein Fortschrittsverständnis, das für weite Teile der frühen Grünen, vor allem jene zwischen den extremen ideologischen Rändern prägend war, war das des Schriftstellers und Linkskatholiken Carl Amery. Er warnte vehement vor einer Fortschrittskritik, die Stillstand oder gar Umkehr predigte (Amery 1978, 86f.). Stattdessen monierte er, "dass man vom 'Fortschritt' einen höchst mechanistischen, groben und materiellen Begriff" habe. Im Zeitalter der ökologischen Bedrohung bedürfe es deshalb einer Rückbesinnung auf den "wahren Fortschritt" und dessen humanistische Grundlagen, einen Fortschritt des Bewusstseins und der Erkenntnis (Amery 1975, 2). In der Kritik stand also vor allem ein Fortschrittsbegriff, der von weiten Teilen der bundesdeutschen Politik und Gesellschaft ausschließlich materiell und technisch definiert wurde und damit aus Sicht der Grünen für die zeitgenössischen Problemlagen verantwortlich war.
d) Die Negation des Rechts-Links-Schemas und die Suche nach dem Dritten Weg
Am deutlichsten jedoch wurde der Wunsch nach Überwindung traditioneller Kategorien und Ordnungsmuster in der Forderung nach einer Überwindung des Rechts-Links-Gegensatzes, der seit der Französischen Revolution den politisch-ideologischen Diskurs strukturiert hatte (Bobbio 2006). Die Europagrünen etwa machten sich zum Ziel, "das antiquierte Links-Rechts-Schema zu überwinden."(Mitteilungsblatt SPV 1979). Und der ehemalige Bundesgeschäftsführer aus der Frühzeit der Partei, Lukas Beckmann, bemerkte noch aus der Rückschau:
"DIE GRÜNEN haben eine linke Tradition. Gleichwohl sind wir keine linke Partei. Eine ökologische Gesellschaft, in der Ökologie mehr ist als Umweltschutz und eine gesellschaftsökologische Orientierung meint, wird das Ergebnis eines neuen Denkens sein, daß sich dem tradierten rechts-links-Klischee nicht zuordnen lässt. Ökologisch denken heißt querdenken und beinhaltet die Bereitschaft, mit bisher gültig gehaltenen Ideologien zu brechen [...]." (Beckmann 1987, 3)
Zeithistorisch ist die grüne Forderung nach einer Überwindung der klassischen Rechts-Links-Dichotomie an vorderhand zwei Prozesse gekoppelt, die sich in den westeuropäischen Gesellschaften in den späten siebziger Jahren bemerkbar machten. Das ist einerseits die "Krise der Linken", die sich beispielsweise in der rasanten Erosion des schillernden K-Gruppen Spektrums in Westdeutschland (Koenen 2001, 257-315) oder den Suchbewegungen der undogmatischen Linken bemerkbar machte. Das Stillschweigen der Arbeiterklasse trotz steigender Arbeitslosigkeit und empfindlicher wirtschaftlicher Strukturkrisen seit Mitte der siebziger Jahre, die Wirkungslosigkeit sozialistischer Rezepte in der spätkapitalistischen Gesellschaft und nicht zuletzt die Sprachlosigkeit linker Theorie im Angesicht der ökologischen Herausforderung führten am Ende des Jahrzehnts zu einer veritablen Identitätskrise der Linken überall in Westeuropa (beispielhaft: Althusser 1978, Gorz 1980), zu der auch die für die Grünen beschriebene Infragestellung des modernen Fortschrittsbegriffs gehörte.
Parallel dazu vollzog sich ein Gestaltwandel des Konservativismus, der den klassischen konservativen Prinzipien Bewahrung und Tradition zunehmend marktliberale Werte vorzog. Am deutlichsten ließ sich dies im Großbritannien Margaret Thatchers beobachten (Geppert 2002). Die Ökologieproblematik löste diese ideologische Orientierungslosigkeit nicht aus, aber spitzte sie, zumal aus Sicht der Grünungsgrünen, zu.
In den grünen Argumentationen der Anfangszeit fiel deshalb häufig das Schlagwort vom "Dritten Weg", der den Ausweg aus der Unübersichtlichkeit weisen sollte. Es kursierten vielfältige Konzepte, die inhaltlich unterschiedlich gefüllt waren. Sie konnten etwa einen bündnispolitischen "Dritten Weg" zwischen den Blöcken des Kalten Krieges beschreiben oder aber einen "Dritten Weg" in der Frage der Wirtschaftsweise. Unabhängig von der jeweiligen inhaltlichen Aufladung markierte der Topos vom "Dritten Weg" jedoch vor allem die grüne Ratlosigkeit bei der Suche nach Konzepten, die die Krise bewältigen halfen.
3. Programmatik und Ideenwelt der "Gründungsgrünen"
Die Wahrnehmung der eigenen Gegenwart als krisenhafte Situation, die ungewöhnliche Zusammenschlüsse erfordere, war ein Element, das die verschiedenen Gruppen miteinander verband. Da die hergebrachten Muster keine Problemlösungskompetenz mehr beanspruchen konnten und als nicht zukunftstauglich galten, sollten sie durch grundlegende Alternativen ersetzt werden. Einig waren sich die unterschiedlichen Strömungen vor allem in der Ablehnung bestimmter Vorstellungen, ungeachtet der Tatsache, dass diese Zurückweisung häufig auf sehr unterschiedlichen ideologischen Überlegungen und Traditionen beruhte, und dass die jeweils angestrebten Alternativentwürfe oft sehr stark differierten. Es kam ein Prinzip zum Tragen, das man aus der Rückschau als "negative Integration" bezeichnen kann.
Die konkrete Zielscheibe grüner Kritik waren die eigene als krisenhaft empfundene Gegenwart und damit die dominanten Vorstellungen der bundesdeutschen Mehrheitsgesellschaft. Ins Zentrum rückte das liberale Konsensmodell westlicher Prägung, das sich im Zuge von Westernisierung und Liberalisierung seit den späten fünfziger Jahren in der bundesdeutschen Gesellschaft etabliert hatte (Doering-Manteuffel 1999, Herbert 2002). In der Zeit der "Großen Koalition" schien es auf dem Höhepunkt seiner Akzeptanz angelangt zu sein (Schönhoven 2004). Als Charakteristika in seiner bundesdeutschen Ausprägung gelten etwa das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft auf der Grundlage von wirtschaftlichem Wachstum und Massenkonsum, Parlamentarismus und Parteiendemokratie nach westlich-atlantischem Vorbild, schließlich ideelle und bündnispolitische Westbindung. In vielerlei Hinsicht trafen sich die unterschiedlichen Gründungsgruppierungen der Grünen in der Ablehnung dieser Vorstellungen, wobei sie in unterschiedlichen Traditionen der Kritik standen. Das wird in mehreren Punkten beispielhaft deutlich.
Im Zentrum der grünen Kritik standen zunächst die voll ausgebildete Arbeits- und Industriegesellschaft sowie deren mit Massenkonsum verbundene Wirtschaftsweise, die auf Wachstum basierte. Aus Sicht der frühen Grünen war es das industriegesellschaftliche Wachstumsprinzip, das hauptverantwortlich für die zeitgenössischen Problemlagen war. Ökologische Krise im globalen Maßstab, Überbevölkerung und Notlagen in der Dritten Welt sowie Stagflation und Arbeitslosigkeit im eigenen Land wurden auf ein entfesseltes Wachstumsdenken zurückgeführt, das die modernen Industriegesellschaften in West wie Ost präge. Kapitalismuskritik von links wie rechts griff hier gleichermaßen. Gleichzeitig war "Wachstum" häufig ein Platzhalter für "Fortschritt" und konkretisierte grüne Fortschrittsskepsis in einem konkreten Bereich.
Eng wiederum mit dem Friedensthema verknüpft war die Diskussion über die Verankerung der Bundesrepublik im westlichen Bündnis, die im Kontext der Auseinandersetzung um den NATO-Doppelbeschluss (Wittner 2003) stattfand. Während die ehemaligen Anhänger der kommunistischen K-Gruppen vor allem den bundesdeutschen Austritt aus der NATO forderten, die sie für das Wettrüsten verantwortlich machten, vertrat ein Großteil der frühen Grünen das Prinzip der Äquidistanz zu beiden Blöcken und prangerte die Politik von NATO und Warschauer Pakt gleichermaßen an (Baron 2002). Teilweise waren die Proteste gegen den NATO-Doppelbeschluss nicht nur ein Kampf gegen die atomare Nachrüstung in Europa, sondern auch eine Projektionsfläche für deutschlandspolitische Vorstellungen. Einige grüne Gruppierungen plädierten Anfang der achtziger Jahre für ein wiedervereinigtes Deutschland, neutral und unabhängig von den beiden Blöcken in der Mitte Europas. Nationalneutralistische Denkmuster fanden dabei vor allem bei Grünen konservativer Provenienz, aber teilweise auch bei Gruppen linken Ursprungs Anklang, die nach einem "Patriotismus von links" (Brandt/Ammon 1982) und "neuen Antworten auf die Deutsche Frage" (Stolz 1985) suchten.
Gemeinsam mit der bündnispolitischen Westbindung geriet auch die ideelle Partnerschaft zum Westen und vor allem zu den USA in die Kritik. Dabei stellte "Amerika" als Chiffre für "Westen" einen aufgeladenen Topos dar. "Amerika" galt vielen Grünen als Sinnbild für das liberale Konsensmodell westlicher Prägung, das man in zahlreichen seiner Facetten ablehnte. In der Kritik an Konsum und dem "american way of life" fanden links-sozialistische Denkfiguren und konservative Kulturkritik abermals zueinander. Allerdings ging diese politische Amerikakritik vor allem bei den Jüngeren häufig mit kulturellem Amerikanismus einher. Westlich-amerikanische Politik wurde abgelehnt, Protest- und Politik-, nicht zuletzt die Lebensformen waren dennoch wie schon "1968" amerikanisch geprägt und inspiriert (Gassert 2001).
Schließlich verband die grünen Gründungsgruppen die Kritik an den Strukturen und Verfahrensweisen der Bonner Parteiendemokratie. Von den etablierten Parteien - deren Inhalten und Politikstil gleichermaßen - fühlten sich die Parteigründer nicht mehr repräsentiert. "Wir stellen fest", schreiben die Bremer Grünen in ihrer Wahlplattform, "daß wir zunehmend verwaltet und manipuliert werden, daß wir zu Rädchen in einem Getriebe geworden sind, das wir nicht mehr durchschauen können. Darum haben wir uns entschlossen, unsere Sache selbst in die Hand zu nehmen." ("Bremer Grüne Liste" 1979, 1) Auch in der Kritik an der Arbeitsweise der etablierten Parteien in den Parlamenten herrschte weitgehende Einigkeit, wobei auf unterschiedliche Traditionen der Parlamentarismuskritik zurückgegriffen wurde. Das grüne Projekt wurde auch als Beitrag zu "humaneren Verkehrsformen der Menschen untereinander" verstanden, "ohne Aggression und Diffamierung" ("Bremer Grüne Liste", 2). Der andere politische Stil war dabei ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal der frühen Grünen. Wenn schon, was in der Formierungsphase heftig umstritten war, eine Partei zur Durchsetzung der eigenen Interessen gegründet werden sollte, dann doch wenigstens eine "Alternative zu den herkömmlichen Parteien", wie die Grünen sich in ihrem ersten Bundesprogramm bezeichneten (Bundesprogramm 1980, 4). Diejenigen, die, wie Carl Beddermann oder Herbert Gruhl, für einen traditionellen Parteiapparat und parlamentarische Interessenvertretung im klassischen Sinne plädierten, konnten sich nicht durchsetzen. Die Mehrheit der Gruppen innerhalb der grünen Bewegung war der Überzeugung: Auf die neuen Herausforderungen, sollte nicht nur mit neuen Denkansätzen, sondern auch mit neuen Mitteln der politischen Auseinandersetzung reagiert werden. Dieser Anspruch kulminierte in dem schillernden Schlagwort der "Basisdemokratie" und schlug sich in vielen Details bei der Organisation des politischen Alltags nieder (Salomon 1992). Gremiensitzungen erfolgten parteiöffentlich, häufig durften Medien und überparteiliche Öffentlichkeit grüner Politik ebenfalls hautnah beiwohnen. Mit diesem Prinzip der offenen Tür ebenso wie mit zahlreichen symbolträchtigen Aktionen und Handlungsmustern galt es einerseits das prinzipielle Anderssein im Vergleich zum politischen Establishment herauszustellen. Andererseits sollte der Beweis angetreten werden, dass ein Teil der Bewegung nun zwar den Weg der Parlamentarisierung eingeschlagen hatte, sich jedoch immer noch den Zielen, Idealen und Politikformen der breiten außerparlamentarischen Bewegung verpflichtet fühlte. Aus dem Arsenal der "Neuen Sozialen Bewegungen" sollten nicht nur die Ideen und Inhalte, sondern auch die Symbole und Praktiken in die Parteiorganisation und schließlich die Parlamente hinübergerettet werden. Diese grüne "Basis" war Referenzpunkt und regelrechter "Erinnerungsort" einer sich mehr und mehr der etablierten Praxis in den Parlamenten annähernden Partei (vgl. auch Heidemeyer 2008, XLIII f.). Dieser Prozess markierte gleichzeitig den ersten Schritt hin zu einer Wiederannäherung der Grünen an das liberale Konsensmodell bundesdeutscher Prägung. Gleichzeitig veränderten und erweiterten sie es, indem sie bestimmte symbolpolitische Praktiken und Aktionsformen, nicht zuletzt grüne Themen, beibehielten und in die Praxis bundesdeutscher Parlamente einbrachten. Die parlamentarische Tradition bundesdeutscher Demokratie wurde somit um ein basisdemokratisches, außerparlamentarisches Element erweitert.
Ausblick
Im Laufe ihrer inzwischen fast dreißigjährigen Geschichte veränderten sich die Grünen häufig und teilweise wesentlich. Bereits kurz nach Gründung der Bundespartei verließen Herbert Gruhl und zahlreiche seiner konservativen Anhänger die Partei, da sie ihm zu "links" geworden war. Nach weiteren Austritten und Spaltungen wurden die Grünen im Laufe der achtziger Jahre schließlich zu der linken Milieupartei, die wir aus gegenwärtigen Debatten kennen. Gleichzeitig, besonders nach dem Einzug der ersten Grünen-Fraktion in den Deutschen Bundestag im Jahr 1983, näherte sich die Partei den Ideen und Verfahrensweisen der etablierten Kräfte in den Parlamenten an, nicht ohne jedoch wiederum die etablierten Akteure thematisch und symbolpolitisch zu beeinflussen (Boyer/Heidemeyer 2008). Damit wurden die Grünen zu einem Element der Bonner und später der Berliner Republik, und das nicht erst nachdem sie von 1998 bis 2005 in der ersten rot-grünen Bundesregierung Verantwortung übernommen hatten.
In der Früh- und Formierungsphase der Partei war diese Entwicklung nicht absehbar. Die Gründungsgrünen umfassten ein breites Spektrum an Mitgliedern, die von konservativen Naturschützern über unterschiedliche Anhänger eines wie auch immer gearteten Dritten Weges bis hin zu Sozialisten und Kommunisten reichten. Die eigene Gegenwart empfanden sie als historische Ausnahmesituation, in der die hergebrachten Kategorien und Begrifflichkeiten keine Lösungskompetenz mehr beanspruchen konnten und daher überwunden werden mussten. Der frühe grüne Zusammenschluss unter dem Schlagwort "Nicht rechts, nicht links, sondern vorn" war ein Versuch, dieser Einsicht zu folgen. Aus zeithistorischer Perspektive kann er als ideen- und mentalitätsgeschichtlicher Indikator für die Transformationsprozesse gewertet werden, die sich in den siebziger Jahren bemerkbar machten und die unsere eigene Gegenwart weiterhin prägen (Doering-Manteuffel/Raphael 2008).
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Zur programmatischen Entwicklung der Grünen
Das erste Bundesprogramm der Grünen wurde im März 1980 auf der Bundesversammlung in Saarbrücken beschlossen. Es ruhte auf den vier programmatischen Säulen "ökologisch, sozial, basisdemokratisch, gewaltfrei". Als im Mai 1993 die westdeutschen Grünen mit dem ostdeutschen "Bündnis90" zur Partei "Bündnis90/Die Grünen" fusionierten, wurde kein neues, gemeinsames Parteiprogramm verabschiedet. Allerdings wurde ein Papier mit gemeinsamen "politischen Grundsätzen" verabschiedet, das das programmatische Selbstverständnis der gesamtdeutschen Partei widerspiegelte. Erst im März 2002 auf der Bundesdelegiertenkonferenz in Berlin wurde das "Saarbrücker Programm" aus dem Jahr 1980 durch ein neues Grundsatzprogramm abgelöst. Es trägt den Titel "Die Zukunft ist grün".
Pour citer cette ressource :
Silke Mende, "Die Formierung der „Gründungsgrünen“ in der Bundesrepublik der siebziger und frühen achtziger Jahre", La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), janvier 2009. Consulté le 05/11/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/civilisation/histoire/les-deux-allemagne-1949-1990/die-formierung-der-grundungsgrunen-in-der-bundesrepublik-der-siebziger-und-fruhen-achtziger-jahre