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Poetry Slams – Ein Weg zur Poesie heute

Par Sinje Passura : Lectrice - ENS de Lyon
Publié par mduran02 le 01/07/2014

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Sinje Passura revient sur les origines du slam, les règles de l’oralité et de la mise en scène du texte. Elle présente trois artistes allemands, Moritz Kienemann, Patrick Salmen et Julia Engelmann. Le texte « One day / Reckoning Text » de Julia Engelmann fait l’objet d’une étude spécifique dans le document d’accompagnement.

I. Einleitung

„Alle Dinge haben ihr Geheimnis, und die Poesie ist das Geheimnis, das alle Dinge haben“, sagte der spanische Schriftsteller und Dichter Frederico Garcia Lorca und bringt hiermit wunderbar zum Ausdruck, dass die Poesie etwas Universelles, Weltliches, gar Alltägliches ist, von dem wir überall umgeben sind.

Wenn hingegen heute in der Schule die Gattung Lyrik auf dem Lehrplan steht und es darum geht sich mit Dichtung / Poesie ((Im Folgenden werden die Begriffe Poesie und Dichtung quasi synonym gebraucht, mit dem Unterschied, dass auf die Dichtung mehr der praktische, während auf die Poesie eher der theoretische Akzent gelegt wird. Lyrik hingegen dient dem Gattungsbegriff, ist also den beiden Begriffen übergeordnet.)) auseinanderzusetzen, schaut man in gähnende Gesichter und gelangweilte Blicke. Lyrik… was bringt mir das in meinem Beruf, für mein Leben? werden sich manche denken. Warum Verse lesen, interpretieren, Reime benennen, wenn man sich nicht einmal darauf verlassen kann, dass es danach ein richtig oder falsch gibt? Poesie ist schließlich oft DIE Grundlage für weitgehende Interpretationen. Interpretation jedoch ist die Untersuchung des Gegenstandes auf seine Aussage hin, hinsichtlich gesammelter stichhaltiger Anhaltspunkte, die der „Gegenstand“ dafür liefert. Und Poesie bringt hier so ihre Schwierigkeiten mit sich. Denn sie ist offen und oft abstrakt und es geht bei ihr nicht um richtig oder falsch. Dennoch kann auch die Poesie praktischen Nutzen haben, auch und vor allem heute. Denn sie ist neben den oben bereits genannten Begriffen vor allem eins: Ehrlich, echt und zeitlos.

Vor ein paar Jahren erst erklärte der Lyriker Robert Gernhardt im Kulturhaus Baden-Baden, dass man Poesie nicht in irgendwelche Formen pressen könne und sie keine Regeln befolgen müsse (www.youtube.com). Poesie sollte ihrer Zeit angepasst und freier, lockerer, ja vielleicht sogar frecher sein dürfen, immer jedoch sich selbst in Frage stellend und bereit dazu, Kritik zu üben. Ich verweise an dieser Stelle nur einmal an sein Gedicht „Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs“, das sich inhaltlich über das Sonett lustig macht, formal jedoch genau dessen Form annimmt. Bezeichnend für die daraus resultierende Ironie sind vor allem die letzten zwei Verse, mit denen sein Gedicht endet:  „Ich tick es echt nicht. Und will's echt nicht wissen: Ich find Sonette unheimlich beschissen.“ (www.fulgura.de)

Wenn wir dies als Anhaltspunkt nehmen, – dass Poesie in allen Dingen steckt, wandelbar und offen und somit nicht leicht einzuordnen oder strikten Kriterien zuzuordnen ist, – dann finden wir diese sehr wohl noch in unserem Leben und das nicht nur versteckt in Dingen. Poesie kann es gerade, weil sie keine festen Grenzen an den unterschiedlichsten Orten gefunden hat sowie auf unterschiedlichste Weise geschaffen werden.

Und wenn man gewisse literarische Strömungen der letzten Jahre beobachtet, ist deutlich zu erkennen, dass Poesie keineswegs tot ist. Ein Genre das besonders davon zeugt ist die Slam Poetry. Was es mit ihr und den damit verbundenen Poetry Slams allgemein auf sich hat und warum diese letztgenannten „Sprechkonteste“ trotz manches Zweifels als poetische Zeugnisse angesehen werden können, soll im Folgenden erläutert werden.

II. Der Gedanke hinter den Poetry Slams

1. Anfänge

Poetry Slams finden ihren Ursprung in Amerika. Hier waren und sind sie dafür bekannt soziale Ungerechtigkeiten oder Kritik an der Politik zum Ausdruck zu bringen. Oft sind es soziale Minderheiten, die sich hier engagieren. Ursprünglich geht der Begriff jedoch auf einen ganz anderen Bereich zurück, den Sport. „Slam“ bedeutet so viel wie schlagen oder zuschlagen und in der Umgangssprache steht es auch für „jemanden runtermachen“. „Poetry“ wiederum steht für Dichtung. Insgesamt ergibt sich also der Ausdruck „Dichterschlag“ im Sinne von „Dichterwettstreit“. Man möchte also beinahe meinen, es handle sich hier um ein Oxymoron. Wie soll Dichtung schlagend sein? Wird ihr doch sonst eher ein sanfter Charakter beigemessen. Dem Begründer der Poetry Slams, Marc Kelly Smith, fiel der Name anscheinend ein, als er ein Baseballspiel im Fernsehen anschaute. Der erste Poetry Slam fand 1986 in Chicago statt, von wo sich die Disziplin schnell ausbreitete und großen Anklang fand.

Die ersten Slams im eigentlichen Sinne waren diese Wettbewerbe aber wohl kaum und somit keinesfalls eine gänzlich neue „Erfindung“. Man bedenke nur die vielen Dichterwettstreite, die bis zur Antike mit Homer zurückreichten und sich dann über das Mittelalter über Goethe und Schiller bis eben heute den Poetry Slams hinzogen. Natürlich war die Art und Weise, wie auch die Form der Darstellung eine andere und glich womöglich weniger einem „Battle“ als heute. Dennoch lassen sich doch gewisse Parallelen nicht von der Hand weisen. Man versuchte den anderen mit Worten zu übertrumpfen oder auszustechen und das, indem man möglichst kunstvoll seine Worte in Szene setzte und eine wichtige – oder zumindest originelle – Botschaft übermittelte. Diese Ähnlichkeiten von heute und damals zeigen den poetischen Charakter der Poetry Slams.

In Deutschland schwappte die Welle erst ein paar Jahre später über, nämlich Mitte der 90er Jahre, als man eine Kostprobe durch einige amerikanische Vertreter der Poetry Slams erhielt. Der Effekt war so groß, dass man die Slams und ihr Wirken als wahre Quelle der Inspiration empfand. Trotzdem entwickelten sich in Deutschland ganz eigene Poetry Slams, die sich in ihrem Stil und auch durch ihre Repräsentanten von der amerikanischen Version unterschieden. In Deutschland ging und geht es weniger um Kritik an der Politik oder an bestehenden Ungerechtigkeiten. Es geht generell um allgemeine Themen, die Jugendliche und junge Erwachsene beschäftigen, – das kann also im Grunde alles Mögliche sein. Oft gibt es intertextuelle Verweise, vor allem auf Texte anderer Slammer, wie die Sprecher genannt werden. Personen aus allen Schichten sprechen bei den Wettbewerben vor, vor allem aber junge Leute, Studierende aber auch Schüler, weshalb sogar mittlerweile eine Disziplin für unter 20-Jährige eingeführt wurde, und das mit großem Zuspruch.

2. Charakteristika und Eigenheiten der Poetry Slams

Zunächst sollte wohl noch angemerkt werden, dass die Slams, die Wettstreite, wohl eher das Medium sind, das die Poesie in Umlauf bringt. Der allgemeine Begriff, der für diese Art Poesie verwendet wird, ist Slam Poetry, also genau andersherum geschrieben. Man könnte hier von einer „Wettstreitspoesie“ sprechen, was dem Kern der Sache ziemlich nahe kommt. Denn bei einem Poetry Slam zählen nicht nur das Wort und der Vortrag, das Ganze muss wettbewerbsfähig sein. Es ist das „Gesamtpaket“, das am Ende ausschlaggebend ist für ein gutes Wahlergebnis. Denn was wäre ein Wettstreit ohne Gewinner, ohne Punkte? Und genau die vergibt jeder, der zum Zeitpunkt des Slams anwesend ist – nämlich das Publikum.

Man darf es sich so vorstellen: Ein Hörsaal oder großer Raum, und in der Mitte oder vor allen, der Teilnehmer. Allein mit einem Mikrophon in der Hand (zumindest dann wenn es sich nicht um Gruppenslams handelt). Es hat also alles von einer Bühnenrepräsentation. Man muss überzeugen, man muss inszenieren und etwas übermitteln können auf diejenigen, die vor der Bühne sitzen, die Zuschauer. Was also zählt ist nicht nur die Wahl der Worte, das Sujet, das Was, sondern vor allem die Performance, das Wie. Dabei ist es wichtig, seine Stimme einzusetzen, mit dem Publikum in Kontakt treten zu können, ggf. sogar mit ihm zu interagieren, indem man es etwa durch Fragen in die Performance miteinbezieht. Entscheidend sind somit auch Mimik und Gestik, Kontextuierung und Verständlichkeit. Ebenfalls ist ein zeitlicher Rahmen von 5 Minuten einzuhalten, sonst kann der Rezipient unterbrochen werden. Danach sind die Zuschauer dran, die ihre Begeisterung durch Beifall ausdrücken können, oder indem sie beispielsweise Punkte von 1-10 vergeben. Somit erhalten die Rezipienten ein direktes Feedback über ihre Vorstellung.

Dies alles kommt auf der Bühne nicht spontan zustande. Poetry Slams sind nicht zu vergleichen mit spontanen Rapbattles. Sie sind normalerweise gut durchdacht und im Voraus durchkonzipiert, niedergeschrieben und im Endeffekt auswendig gelernt (letzteres manchmal aber auch nicht). Dichtung wurde seither aufgeschrieben, dann vorgetragen, oder andersherum, aus dem einfachen Grunde, da man ihr langfristiges Überleben durch den Aufschrieb besser sicherte. Und wie oft mussten Schüler schon Gedichte reproduzieren, indem sie sie schlichtweg auswendig lernten.

Es gibt also gewisse Regeln für die Poetry Slams, jedoch sind sie, was die Themen angeht, wirklich relativ ungebunden. Slammer können eigentlich alles ansprechen, sollten sich jedoch vielleicht im Vorfeld überlegen, ob das Sujet interessant ist, bzw. wie man es interessant machen kann. Denn die Form ist hier, genau wie bei einem Gedicht auch, genauso entscheidend wie der Inhalt. Das eine geht nicht ohne das andere. Die Form ist in diesem Falle die Gestaltung des Drumherums, also des Vortrags selbst. Und hier ist es wichtig seine eigene Form zu finden – man spielt eben mit der Stimme, mit Slang oder mit Ironie und Sarkasmus. Poesie muss keineswegs ernst sein. Sie kann ernst sein, aber ein bisschen Humor kommt bei den Slams immer gut an. Und es lockert die Stimmung auf. Dies wurde in der Poesie insbesondere, wie bereits in der Einleitung angedeutet, von Gernhardt schon länger gefordert. Poesie muss nicht ernst sein, sondern originell, echt und zeitgemäß – und vor allem schöpferisch und erfinderisch. Denn ist es nicht so: Je weniger sich etwas in ein Schema pressen lässt, desto mehr Aufmerksamkeit bekommt es? Sicher gibt es viele Leute, die Dinge schlecht reden, weil sie nichts damit anzufangen wissen, wenn diese nicht in irgendwelche Muster passen. Aber auf der anderen Seite ist vielleicht genau dies der Grund, warum Poetry Slams und eben generell Slam Poetry so einen Ansturm erlebten: Sie ermöglichten die Eröffnung neuer unerforschter Gefilde.

Auf die Frage, ob man dies inhaltlich wirklich als Poesie bezeichnen könnte oder nur oberflächliches bemühtes Gerede soll im folgenden Kapitel näher eingegangen werden.

III. Was Poesie ausmacht

Die Frage, die sich vor jeglichem Vergleich von Slam Poetry und Poesie im traditionellen Sinne stellt, ist jedoch: Wie kann man Poesie definieren? Gibt es allgemeine und immer gültige Regeln? Die Beantwortung dieser Frage gestaltet sich als schwierig und darüber hinaus meines Erachtens als davon abhängig, welchen Bezug der Einzelne zur Poesie hat, da Dichtung kaum generellen objektiven Beurteilungskriterien unterliegt. Deshalb sollen im Folgenden nur einige stichhaltige Eigenheiten von Poesie angesprochen werden.

Poesie existiert, wie im Vorwort bereits angesprochen, schon seit der Antike und vielleicht noch länger. Dichtung war sicher immer etwas Kunstvolles, aber genau dieses Wort ist so vage, wie die Definition von Kunst selbst. Man würde sich in ihr verlieren, denn Kunst hat weder strenge Regeln, noch sollte sie welche haben. Da Dichtung aber eine Form von Kunst ist, lässt sie dies ähnlichen Prinzipien folgen.

Natürlich haben sich Dichter seit jeher mit dem Charakter von Poesie auseinandergesetzt, auch Regeln für die von ihnen jeweils als richtige angesehene Dichtkunst verfasst, wie auch Storm, und später Benn oder Celan im letzten Jahrhundert. Und immer wieder bemerkte man Gemeinsamkeiten. Nie gab es jedoch eine derart engstirnige Regelpoetik wie sie von Johann Christoph Gottsched oder Martin Opitz für die Dramatik entwickelt wurde. Man kann erkennen, dass die Poesie einen von Grund aus offenen, toleranten Charakter besitzt. Poesie an dieser Stelle ausführlich zu definieren, würde den Rahmen sprengen. Im Folgenden sollen nun deshalb grundlegende Gemeinsamkeiten von Poesie, die damals wie heute gültig waren, vereinfacht erläutert werden.

Poesie ist immer mündliches und schriftliches Medium, die Reihenfolge hierbei allerdings sicher unklar und für die eigentliche Bedeutung des Gesamtwerks nicht ausschlaggebend. Ein Gedicht hat immer einen Rahmen, eine Form und den Inhalt, die sich ergänzen, bzw. kann das eine nicht ohne das andere und umgekehrt. Ob es nun Reime gibt oder nicht, ist heute weniger wichtig. Schon seit über einem Jahrhundert ist dies im Umbruch. Dennoch hat jedes Gedicht irgendwo einen Rhythmus inne, selbst wenn man davon spricht, die Verse seinen rhythmisch frei. Dies heißt nicht, dass überhaupt kein Rhythmus vorhanden ist! Auch gibt es immer einige Stil- oder rhetorische Mittel. Dichtung ist nie oberflächlich. Es gibt vielleicht nicht immer wie im Realismus einen doppelten Boden, noch ist ein Gedicht wie zu Benns Zeiten hermetisch und rätselhaft, aber dennoch gibt es immer einen tieferliegenden Sinn. Gedichte sind in der Regel in ihrem Umfang nicht eindeutig begrenzt, jedoch gibt es keine romanlangen Gedichte, allenfalls erstrecken sie sich über einige Seiten. Sie sind allen zugänglich, die ihren Geist für sie öffnen wollen und vor allem sind sie allezeit gültig. Hinter Dichtung verstecken sich nicht selten generelle Wahrheiten – wenn diese natürlich auch stets subjektiv geprägt sind. Genau diese Subjektivität garantiert aber auch die Echtheit und die Originalität eines jeden Gedichts. Ist ein Gedicht zunächst immer monologisch, hat es dennoch, wenn es zum Vortrag gebracht wird, eine dialogische oder kommunikative Form. Man könnte darauf antworten, sich mit ihm auseinandersetzen oder einfach darüber nachdenken. Denn Gedichte sind, selbst wenn sie scheinbar schlicht und einfach geschrieben sind, immer sehr dicht und dennoch prägnant, in der Hinsicht, dass man sich auf eine gewisse Anzahl von gewählten Wörtern beschränkt, um sich auszudrücken. Dadurch ergibt sich meist die Ästhetik eines Gedichts. Wie bereits angedeutet ist Poesie auch nicht verbindlich an Sprache gekoppelt, sondern sie kann sich genauso in Dingen zeigen.

Es ist also zu vermerken, dass Poesie keinen strengen Regeln unterliegt, sondern es vielmehr Anhaltspunkte gibt, anhand derer man sie „identifizieren“ kann. Man sollte ihr erlauben sich zu wandeln, wie auch alles andere und vor allem die Themen, die sie behandelt, sich mit der Zeit wandeln und von unterschiedlichster Art sein können. Poesie ist nichts, das in Raster eingeordnet werden kann, noch darf. Sie wird geschaffen und entsteht nicht einfach, was vor allem bedeutet, dass man sich mit seinen ausformulierten Gedanken intensiv auseinandersetzt und selbst reflektiert. Dies macht einen großen positiven Nebeneffekt von Poesie aus, eine fast natürlich zu nennende Konsequenz, die sich aus der Erschaffung poetischer Texte ergibt.

Im nächsten Schritt soll geklärt werden, wie Slam Poetry sich zu den oben genannten Charakteristika verhält, und in welcher Weise sie nun poetisch sind, indem einige Slammer und ihre Vorträge vorgestellt werden.

IV. Die Poetry Slammer und ihr Wirken

Im Folgenden möchte ich nun drei Slammer vorstellen, die sich in ihrer Art zu slammen und zu dichten in Inhalt und vor allem in Stil sehr voneinander unterscheiden.

Zeigen möchte ich dies anhand einer ihrer präsentierten Texte, die man sich anhören kann, wenn man dem jeweiligen Link folgt.

1. Moritz Kienemann

Beispielvideo:

Poetry Slam Ulm: Moritz Kienemann

Poetry Slam Ulm: Moritz Kienemann. Source: Youtube

Moritz Kienemann ist 1990 in München geboren und hatte seine ersten Auftritte als er noch nicht einmal 20 Jahre alt war, im Jahre 2009. Mittlerweile beläuft sich die Anzahl seiner Auftritte auf an die 100. Heute arbeitet er vor allem als Schauspieler am Theater, im Schauspielhaus Hamburg, an der Volksbühne und bei den Münchner Kammerspielen.

Im Poetry Slam für die unter 20-Jährigen war Moritz ziemlich erfolgreich und seine Bühnenauftritte sind beeindruckend. Man bemerkt sofort den Schauspieler in ihm. Zudem stellt er immer philosophische Bezüge zu typischen Lebenslagen wie der Liebe und dem Leben allgemein her. Seine Texte sind je nachdem mal mehr oder weniger wörtlich zu verstehen. Das Interessante an seinem Vortrag ist vor allem er als Person und wie er das Ganze präsentiert. Die Texte nur zu lesen wäre eine völlig andere Erfahrung als sie von ihm zu hören und vorgestellt zu bekommen. Denn die Wirkung seiner Texte liegt vor allem darin, wie er sich ausdrückt und wie er mit seiner Stimme umgeht. Auffällig ist hierbei natürlich sofort sein Wechselspiel zwischen laut und ruhig. Zunächst beginnt er also meistens leise, fast unschuldig, und dann kommt die Wut, die sich durch die Explosion der Stimme bemerkbar macht. Da wird er laut, schreit beinahe, muss sich neben das Mikrophon stellen, da sonst der Klang seiner Stimme das Publikum beinah erschlüge. Ist das nun Poesie? Gegenfrage: Warum nicht? Der Inhalt ist erstens dichterisch höchst kunstvoll, man kann Verse ausmachen, Reime hören, den Rhythmus verfolgen. Und dann ist das zweite Argument die begleitende eigens gewählte Art der Präsentation, die Darbietung, die eben gefallen kann oder nicht, aber es ist eine Inszenierung und sie passt auch zum Inhalt. Somit ergänzen sich, , Inhalt und Form, welche hier durch die Art der Darbietung geleistet wird. Nur weil er also lauter wird, ist das kein Zeichen dafür, dass der Slam nicht poetisch wäre. Und wenn man auf die Reaktionen im Publikum achtet, so merkt man, dass man ihm die „Show“ durchaus glaubt. Es wird zuweilen gelacht, manchmal herrscht vollkommene Stille.  Dies zeugt von Begeisterung und Spannung und spätestens am Ende seiner Darbietung wird das durch viel Beifall und Jubelrufe noch deutlicher gemacht. Zweifelsohne hat Moritz Kienemann mit Herz und Seele gesprochen und alles gegeben. Und er hat ein Stück subjektiver Wahrheit mittgeteilt, die zum Nachdenken anregen kann. Kunst oder Poesie ist es allemal.

2. Patrick Salmen

Beispielvideo:

Patrick Salmen: Euphorie, Euphorie

Patrick Salmen: Euphorie, Euphorie. Source Youtube

Patrick Salmen ist wieder ein ganz anderer Poetry Slammer als Moritz und zwar sowohl was die Art seiner Texte als auch was die Art seiner Präsentation angeht.

Er wurde 1985 in Wuppertal geboren und wirkt neben seiner Tätigkeit als Slammer noch als Schriftsteller und Kabarettist. Patrick hat schon einige Bücher geschrieben und ist dieses Jahr wieder auf Lesetour.

Mit dem Poetry Slam begann er schon 2008 und entschied sich dann endgültig für diesen Weg, nachdem er sein Studium der Germanistik und Geschichte auf Lehramt beendet hatte. Das Referendariat trat er nicht an, er wollte lieber Schriftsteller werden und beim Slammen bleiben. Eine mutige Entscheidung, doch der Erfolg gibt ihm bisher Recht. Er verfasste Bücher und Kurzgeschichtenbände wie Tabakblätter und Fallschirmspringer 2012 und mit Quichotte zusammen danach eine Edition mit literarischen Rätselgeschichten mit dem interessanten Titel Du kannst alles schaffen, wovon du träumst. Es sei denn, es ist zu schwierig.

Als Beispiel seiner Slammertexte nehme man am besten seine Präsentation mit dem Namen „Euphorie, Euphorie“, den er 2011 das erste Mal vortrug. Wenn man in die Präsentation reinhört, merkt man schnell, was das Markenzeichen von Patrick ist, nämlich vor allem Ironie und Sarkasmus. Er verweist zu Beginn auf die Pointe, für die es sich laut seiner Aussage lohne, den Vortrag anzuhören – und auch nur deshalb eigentlich.

Ein weiteres Markenzeichen seines Vortrags liegt auf der Hand: Er gleicht sehr einer Erzählung, ist sehr prosaisch. Er selbst sagt auch zu Anfang, er lese „eine Geschichte vor“. Die Sätze sind rhythmisch nicht geregelt, es gibt weder Metrik, noch Reime. Man könnte sich das Ganze eigentlich ebenfalls als eine zu Papier gebrachte Kurzgeschichte oder einen Tagebuchausschnitt vorstellen, der einfach vorgelesen wird. Was zählt ist eben nicht nur das Was, sondern auch das Wie. Im Gegensatz zu Moritz ist Patrick weit weniger dramatisch. Er schreit nicht, er beschränkt seine Mimik auf ein Minimum, und noch dazu liest er eigentlich die meiste Zeit ab. Dennoch hat er einen bestimmten Redefluss, der zwar monoton ist, aber durchaus einprägsam, fast melodisch. Und genau dies lässt die Poesie in seinen Worten entdecken, macht den Vortrag zu einer poetischen Darbietung. Ganz zu schweigen davon, dass der Inhalt, der zwar auf erster Ebene stark realistisch in populärer Sprache wirkt, auf den zweiten Blick etliche kleine Wahrheiten enthält, Wahrheiten aus jedermanns Alltagsleben. Und wer sagt, dass Poesie nicht alltäglich sein darf? Hier erinnere ich gerne noch einmal an das oben in der Einleitung angesprochene Zitat von Lorca, das besagt, dass Poesie in allen Dingen zu finden ist. Und die gehören doch unweigerlich zu unserem alltäglichen Leben dazu.

Und wie bereits angesprochen gibt der Erfolg, bzw. das Publikum, Patrick das Gefühl, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Sie liebten seinen Vortrag so sehr, dass er bei der Slammeisterschaft in NRW 2010 Zweiter wurde und bei den Poetry Slam Meisterschaften noch im gleichen Jahr mit seinem Programm sogar den ersten Platz belegte.

Er blieb daraufhin sowohl in seinen Büchern, wie auch in seinen gemeinsamen Projekten seinem Stil treu. Verpackte in seine Vorträge immer gewisse scheinbare Banalitäten in Ironie oder Komik und unterlegte diese mit seiner routiniert klingenden tiefen monotonen Stimme.

Patrick Salmen gibt mittlerweile auch Workshops zum Thema kreatives Schreiben und richtet sich dabei an all diejenigen, die darauf Lust haben, sich kreativ auf Papier auszuprobieren, unabhängig jeglichen Alters. Dies könnte auch für manche Schulen attraktiv sein, schließlich könnte aufgrund des Bekanntheitsgrads von Poetry Slams und Salmen selbst Schüler mehr zum Schreiben zu motivieren.

3. Julia Engelmann

Beispielvideos:

Bielefelder Hörsaal-Slam - Julia Engelmann - Campus TV 2013

Bielefelder Hörsaal-Slam - Julia Engelmann - Campus TV 2013
 

Poetry Slam von Julia Engelmann - Stille Wasser sind attraktiv

Poetry Slam von Julia Engelmann - Stille Wasser sind attraktiv
 

Zu guter Letzt möchte ich nun eine weibliche Stimme, ja vielleicht zurzeit sogar die weibliche Stimme unter den Poetry Slammern, vorstellen. Julia Engelmann ist aus Bremen und am 13. Mai 1992 geboren. Sie war unter anderem als Schauspielerin in deutschen Soaps wie Alles was zählt zu sehen und studiert mittlerweile Psychologie in Bremen. Poetry Slam macht sie jedoch nach wie vor und wird dabei über die neuen Medien und vor allem dem Onlineportal YouTube immer bekannter.

Bereits 2010 hatte sie, als sie gerade einmal 18 Jahre alt war, einige große Erfolge feiern können. Zweimal gewann sie hier das Bremer Slammer-Filet. Auch nahm sie am Kunst und Musikfestival MS Dockville und vertrat ein Jahr später das Slammer-Filet bei den Niedersächsisch-Bremischen Landesmeisterschaften in Hannover.

Julia wurde aber erst dieses Jahr so richtig bekannt, nachdem jemand einen bereits 6 Monate zurückliegenden Vortrag von ihr auf YouTube hochlud, der sehr schnell viele Fans fand und der inzwischen über sechs Millionen Mal aufgerufen wurde. Sie bezieht sich hierbei auf einen Text von Asaf Avidan One Day/ Reckoning Song, und nennt ihren Vortrag deshalb ebenso.

So gelangte Julia mittlerweile auch ins Visier der Medien, wobei die Reaktionen unterschiedlich ausfielen. Die Süddeutsche Zeitung lobte ihre „exakt kalkulierte Ästhetik“, mit der sie in ihrem Vortrag arbeitete, (sueddeutsche.de) die Zeit jedoch sah ihre Texte weniger positiv an. Es handle sich dabei vielmehr um schwache allgemein bekannte Aussagen von jemand, der doch noch nicht einmal verstehen könne, wovon er da rede. Noch dazu sei die Aussage zu harmlos, nichts Neues, nicht scharf genug und der ganze Text sowieso höchstens Pseudo-Poesie (zeit.de).

Da dieser Text so kontrovers behandelt wurde und mittlerweile sehr bekannt ist in Deutschland, soll er im zweiten Schritt als Untersuchungsgegenstand dienen. Wir werden versuchen, den Text zu analysieren, interpretieren Was den Stil und die Texte angeht, arbeitet Julia wieder ganz anders als Patrick Salmen oder Moritz Kienemann. Sie ist weder besonders dramatisch, noch sind ihre Texte prosaisch oder vorgelesen.

Was auffällt, ist, dass die Texte von Julia Engelmann immer sehr melodiös sind. Einige sind mittlerweile sogar mit einer Melodie unterlegt, wie zum Beispiel Stille Wasser sind tief. Julia steht am Mikrofon, stellt sich vor, wirkt zunächst fast schüchtern. Doch ihr Vortrag ist alles andere als unsicher. Sie fängt an und ohne abzulesen beginnt ein Wortfluss von mehreren Minuten. Im Inhalt bezieht sie sich oft auf Themen des Lebens, ihre Texte sind oft etwas, wehmütig, aber nie ohne eine Prise Humor. Rhythmisch sind die Texte eher frei und nicht regelmäßig durchgereimt. Dennoch gibt es deutlich erkennbare Verse und auch manchen Reim, Ihre Stimme ist dabei ruhig, aber nicht monoton und sie wirkt sehr konzentriert, aber nicht verkrampft bei ihrem Vortrag. Während ihrer Präsentation ist es ganz still im Publikum. Doch nachdem sie geendet hat, jubelt die Menge und es gibt gebührenden Beifall.

Julia Engelmann spricht vielen ihrer Zuhörer, die etwa ebenfalls in ihrem Alter sind, aus der Seele. Und wenn sie spricht, tut sie das immer mit Ernst und Leichtigkeit zugleich. Gerade dass eine 20-Jährige Themen anspricht, um die sich junge Leute – zumindest scheinbar – offensichtlich wenig Gedanken machen,

Vergleicht man mehrere ihrer Vorträge, bleibt Julia ihrem Stil treu, doch sind ihre Texte keineswegs eindimensional oder repetitiv. Es geht mal um das Leben, mal um Persönliches, dann um Alltägliches.

V. Fazit

Abschließend kann man sagen, dass Slam Poetry bestimmt kontrovers gehandelt werden kann und das vielleicht auch zu Recht. Entscheidend ist schließlich immer das eigene Verständnis von Poesie und das subjektive Empfinden. Der ein oder andere wird der Slam Poetry nicht viel Poetisches abgewinnen können, andere wiederum nähmen die Gegenposition ein. Ich meine, dass diese Art von Texten und ihre Vorstellung durchaus poetische Qualitäten aufweist, die sie als Erben der traditionellen Poesie erscheinen lassen. Immer liegt den Texten ein poetischer Charakter zugrunde, mal mehr auf inhaltlicher, mal mehr auf gestalterischer Ebene. Zwar gibt es sehr viele verschiedene Darstellungsweisen innerhalb dieser „Poetry“ und ihr ist wohl im Endeffekt nur wirklich gemein, dass sie gemacht wurde, um in einem Wettbewerb gegen andere öffentlich vorgestellt zu werden. Aber das sollte kein Kritikpunkt sein. Auch die Poesie damals wurde schließlich schon öffentlich vorgetragen und war stets nie von Linearität oder übergeordneter Einheit geprägt. Hier war vielleicht das Dichtschema, die Form strenger und allgemein einheitlicher, dennoch passt die Poesie der Slams zur heutigen Zeit, die ihrerseits immer spontaner, schneller und wandelbarer wird.

Noch dazu sollte der aktuelle und öffentliche Charakter der Slam Poetry hervorgehoben werden. Vor allem in der Schule ist dies für die Lehrer ein großer Pluspunkt, die sich bemühen, ihre Schüler mit traditionellen Formen der Lyrik bekannt zu machen. Denn es gibt mittlerweile gesammelte Werke von Poetry Slammern und Arbeitsbücher zu diesem Thema. Jugendliche könnten so vielleicht leichter motiviert sein, sich mit dem Thema Poesie zu befassen, da sie sehen können, dass sie auch heute noch in ihrer Welt existiert. Poesie ist nichts Eingestaubtes, Abstraktes von gestern, sondern durchaus aktuell und bisweilen sogar spannend.

Mit diesen Texten zu arbeiten scheint mir als sinnvoll, sowohl für Schüler, als auch für Lehrer. Vielleicht könnte der ein oder andere Text sogar so motivierend sein, dass es Schüler anregt, sich einmal selbst in poetischem Schreiben zu probieren? Poetry Slams können das Mittel sein den richtigen Impuls dafür zu setzen, deshalb sollten sie als Alternative für traditionelle Unterrichtsthemen und -methoden eingeführt werden. Ob sie sich schlussendlich bewähren, wird sich mit der Zeit zeigen.

Note

Document d'accompagnement : Textausschnitt Julia Engelmann „One day / Reckoning Text“

Analyse d'un extrait de Slam Poésie de Julia Engelmann. Ce texte poétique aborde les thèmes contraires de la léthargie et de la motivation en jouant notamment avec le subjonctif 2 (conditionnel) et l'impératif.

Der Text

Bielefelder Hörsaal-Slam - Julia Engelmann - Campus TV 2013

Bielefelder Hörsaal-Slam - Julia Engelmann - Campus TV 2013

(…)
Und eines Tages, Baby, werden wir alt sein,
oh Baby, werden wir alt sein,
Und an all die Geschichten denken,
die wir hätten erzählen können.

Und die Geschichten,
die wir dann statt dessen erzählen,
werden traurige Konjunktive sein wie –

„Einmal bin ich fast einen Marathon gelaufen
und hätte fast die Buddenbrooks gelesen,
und einmal wär' ich beinah
„bis die Wolken wieder Lila“ waren noch wach gewesen,
fast hätten wir uns mal demaskiert
und gesehen, wir sind die Gleichen,
und dann hätten wir uns fast gesagt,
wie viel wir uns bedeuten
werden wir sagen erzählen.
Und dass wir bloß faul und feige waren,
das werden wir verschweigen
und uns heimlich wünschen
noch ein bisschen hierzubleiben,

Wenn wir dann alt sind und unsere Tage knapp
- und das wird sowieso passieren -
dann erst werden wir kapieren,
wir hatten nie was zu verlieren.
Denn das Leben, das wir führen wollen,
das können wir selber wählen,
also los! Schreiben wir Geschichten,
die wir später gern erzählen.

Also!

Lass uns nachts lange wach bleiben,
aufs höchste Hausdach der Stadt steigen,
lachend und vom Takt frei
die allertollsten Lieder singen!
Lass uns Feste wie Konfetti schmeißen,
sehen, wie sie zu Boden reisen
und die gefallenen Feste feiern,
„bis die Wolken wieder lila sind“.
Lass mal an uns selber glauben,
ist mir egal, ob das verrückt ist!
Wer genau kuckt, sieht,
dass Mut auch bloß ein Anagramm von Glück ist.
Wer immer wir auch waren,
lass uns werden, wer wir sein wolln.
Wir haben viel zu lang gewartet,
lass uns Dopamin vergeuden!
„Der Sinn des Lebens ist leben.“ -
Das hat schon Casper gesagt.
„Let’s make the most of the Night „
- Das hat echo Ke$ha gesagt.
Lass uns möglichst viele Fehler machen
und möglichst viel aus ihnen lernen,
lass uns jetzt schon Gutes säen,
damit wir später Gutes ernten!
Lass uns alles tun, weil wir können
und nicht müssen,
jetzt sind wir jung und lebendig,
und das soll ruhig jeder wissen!
Lass uns uns mal demaskieren
und dann sehen, wir sind die Gleichen,
und dann können wir uns noch sagen,
dass wir uns viel bedeuten!

Denn unsere Tage gehen vorbei
– das wird sowieso passieren –
und bis dahin sind wir frei,
und es gibt nichts zu verlieren.
Das Leben, das wir führen wollen,
wir können es selber wählen.
Also los, schreiben wir Geschichten,
die wir später gern erzählen!

Und eines Tages, Baby, werden wir alt sein,
oh Baby, werden wir alt sein,
Und an all die Geschichten denken –
die für immer unsre sind.

Quelle: ENGELMANN, Julia. 2014. "Eines Tages, Baby", in Poetry Slam Texte, München : Goldmann Verlag.

Analyseansätze

Ich fände es nun vor allem interessant den Text auf seine lyrischen Aspekte hin zu untersuchen, mit welchem Thema, oder welchen Themen er sich auseinandersetzt und wie dies bewerkstelligt wird.

Zur Form

Zunächst soll der Textausschnitt, wie bei jeder Gedichtanalyse, formal auf rhythmische, metrische und reimende Regelmäßigkeiten hin untersucht werden.

Der Rhythmus ist durchgehend frei und die Verse sind metrisch nicht reguliert. Dies ist in der Regel typisch für Slam Poetry, da die Texte oft prosaische Elemente enthalten, indem sie Erzähltexten gleichen und von traditionellen Gedichtformen abweichen.

Dennoch gibt es formale Elemente, die den Text zusammenhalten und poetisch machen: zum einen den Refrain, der immer wieder in leicht veränderter Form wiederkehrt, zum anderen die hier und da auftretenden Reime. Diese stehen jedoch nicht zwingend am Ende einer Zeile, sondern befinden sich vielmehr zwischen den Zeilen, beziehungsweise innerhalb derer und tauchen ebenfalls sehr unregelmäßig auf. So ist in den ersten Zeilen kein Reim zu erkennen und dann der erste, wenn auch unreine Reim (Zeile 13 und 15) mit „gleichen“ und „bedeuten“. Diese Art von unreinen Reimen taucht noch öfter in der hier gewählten Textpassage auf, wie zum Beispiel mit „schmeißen“ und „reisen“ (Zeile 34 und 35), oder „verrückt ist“ und „kuckt sieht“, (Zeile 39 und 40), oder auch „lernen“ und „ernten“, (Zeile 51 und 53) und „müssen“ und „wissen“, (Zeile 55 und 57). Sie geben dem Text Lockerheit und Natürlichkeit, scheinen dessen Spontaneität zu suggerieren.

Daneben sind aber genauso reine Reime zu finden, wie „passieren“ „kapieren“ „verlieren“ (Zeile 22-24) oder „wählen“ „erzählen“ (Zeile 26-28) oder „vorbei“, „frei“ (Zeile 62 und 64). Darüber hinaus gibt es natürlich noch weitere. Sie runden die Passagen ab, garantieren für einen stetigen Textfluss.

Die verwendeten Reime sind also meist Binnenreime, ansonsten Paarreime und nur selten Kreuzreime.

Der letzte Absatz wiederum ist jedoch frei von Reimen, bildet quasi einen Bruch und gleicht dadurch vielmehr einem Abschlussstatement. Diese letzten Wörter sollen nicht durch Schnörkel verziert, sondern einfach und klar gehalten werden, um eine nüchterne aber eindringliche Aussage zu schaffen.

Das lyrische Ich

Wer spricht und wer wird angesprochen? der „Sprecher“ dieses Textes ist eine vermittelnde Instanz. Das lyrische Ich scheint hier vielmehr ein lyrisches „Wir“ zu sein. Es redet nämlich immer von „wir“ oder „uns“, niemals von sich allein. Dies bringt die kollektive Verbundenheit zum Ausdruck, dass, passend zum Inhalt des Textes, wir alle betroffen sind und alle aufgerufen zu reagieren. Genauso ist der Adressat zwar anscheinend eine Person (siehe: „ Und eines Tages, Baby (…)“ (Zeile 1)), trotzdem richtet sich der Text an jeden einzelnen, der diesen hört oder liest. Es geht immer um das „Wir“, um das „Uns“. Das „Ich“ beschränkt sich eigentlich nicht auf ein „Du“, nicht einmal auf ein „Ihr“, sondern durch das stetige benutzen der 1. Person Plural schließt sich das lyrische Ich selbst mit ein, zeigt so Solidarität und kann Vertrauen schaffen. Seine Botschaft richtet sich gleichfalls an sich selbst. Dies ist eine gute Möglichkeit nah an diejenigen heranzukommen, die man mit seinen Worten erreichen möchte. Der Sprecher benutzt bewusst die Ansprache an den Einzelnen, um jeden zu erreichen, auch wenn alle gemeint sind.. Der Zugang zu den Worten wird auf diese Art erleichtert und eine gewisse Intimität geschaffen, um einen persönlichen Bezug zu ermöglichen.

Die Themen

Geht es zwar zunächst noch um das große Thema Lethargie und Antriebslosigkeit, wird später auf das Gegenteil hingearbeitet – Motivation und Antrieb.

Ausdruck der Lethargie sind sprachlich gesehen vor allem die vielen Konjunktive, die das lyrische Ich verwendet.Der Konjunktiv als typisches Zeichen von Wünschen oder verpassten Chancen, die eben nie real sind, sondern immer nur hypothetisch und nicht greifbar. Es ist die Rede von Faulheit und Feigheit, von Geschichten, die nie geschrieben werden, wenn wir nicht bald aufwachen und sofort handeln.

Und genau an dieser Stelle beginnt ein neuer Einschnitt. Es kommt auf einmal sprachlich zu einem klaren Bruch, zu einem Übergang zu einem Gegenthema, nämlich der Motivation und dem persönlichen Engagement des Einzelnen für sein Leben. Hier verschwindet der Konjunktiv und wird vermehrt durch Imperativformen ersetzt, die das kollektive „wir“ und „uns“ zum Handeln anspornen. „Lass uns…“ (Zeile 30/34/43/50…) ist eine der am häufigsten verwendeten Wortkombinationen der zweiten Hälfte des Textes. Es fordert die Abkehr von Nichtstun und Träumereien. Denn noch ist nichts verloren, noch ist das Hypothetische wahr zu machen. Die Zeit wird zwar so oder so vorbei gehen, aber wir können selbst wählen, wie wir sie gestalten wollen und welche Geschichten wir schreiben wollen. Wir müssen nur damit anfangen.

Das Gedicht kann also thematisch wie auch sprachlich gesehen in zwei Teile geteilt werden. Die Konjunktive und das Thema der Lethargie bilden den ersten Teil bis Zeile 28, ab Zeile 29 beginnt mit der Verwendung von hauptsächlich Imperativen und dem Thema der Motivation der zweite Teil.

Intertextuelle Verweise

Wie bereits erwähnt beziehen sich Poetry Slammer oft auf Texte anderer Slammer oder auf ihre eigenen Texte. Anhand des hier ausgewählten Textbeispiels kann man sehen, wie sich die Rezipienten aber auch auf Passagen oder Beispiele beziehen, die außerhalb der eigentlichen Wettbewerbe liegen. Zum einen verweist das lyrische Ich auf die Buddenbrooks (Zeile 9),. Natürlich bleibt unklar, warum gerade dieses Beispiel gewählt wurde, aber man könnte davon ausgehen, dass es zum Beispiel an der Geschichte und deren Umfang liegen könnte. Es geht schließlich darum Geschichten zu erzählen, und die Buddenbrooks ist ein sehr mächtiger und bekannter Roman, der ebenfalls seinerseits in die literarische Geschichte eingegangen ist. Man könnte also sagen, das Buch habe bereits Geschichte geschrieben.

Daneben findet man allerdings vor allem Anklänge an Passagen aus modernen Liedern. So wiederholt das lyrische Ich zweimal die Zeile „bis die Wolken wieder lila sind“ (Zeile 11 und 37), einem Satz aus dem Lied Lila Wolken von Marteria, Yasha und Miss Platnum, das lange Zeit auf Platz eins der Charts war und somit vielen bekannt sein dürfte. Noch dazu hat diese Passage durch die lila Wolken etwas poetisch Verträumtes an sich, das den Menschen ein wenig aus der grauen Alltagswelt entführt,. Hier steht der Satz vor allem für die langen Nächte, in denen bis zum Morgen etwas erlebt wurde, er stellt sich also der allgemeinen Lethargie entgegen. Passend dazu wird auf die Zeile von Kesha verwiesen (Zeile 48) die übersetzt so viel heißt, wie „lass uns das Beste aus der Nacht machen“. Und davor zitiert man einen Satz von Casper mit „der Sinn des Lebens ist Leben“ (Zeile 46). Diese beiden Zitate nacheinander sind für die Zuhörer sehr prägnant. Vielen sind die Zeilen bereits ein Begriff, und wenn nicht, ist die Bedeutung dennoch klar. Beide bedeuten, dass das Leben zu kurz ist, um nichts zu tun und die Zeit einfach vergehen zu lassen. Diese beiden Zitate fordern dazu auf, sofort zu handeln.

Interessant ist jedoch hierbei der Gegensatz zwischen den verwendeten Zitaten und der Aussage „Also los, schreiben wir Geschichten (…)“ (Zeile 68), denn im Grunde genommen ergibt sich hieraus ein Paradoxon: Indem das lyrische Ich auf Zitate zurückgreift und andere alte Geschichten oder Ideen anklingen lässt, schreibt es schließlich nicht wirklich seine eigenen. Es bezieht sich auf andere, die bedeutend oder aussagekräftig waren und somit bereits geschrieben wurden.

So kann man am Ende feststellen, dass der Text aus vielen Kontrasten besteht und es wäre interessant diese Gegensatzpaare, sowohl auf inhaltlicher wie auch formaler Seite, im Einzelnen näher zu betrachten.

 

Pour citer cette ressource :

Sinje Passura, "Poetry Slams – Ein Weg zur Poesie heute", La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), juillet 2014. Consulté le 19/04/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/arts/musique/poetry-slams-ein-weg-zur-poesie-heute