Heimat im Zeitalter der Globalisierung
Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik (Suhrkamp, 2012)
Als Menschen fühlen wir uns auf wechselnde Weise mit der Welt verbunden. Manchmal haben wir das Gefühl, die Dinge und Menschen, die uns umgeben, seien uns vertraut, sie ‘antworten’ auf unsere Empfindungen und Bedürfnisse, und wir sind mit ihnen auf vielfältige Weise verknüpft: Durch geteilte Erfahrungen und Geschichten und durch die Rollen, die wir in ihrem und sie in unserem Leben spielen. Dadurch ergibt sich ein Gefühl der wechselseitigen Anteilnahme: Die Menschen und Dinge, der Raum um uns herum sind uns nicht gleichgültig, wir fühlen uns für sie mitverantwortlich und ihre Bewegungen und Veränderungen sind bedeutsam für unser eigenes Leben. Sie scheinen uns zu antworten und zu tragen.
Dann wiederum, in schlechten Zeiten, machen wir oft eine ganz andere Erfahrung: Die Oberflächen der Welt werden gewissermaßen hart und stumm, abweisend oder zumindest gleichgültig gegenüber unseren Empfindungen und Bedürfnissen.
Für Nietzsche ist dieser letztere Daseinsmodus eine unmittelbare Konsequenz des Verlusts von Heimat. „Die Krähen schreien, und ziehen schwirren Flugs zur Stadt – bald wird es schneien, wohl dem der jetzt noch Heimat hat“ lautet die bekannte erste Zeile eines Gedichts, die dann im Schlussvers zur Drohung wird: „weh dem, der keine Heimat hat“. Die Fremde steht für Dichter wie Nietzsche und Rilke also gleichsam als Chiffre für einen Prozess der Entfremdung, indem Welt und Subjekt wechselseitig gleichgültig und beziehungslos werden, während die „Heimat“ als Metapher für eine Weltbeziehung dient, in der Subjekt und Welt positiv und farbenfroh aufeinander bezogen sind. Diese Gebrauchsweise von ‘Heimat’ und ‚Fremde’ hat sich tief in die deutsche Semantik eingeschrieben. Indessen gibt es noch eine andere Weise des In-Beziehung-Tretens zur nahen und fernen Welt, die sich in einer Verkehrung der Konnotationen von „Fremde“ und „Heimat“ widerspiegelt: Die Dinge, Menschen und Verhältnisse unserer Umgebung können auch als unerträgliche Beschränkung, Beklemmung, Enge erscheinen, dann sind sie gerade nicht „responsiv“, also antwortend auf unsere tiefsten Wünsche, Bedürfnisse und Fähigkeiten bezogen, sondern gleichsam „repulsiv“, feindlich-zurückstoßend.
Die Fremde kann demgegenüber als verlockend, offen, ja „singend“ erscheinen; „Fernweh“ und „Sehnsucht“ lauten die Chiffren für eine Form des „In-die-Welt-Gestelltseins“, die von der Überzeugung geprägt ist, die weite Welt verhalte sich uns gegenüber prinzipiell responsiv und bejahend, wir ständen aber „noch nicht am richtigen Platz“.
Die Moderne nimmt ihren Ausgang von ebendiesem Existenzgefühl; sie ist unaufhebbar mit ihm verknüpft. Der moderne Mensch bricht auf, sich eine neue Heimat, eine selbst gewählte zu suchen. Aus einem gesellschaftstheoretischen Blickwinkel kommt es dabei zu einer unerhörten Dynamisierung unserer Weltbeziehung. Modernisierung ist nichts anderes als das immer raschere In-Bewegung-Setzen unserer materiellen, sozialen und geistigen Umwelt; Modernisierung ist Mobilisierung: Durch technische Beschleunigung von Transport, Kommunikation und Verkehr, durch die Beschleunigung des sozialen Wandels infolge der bewussten Lösung aus Traditionen und Konventionen, und durch die unaufhörliche Steigerung unseres Lebenstempos haben wir dafür gesorgt, dass die Räume, Dinge und Menschen, die unsere Umgebung bilden und die Welt definieren, in der wir leben, sich in immer kürzeren Abständen verändern. Soziale Beschleunigung transformiert daher auf fundamentale Art die Weise, wie wir in die Welt gestellt sind, weil sie unsere Beziehung zum Raum, zu den Dingen und zu den Menschen und daher auch zu uns selbst verändert. Mobilität bedeutet also nicht nur räumliche Beweglichkeit, sondern auch geistige und soziale, religiöse und berufliche usw. Der emphatische deutsche Heimatbegriff konnte daher tatsächlich erst entstehen, als die Welterfahrung sich schon dynamisiert hatte: Er ist Ausdruck der durch Beschleunigung erzeugten Entfremdungsangst und bringt den Wunsch einer „Stillstellung“ unseres Weltverhältnisses zum Ausdruck. Sofern Heimat die fraglose Gegebenheit unserer Weltbeziehung meint, ist sie für den modernen Menschen unerreichbar, und doch kann sie auch nur für ihn einen Sinn und einen Wert haben. Heimat ist daher eine überaus paradoxe Idee.
Doch wie verändert sich die Art des In-die-Welt-Gestelltseins im Zuge des neuzeitlichen Mobilisierungsprozesses? Der vormoderne Mensch, soweit er in einer vorgegebenen, als Teil einer kosmologischen Ordnung erfahrenen Gesellschaftsform lebte, besetzte einen apriorisch, mit der Geburt definierten, festen Platz in einer als gegeben erlebten Weltordnung. Mit der Moderne löst sich diese unverrückbare Bindung des Subjekts an Raum, Dinge und Menschen: Finde Deinen eigenen Platz in der Welt! wird zur Grundaufgabe des modernen Subjekts. Der eigene Platz ist definiert durch einen Beruf, eine eigene Familie, einen festen Wohnort, und durch eine eigenständige religiöse und politische Positionierung. Dieser Auftrag wirkt sich durchaus ambivalent auf die Welterfahrung aus: Die moderne Weltbeziehung kann als Verlust von Heimat im Sinne einer sicheren Weltverankerung, aber natürlich auch als Chance, den richtigen, ‘resonanten’ Ort zu finden, erfahren werden. Von zentraler Bedeutung für eine positive Grunderfahrung ist, dass die Welt selbst als weitgehend stabil wahrgenommen wird. Wie insbesondere das Ideal des Bildungsromans deutlich macht, zielt die moderne Welthaltung letztlich auf die Vorstellung einer stabilen Identität a posteriori: Nach der Selbstbestimmungskrise der Adoleszenz, die in der Tat als „Entfremdungskrise“ gedeutet werden kann, formt sich eine neue stabile Heimat insofern, als Beruf, Familie, Wohnort, Religion und politische Einstellung als dauerhaft und stabil gedacht werden. Selbstgewählte, dauerhafte Bindungen und stabile Beziehungen am „richtigen“, resonanten, zu unserem Wesen „passenden“ Ort, sind die Idealvorstellung der Moderne. Dynamisch bleibt diese Art des In-die-Welt-Gestelltseins in der Vorstellung fortwährenden Wachsens, Erweiterns und Entwickelns: Wir verbessern unsere berufliche Fähigkeit und Stellung in der ‘neuen Heimat’, wir entwickeln uns religiös und politisch, erwerben ein Häuschen und ziehen Kinder groß usw.
Dieses Ideal wird jedoch in der seit den digitalen und politischen Revolutionen von 1989 noch einmal spürbar beschleunigten Spätmoderne unhaltbar: Weil die Welt sich nicht mehr im generationalen Wandlungstempo verändert, das es jeder Generation erlaubt, eine eigene ‘Heimat’ zu definieren, sondern inzwischen eine intragenerationale Veränderungsgeschwindigkeit erreicht hat, wird die Idee einer stabilen Heimat im Lichte der Alltagserfahrung immer implausibler. Wohnorte, Berufsstellen, Lebensabschnittspartner, religiöse und politische Überzeugungen: Sie alle sind nicht mehr auf die Dauer einer Lebenszeit hin angelegt, sondern kontingent, mobil, austauschbar geworden und haben in unserem Leben ungewisse, aber in jedem Fall beschränkte Geltungsdauer. Alle ‘Ortsangaben’ müssen mit einem zeitlichen Index versehen werden: Im Moment lebe ich in München (aber ich spiele mit dem Gedanken, nach Berlin umzusiedeln), seit zwei Jahren arbeite ich als Grafikdesigner (aber ich habe Aussicht auf einen Job in der Werbebranche), das letzte Mal habe ich die Roten gewählt (aber für die nächste Wahl heißt das gar nichts) usw. Diese „Verzeitlichung“ aller Weltbeziehungen hat Konsequenzen für die Art unseres In-die-Welt-Gestelltseins.
In der Spätmoderne sind wir genaugenommen nicht mehr auf der Suche nach der neuen Heimat; Heimatlosigkeit wird in einem radikalisierten Sinne zu unserem Schicksal. Der Soziologe Zygmunt Bauman beobachtet daher die Rückkehr und ‚Rache’ des Nomadischen: Waren die Nicht-Sesshaften in der ‚klassischen Moderne’ als Obdachlose stigmatisiert, sind heute umgekehrt diejenigen im Nachteil, die an einer Heimat im Sinne eines festen Wohnorts festhalten, die immobil sind. Wer nicht bereit ist, weiterzuziehen, wird zu einem ‚Standortproblem’ und ist nicht mehr wettbewerbsfähig. Ununterbrochen unterwegs zu sein ist zu einem Markenzeichen der globalen Elite, der ‚Jet-Set-Society’ aus Politikern, Künstlern, Sportlern, Managern und Wissenschaftlern geworden; sie sind die Gewinner der Globalisierung, die Immobilen sind die Verlierer. Die Schwierigkeit der Selbst-Verortung im globalen Raum nimmt dabei unterschiedliche Formen an: Tatsächlich kann man sich von Kontinent zu Kontinent bewegen, ohne eine wesentliche Veränderung an den Dingen, Personen und räumlichen Oberflächen, mit denen man es zu tun hat, wahrzunehmen. Die Hotels und Pizzerien, die Flughäfen, Banken und Filialen der großen Ketten sehen überall gleich aus und führen das gleiche Angebot, und die Popsongs aus den Lautsprechern in den klimatisierten Räumen unterscheiden sich auch nur marginal. Hinzu kommt, dass man sich von überallher gleichermaßen ins Internet und in die Telefonnetze einklinken kann. Daher kann man physisch sehr mobil, geistig, sozial und ‚medial‘ aber vollkommen immobil sein: Das ist eine andere Variante des ‚rasenden Stillstandes‘.
„Wherever I may roam, where I lay my head is home“ heißt es in einem Song von Metallica, aber was kann ‘home’ hier bedeuten? Was es definitiv nicht mehr bedeutet, ist jenes miteinander „Verwachsens“ von Subjekt und Welt, das die Weltbeziehungen früherer Epochen prägte. Wer lange Zeit am selben Ort verbringt, hat ein intimes Verhältnis zu jeder Straße, jedem Winkel, jedem Haus. Er kennt ihre Geschichte und verknüpft eigene Erinnerungen mit ihnen; er weiß, wie sie sich im Laufe der Jahreszeiten verändern und wie sie riechen, klingen und sich anfühlen. Nach dem fünften oder sechsten Umzug an einen anderen Ort interessieren diese Qualitäten jedoch nicht mehr: Wer wieder und wieder seinen Lebensort wechselt, nimmt bald ein rein instrumentelles Verhältnis zu ihm ein. Die Straßen und Häuser der Umgebung interessieren nur insofern, als sie funktionale Bedeutung haben. Man muss wissen, wo es einen Bäcker gibt, eine Bank, ein Kino und eine Wäscherei. Mit ihnen verbindet uns weder geteilte Erinnerung noch erlebte Geschichte. Der französische Philosoph Marc Augé beobachtet daher eine unablässige Verwandlung von Orten in Nicht-Orte: Erstere sind durch eben jene geteilten Erinnerungen und lebendigen Beziehungen und dadurch, dass sie Teil unserer Identität werden, gekennzeichnet, letztere haben nur instrumentelle Bedeutung für uns: sie sind austauschbar, es sind Durchgangsorte. Ebendieser Prozess trifft nun aber auch die Möbel unserer Wohnung, das Auto, die Kleidung: Da die Austauschzyklen immer kürzer werden und Reparaturen sich immer weniger lohnen, arbeiten wir nicht mehr an den Dingen, so dass wir sie uns durch eigene Tätigkeit anverwandeln und gerade durch ihre kleinen Fehler und Besonderheiten unverwechselbar machen könnten. Wir werfen sie weg, bevor sie uns ans Herz gewachsen sein können.
Und die Menschen? Es ist offensichtlich, dass wir mit viel, viel mehr Menschen in Kontakt kommen als unsere Vorfahren – und den Kontakt auch wieder verlieren. Aber nicht nur die Zahl der Kontakte hat sich (für die meisten von uns) dramatisch erhöht, sondern auch ihre Art hat sich gewandelt. Tatsächlich gleichen sich die Beziehungsstrukturen der Mittel- und Oberschichten der industrialisierten Länder immer mehr den Netzwerkstrukturen des Internet an: Man trifft Menschen, geht mit ihnen einen trinken, unternimmt etwas, fühlt sich ein paar Tage, Wochen oder Monate (wie die Kontingenzen der Lebensverläufe es ergeben) sehr nahe – und verliert sich dann wieder aus den Augen, ohne voneinander Abschied zu nehmen. Als Netzwerkknoten bleiben wir uns wesentlich fremd: Wir durchdringen uns nicht in unserer Identität, wir teilen keinen Lebensweg. Nichts ist nervtötender als der Kollege der meint, uns seine Lebensgeschichte erzählen zu müssen.
Die hohe Mobilität des sozialen Lebens der Spätmoderne führt also tendenziell zu Entfremdung – zum Fremdwerden der Dinge und Orte, der Menschen und Verhältnisse. Dies birgt aber die Gefahr, dass sich die Welt in eine kalte, starre, indifferente Oberfläche verwandelt, dass sie uns dauerhaft zu „tausend Wüsten, stumm und kalt“ (Nietzsche) wird, weil nichts mehr zur Heimat in dem Sinne gerinnt, dass es identitätsstiftende Bedeutung erlangt. Indifferenz ist das Problem dieser Art des In-die-Welt-Gestelltseins: Die Welt bietet Myriaden von Möglichkeiten, aber sie bedeuten uns alle nichts mehr. Dies könnte zu einem ‚inneren Stillstand‘, zu einem ‚rasenden Stillstand‘ in Form eines Burnout führen, der sich nicht nur trotz, sondern gerade wegen hoher physischer, sozialer und medialer Mobilitätsraten ereignet. Diese ‚innere Erstarrung‘ scheint mir gegenüber der Erschöpfung kohlenstoffbasierter Energieträger das wahrscheinlichere Ende der Mobilisierungsspirale zu sein: Fossile Energieträger sind substituierbar, psychische nicht.
Pour citer cette ressource :
Hartmut Rosa, Heimat im Zeitalter der Globalisierung, La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), décembre 2014. Consulté le 06/12/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/civilisation/civilisation/environnement-et-developpement-durable/heimat-im-zeitalter-der-globalisierung