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Hartmut Rosa über die mobilen Gesellschaften

Par Hartmut Rosa, Cécilia Fernandez : Professeur agrégée d'allemand - ENS de Lyon
Publié par cferna02 le 31/12/2014

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Interview avec le sociologue Hartmut Rosa sur l'accélération du temps, processus caractéristique selon lui de notre époque moderne, et sur les limites de la mobilité dans notre système mondialisé.

Portrait du sociologue Hartmut Rosa

Hartmut Rosa, Soziologe und Politikwissenschaftler, ist Professor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und steht dem Max-Weber-Kolleg in Erfurt als Direktor vor. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt die Frage der Beschleunigung, ein Prozess, den er als unsere Epoche kennzeichnend betrachtet.

Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik (Suhrkamp, 2012)

 https://video.ens-lyon.fr/eduscol-cdl/2014/2014-12-31_ALL_Rosa.mp4

 

Transcription de l'interview

Cécilia Fernandez: In Ihrem Werk, das 2005 erschienen ist, entwickeln Sie das Konzept der Beschleunigung, um die Veränderung der Zeitstrukturen zu bezeichnen. Könnten Sie uns dieses Konzept näher bringen ?

Hartmut Rosa: Die Ausgangsfrage des Buches und auch meiner Arbeit seit vielen Jahren ist eigentlich ein ganz einfaches Rätsel, das jeder am eigenen Leib erfährt, nämlich die Beobachtung, dass die Moderne eigentlich eine sensationelle Geschichte des Zeitsparens ist, weil fast alle Technologien, die wir erfinden, dienen dem Einsparen von Zeitressourcen, so dass wir ja in der Tat spektakuläre Erfolge erzielt haben im Einsparen von Zeit, im Transportwesen, aber auch im Kommunikationswesen oder auch in der Produktion übrigens, die industrielle Revolution und die gegenwärtige digitale Revolution dienen dem Einsparen von Zeitressourcen, so dass man sagen kann, Moderne ist schon mal auf der technischen Seite eine Beschleunigungsgeschichte.

Aber die spannende Frage ist : Wo geht die Zeit eigentlich hin, weil wir gleichzeitig sagen können, die Moderne ist auch die Geschichte der immer knapper werdenden Zeit. Moderne Menschen erkennt man daran, dass sie hetzen geradezu, dass sie schneller reden -was ich leider auch tue!-, dass sie schneller gehen sogar, und immer das notorisches Gefühl haben, Zeit wird ihnen knapp. Man kann wirklich sagen, je entwickelter eine Gesellschaft ist und je weiter die Moderne voranschreitet, um so knapper wird die Ressource Zeit. Und meine Ausgangsfrage war zu sehen, wo diese Zeit hingeht. Und die Antwort war dann, dass wir es eben nicht nur mit technischen Beschleunigungsprozessen zu tun haben, sondern auch mit der Zunahme von Veränderungsgeschwindigkeiten ; also die Welt bleibt nicht, wie sie ist, sie ändert sich in Modewellen beispielsweise, aber auch in den Praktiken, wie man Dinge tut, wie man telefoniert zum Beispiel hat sich in den letzten Jahren immer wieder gewandelt, oder sogar welche Lehrpläne gerade gültig sind an den Schulen usw. Das nenne ich eine Beschleunigung sozialen Wandels, die jetzt nicht unmittelbar technisch ist, weil sie nicht zielgerichtet ist, in der Regel ist sie auch gar nicht beabsichtigt. Und als Folge davon versuchen wir das Lebenstempo zu steigern, also mehr Dinge zu tun pro Tag oder pro Monat oder Leben, also eine Erhöhung des Lebenstempos, so dass man sagen kann, das Konzept der Beschleunigung umfasst eine technische Beschleunigung, eine Beschleunigung sozialen Wandels und eine Beschleunigung des Lebenstempos.

Cécilia Fernandez: Im selben Buch erklären Sie die negativen Folgen der Beschleunigung im sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bereich. Ist diese Beschleunigung nur negativ aufzunehmen ?

Hartmut Rosa: Aber ich wollte nicht sagen, und im Buch sage ich das hoffentlich auch nicht, dass Beschleunigung nur negativ sei, also diese Dynamisierung von Welt hat uns Freiräume geschaffen, die, ich glaube, zu einem großen Teil mit dem Versprechen der Moderne einhergehen, dass wir nämlich ein selbstbestimmtes Leben führen können, und ich glaube, die ist sogar verknüpft mit unserer Vorstellung von Glück. Also schnell zu sein ist verknüpft mit der Idee frei zu sein und Möglichkeiten zu haben, und das geht einher natürlich (die technische Beschleunigung) auch mit sozialer Dynamisierung. Die Prozesse, die wir in der Soziologie als Individualisierung beschreiben können, dass also die Söhne und Töchter nicht einfach gezwungen sind, das Leben der Eltern zu führen oder der Großeltern, das ist auch ein Moment von Dynamisierung, sogar von Beschleunigung, weil sich damit die Veränderungsgeschwindigkeit erhöht, und die würde ich auf keinen Fall negativ werten wollen. Die These ist nur, dass die Beschleunigung zu einem strukturell notwendigen Moment der Gesellschaft geworden ist und überhaupt nicht abschließbar ist ; also sie muss sich immer weiter steigern, was mit der Natur moderner Gesellschaften, insbesondere auch des Kapitalismus zusammenhängt, der auf Steigerung notwendig angewiesen ist, und das bedeutet, dass irgendwann die Zugewinne, die Freiheitszugewinne, die Glücksversprechen der Beschleunigung wieder einkassiert werden und verloren gehen, so dass im Verlaufe der Beschleunigungsgeschichte die Zwangsförmigkeit immer stärker zu Tage treten wird.

Cécilia Fernandez: Heute Abend nehmen Sie an einer Debatte über « das Ende der mobilen Gesellschaften » teil. Was denken Sie denn von der Nachhaltigkeit eines solchen gesellschaftlichen Modells ?

Hartmut Rosa: Beschleunigung ist eigentlich mein Begriff für die moderne Gesellschaft, von der ich glaube, dass sie auf Steigerung oder Dynamisierung hin angelegt ist. Wenn man sich die Geschichte moderner Gesellschaften, also aller westlichen Gesellschaft zumindest ansieht, vielleicht so eine globale Perspektive annimmt -vielleicht beobachtet uns jemand aus dem All !- dann frage ich mich, und auch oft meine Studenten, was würden die sehen, und meine Antwort ist : einen permanenten Prozess der Dynamisierung. Also wir setzen Welt in Bewegung, auch ganz auf der materiellen Seite, nicht nur materiell, auch sozial und geistig, aber materiell könnte man es am besten sehen. In den USA sollen 300 000 Leute zu jedem Zeitpunkt in der Luft sein, also wir setzen wirklich Menschen in Bewegung. Da geht es nicht um Spitzengeschwindigkeit, sondern um die durchschnittliche Geschwindigkeit, mit der Menschen in der Luft oder auch zu Wasser oder auf dem Land mit Eisenbahn oder Auto unterwegs sind, und natürlich auch Dinge : Wir befördern ja riesige Mengen an Öl, an Rohstoffen auf der einen Seite, an Waren auf der anderen Seite ; und inzwischen natürlich auch eine permanente Dynamisierung von Ideen, Daten und Informationen, Bildern und Musik. Also wir setzen Welt buchstäblich in Bewegung, und moderne Gesellschaften sind institutionell so verfasst, dass wir uns jedes Jahr ein bisschen steigern müssen, damit wir so bleiben können, wie wir sind.

Das sieht man insbesondere an der Notwendigkeit des Wirtschaftswachstums. Es gab gerade diesen großen G-20-Gipfel und dessen einziges Thema neben der Krise in der Ukraine war : Wie kriegen wir Wachstum wieder in Gang ?  Und die Idee ist also, wir brauchen Steigerung, um so zu bleiben, wie wir sind, und diese Dynamisierung der Welt, das In-Bewegung-Setzen von Welt braucht auch physische Energien zunächst, nämlich Rohstoffe, insbesondere kohlenstoffbasierte Rohstoffe, Öl, und John Urry, der heute Abend mitdiskutiert, ist der Auffassung, dass diese Mobilisierung, Dynamisierung von Gesellschaft mit dem Öl zu Ende gehen wird. Also wenn uns das Öl ausgeht, wird das vorbei sein. Das glaube ich übrigens nicht unbedingt. Ich glaube wir sind in der Lage, andere Stoffe zu finden, also wenn uns zum Beispiel Kernfusion gelingen würde, und da machen Techniker tatsächlich Fortschritte, gibt es vielleicht andere Möglichkeiten, Welt in Bewegung zu setzen. Trotzdem verbrauchen wir Rohstoffe in großem Maße -was wir als Ökokrise beschreiben-, die wir nicht so schnell ersetzen können, so dass ich denke, da gibt es eine Grenze, die einfach eine ökologische Grenze ist, und auch eine Gefahr, ich beschreibe das als eine Desynchronisation, die Rhythmen der Natur sind zu langsam in der Produktion von Rohstoffen, aber auch in der Verarbeitung von Giftstoffen für uns Menschen.

Aber ich glaube, wir brauchen nicht nur die materiellen Energien, also die physischen Energien, die Rohstoffe, sondern wir brauchen auch psychische Energie, um dieses System am Laufen zu halten, also diese Steigerung und Beschleunigung wird auch von uns Menschen verlangt, wir müssen uns schnell anpassen, flexibel sein, aber auch kreativ und innovativ sein, also die Erneuerung ständig hervorbringen, die Steigerung ist auch eine, die wir körperlich erbringen, und das, was man als die Psychokrise der Gegenwart beschreiben kann, insbesondere die Burn-out-Erkrankungen, aber auch die Ängste davor, sind ein Zeichen dafür, dass diese permanente Dynamisierung auch einen psychischen Preis erhält. Und ich glaube damit geht auch ein politischer Preis einher. Die modernen Gesellschaften westlichen Typs sage ich mal, aber ehrlich gesagt genauso die eher « autoritären » Gesellschaften in östlicheren Gefilden setzen ihre gesamte politische Steuerungsfähigkeit auf die Aktivierung von Energien, auch sozialer Energien. Wenn Sie den Umbau der Wohlfahrtsstaaten sich ansehen in den letzten zwanzig Jahren, geht es immer darum, möglichst viel aus Kindern herauszuholen an humanem Kapital, die müssen gebildet sein, die müssen fit sein, flexibel sein, aber auch die Rentner, Leute, die im Ruhestand sind, sollen noch irgendwie Energien einbringen, Ressourcen einbringen ins soziale Leben. Und politische Gestaltung ist eigentlich in Wettbewerb um die Standortgestaltung -wer schafft das beste Beschleunigungsklima?-, so dass meine These lautet, ja, Beschleunigung hat einen Preis und hat auch Grenzen, politische Grenzen, psychische Grenzen, ökologische Grenzen.

Cécilia Fernandez: Welche Zukunftsperspektiven hat Ihrer Meinung nach unsere hypermobile Gesellschaft ? Ich glaube, in Ihrem Buch sprechen Sie von verschiedenen Szenarien, was passieren könnte, zum Beispiel der technische Fortschritt könnte eine Lösung sein, aber es gibt noch andere Möglichkeiten...

Hartmut Rosa: Ich glaube, grob gesagt gibt es eigentlich zwei Möglichkeiten erstmal für den Ölfortgang – oder vielleicht sogar drei. Die eine Möglichkeit wäre -eine gar nicht so unrealistische-, dass wir an Grenzen stoßen, die entweder in Form eines großen Unfalls oder einer Katastrophe über uns hereinbrechen können. Die Weltwirtschaftskrise war so eine Möglichkeit, wie diese Dynamik zum Erliegen kommt, zunächst mal im ökonomischen Bereich, aber da sind unglücklicherweise auch andere Dinge denkbar : Das rasend schnelle Ausbreiten von Krankheiten wie zum Beispiel Ebola in einer hoch vernetzten Welt, wenn so etwas mal nicht in Afrika entsteht, sondern in New-York oder so, wo permanent die Ströme in alle Welt gehen, dann wäre das eine sehr unglückliche Deutungsmöglichkeit. Auch politische Katastrophen sind denkbar : Das sehen wir momentan mit der Krise zwischen Russland und der EU, wer immer daran schuld sein mag, sieht man, dass im Prinzip selbst eine nukleare Katastrophe immer noch denkbar ist als Ausgang, das wäre aber sozusagen eine Unfall-Lösung, wo man schon sagen kann, je höher die Geschwindigkeit eines Systems, umso kräftiger dann auch der Crash, wenn er sich ereignet. Oder halt die Ökokatastrophe in irgendeiner Form.

So, dann kann man aber sagen, wenn wir das mal ausklammern, es gibt auf jeden Fall die Möglichkeit, die Geschwindigkeit weiter zu steigern, technisch sind wir noch lange nicht an der Grenze. Ich habe schon gesagt, Kernfusion könnte neuer Energieträger sein. Es gibt im Prinzip nichts, was a priori ausschließen würde, dass wir so etwas wie programmierbare Materie erfinden, so dass wir die gleiche Materie immer wieder umprogrammieren, also die dient uns mal als Taschenlampe oder mal als Kleidungsstück und mal vielleicht als Fahrzeug, also ich glaube, da gibt es noch viele Möglichkeiten, technisch die Geschwindigkeit zu erhöhen. Die Frage ist dann allerdings, wie wir das psychisch, kulturell und physisch verarbeiten ; und da glaub ich in der Tat, dass wir an gewissen Grenzen stehen, die wir auch sehen. Paul Virilio, der berühmte französische Beschleunigungstheoretiker, der so etwas wie eine « Dromokratie » versucht hat zu schreiben, also die Geschichte der Welt als Beschleunigungsgeschichte, der sagt, die technische Beschleunigung kommt in drei Stufen : Transportrevolution, die haben wir hinter uns, eine Transmissionsrevolution, die haben wir auch hinter uns mit der Digitalisierung, mit Medien, auch mit Fernsehen schon, und die dritte Stufe, sagt er, wird eine Transplantationsrevolution sein, nämlich die Fusion von Körpern und Computern und auch pharmazeutischen Interventionsmöglichkeiten, also wir müssen unseren Körper und auch unseren Geist erweitern, wenn wir als Menschen mit diesen Geschwindigkeiten mithalten wollen. Wir sehen ein bisschen solche Versuche, nicht nur, wenn man sich den Drogengebrauch ansieht -Energiedrinks sind total beliebt, auch Speed als Droge oder Amphetamine, die Leistungsfähigkeit steigern ; die bewusstseinsverändernden Drogen wie LSD zum Beispiel oder selbst Heroin, die sind nicht mehr populär, aber Leistungsdrogen sind populär, und Menschen fangen an, ihren Körper pharmazeutisch aufzuladen, technisch zu optimieren, auch tatsächlich mit Computern zu verbinden, indem man Gedächtnisleistungen auslagert, sogar nicht nur Erinnerungen an Informationen, sondern sogar an Gefühle kann man inzwischen mit Computern speichern, so dass ich sagen würde, wenn wir weiter uns steigern, es ist denkbar, dann müssen wir uns aber umbauen als Menschen, das wird sicher auch unsere Gefühlswelt beeinflussen.

Und die dritte, mir liebere Lösung wäre, dass wir nochmal darüber nachdenken, kollektiv, demokratisch, das ist das Grundversprechen der Moderne, dass wir nicht irgendeinem Zwang nachgeben, auch nicht dem Beschleunigungszwang, also nicht nur « nicht Kirche und nicht König » einfach folgen, sondern auch nicht dem selbstinganggesetzten Beschleunigungszwang folgen, und dann eine Selbststeuerungsfähigkeit gewinnen, deren Basis die Überlegung sein muss, oder die Frage sein muss, nicht wie schnell können wir werden, sondern wie schnell wollen wir werden, welche Geschwindigkeit ist eigentlich gut für ein gelingendes Leben. Das große Problem ist, dass man nicht richtig sieht, wie man das politisch hinkriegen soll im Zeitalter der globalen Konkurrenz, wo immer die Angst herrscht, wenn wir es nicht machen, machen es die Chinesen oder die Koreaner oder sonst jemand, aber erstaunlicherweise gibt es auch in China und in Lateinamerika und insbesondere auch in Südeuropa und überall ein Bewusstsein für den Preis der Geschwindigkeit und auch Widerstand dagegen, und vielleicht auch im Herzen zum Beispiel jetzt der deutschen Wirtschaft, die ja im Moment immer noch ökonomisch boomt, gibt es viele junge Leute, die sagen, sie wollen gar nicht in die Spitzenpositionen, nicht in die politischen, nicht in die wirtschaftlichen und nicht in die wissenschaftlichen, weil sie auch noch leben wollen. Also vielleicht gibt es so etwas wie eine kulturelle Fähigkeit einer Selbstbremsung, einer Selbststeuerung, und das wär mir natürlich die liebste Variante.

Cécilia Fernandez: Dann hätte ich eine letzte Frage. Also ich würde gern zuletzt zum Individuum kommen. Welcher Spielraum bleibt jedem einzelnen von uns, um auf den sozialen Rhythmus einzuwirken ?

Hartmut Rosa: Das ist für mich ein schwieriger Punkt, ich ändere da immer mal wieder ein bisschen meine Meinung. In dem 2005er Buch Accélération[1] habe ich die Spielräume des Individuums erstmal für sehr gering gehalten, und auch das so geschrieben. Das war ein bisschen dem Umstand geschuldet, dass mir diese Zeitratgeber auf den Wecker gingen, weil das meiste, was es über Zeit gab, auch über das Beschleunigungsproblem, das immer zum Individualproblem erklärt hat. Da gab es ganz viele so Zeitmanagement-Bücher, also wie wir es als Individuen machen müssen, dass wir besser damit umgehen können, und diese Idee gibt es ja immer noch, dass man sagt, wie entwickele ich jetzt die richtige Strategie des Umgangs, das richtige Gelassenheitstraining oder Meditationstechnik. Ich fand das immer die falsche Herangehensweise, deshalb habe ich auch damit angefangen, ich bin ja nicht zufällig Soziologe, weil ich glaube, es ist ein strukturelles Problem, etwas, das in die moderne Gesellschaft eingeschrieben ist, auch in die institutionelle Arbeitsweise, Steigerung ist notwendig, um insbesondere die kapitalistische Wirtschaft in Gang zu halten und ich kann dieses Problem nicht einfach durch individuelles Verhalten lösen, so dass ich sagen würde, das ist so ähnlich wie, wenn ich eine Krankheit habe, Diabetes zum Beispiel, also Zuckerkrankheit, die kann ich nicht individuell lösen, aber das heißt nicht, dass wir gar nichts tun können.

Man kann damit umgehen lernen, die Psychologen nennen das « Copingstrategien », also Strategien des Umgehens damit. Und da glaub ich, dass ein paar Dinge schon wichtig sind, erstmal sich das bewusst machen, dass wir es mit strukturellen Problemen zu tun haben, so dass wir die Idee aufgeben sollten, dass wir schon nichts verpassen werden. Sehr häufig denken Leute, ja ich kann ein bisschen langsamer werden, ich werde schon nichts verpassen : ich glaube, das ist die falsche Strategie, man muss das ändern und sagen : Ja, ich werde was verpassen. Wenn ich jetzt mein Handy ausschalte und erst am Montag wieder ein, dann werde ich was verpassen, aber das ist gar nicht so schlecht, das ist mir der Sache wert, und ich glaube, wir müssen unbedingt kleine Zonen schaffen, ich nenne das Raum-Zeit-Inseln oder Raum-Zeit-Oasen, in denen dieser notorische Impuls, dass wir dringend Dinge tun müssen, stillgestellt ist. Das hat man früher im Deutschen Muße genannt oder Feierabend, da war die Idee, der Feierabend oder die Muße ist ein Zustand, an dem das Tagwerk vollbracht ist, wo keiner mehr legitime Anforderungen an mich stellt oder Erwartungen haben kann, oder ich auch selber nicht mehr das Gefühl habe, ich müsste noch dringend was lesen, was schreiben oder für die Fitness tun, sondern wo ein Moment im Tag oder in der Woche eintrat, wo ich dachte, alle Last fällt von mir ab, alle zeitliche Last. Und diesen Zustand erreichen wir eigentlich gar nicht mehr, weil es gibt immer etwas, was man tun müsste. Wenn wir nicht daran denken, dass Zeit Geld ist, denken wir daran, dass Zeit Bildung ist, dass wir Zeitung lesen könnten oder ein Buch oder tausend Dinge tun, selbst einen Film kucken kann als Arbeit erscheinen, oder dass Zeit Beziehungen sind, wir könnten den anrufen oder jenem schreiben oder noch jemanden besuchen, oder dass Zeit Fitness ist, wir könnten ein bisschen Fitness machen, ein bisschen joggen oder was für die Psyche tun, so dass wir eigentlich diesen Zustand der Muße, alles, was ich heute tun kann, ist erledigt, gar nicht erreichen. Da verfolgen Menschen Strategien, sich solche Räume zu bauen : Sie gehen ins Kloster, wo es kein Internet gibt, wo es keine Sportgeräte gibt und keinen Flughafen, wo sie dann um 19 Uhr abends..., wo es gar nichts mehr gibt, was man tun kann oder tun muss, das ist solch ein Zustand der Muße. Wieder andere gehen in die Berge, in eine einsame Hütte in den Alpen, wo sie genau diesen Zustand haben, ich kann jetzt nichts mehr tun, die letzte Seilbahn ist nach unten gefahren, ich bin auf dem Berg oben, das ist so ein Zeitraum, wo dieser habituelle Impuls, dass man dringend Dinge tun müsste, dass wir im Hamsterrad laufen, verschwindet. Ich glaube, man kann das ein bisschen trainieren, auch ohne Berge oder Kloster, sich im Alltag, am Ende des Tages oder am Wochenende kleine Inseln zu schaffen, wo man sagt, jetzt nicht, jetzt gilt keine Art von Anforderung an mich.

Ich glaube, wir können auch als Individuen, also auch kollektiv als Subjekte über Strategien nachdenken, wie wir uns lösen von der Idee, dass das Leben besser wird durch Steigerung, durch mehr Optionen, durch mehr Verfügbarkeit von Welt. Ich glaube nämlich, dass wir als Subjekte immer der Idee folgen, wenn wir mehr Möglichkeiten haben, wird das Leben besser, in der Stadt ist das Leben besser, weil da habe ich mehr Dinge in Reichweite, ich kann ins Kino, ins Theater und in tausend andere Dinge gehen, oder ein Smartphone macht mein Leben besser, weil es bringt mir Welt in Reichweite, ich kann dann jederzeit Dinge tun, und das ist ja auch nicht falsch, aber das hat halt einen Preis sozusagen. Also wir orientieren uns immer an der Idee, mehr Welt in Reichweite ist besser und ich glaube, wir müssen einen Sinn zurückgewinnen, dass es nicht nur darum geht, Welt verfügbar zu haben, sondern mit ihr in einer Weise auch in Austausch zu treten, die ich als Resonanzbeziehung beschreibe, das heißt in eine Art von Antwortbeziehung zu treten, zu Menschen, zu Dingen, zur Natur, zur Musik, wir suchen so etwas im Konzert zum Beispiel, wo wir berührt werden wollen, wo wir das Gefühl haben wollen, da berührt mich was, das bedeutet mir was, oder in der Natur oder manche auch in der Religion, da treten sie in eine Art von resonanter Welthaltung und ich glaube, man kann von einer Steigerungs- auf eine Resonanzorientierung auch im Alltag, auch bei der Arbeit wieder ein Stück weit umschalten. So dass meine Hoffnung wäre, die nötige Veränderung, diese Selbstbremsung, von der wir gesprochen haben, kann sozusagen aus zwei Bewegungen erfolgen, wir brauchen eine individuelle Änderung der Orientierung, aber wir müssen auch politisch darüber nachdenken, wie wir Instrumente finden, nicht die uns verlangsamen, ich glaube, das ist gar nicht so wichtig, sondern die uns befreien von dem blinden Steigerungszwang, dass wir jedes Jahr noch eine Schippe drauflegen müssen auf das, was wir jetzt schon haben.

[1] Accélération. Une critique sociale du temps (La Découverte, 2013). Texte original: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne (Suhrkamp, 2005).

 

Pour citer cette ressource :

Hartmut Rosa, Cécilia Fernandez, "Hartmut Rosa über die mobilen Gesellschaften", La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), décembre 2014. Consulté le 25/04/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/civilisation/civilisation/environnement-et-developpement-durable/hartmut-rosa-yber-die-mobilen-gesellschaften

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