Alfred Döblin: ein interkultureller Schriftsteller
Als deutscher Schriftsteller jüdischer Abstammung, der 1936 im Pariser Exil die französische Staatsbürgerschaft annahm, 1941 im amerikanischen Exil in die katholische Kirche eintrat, nach dem Krieg nach Deutschland zurückkehrte und nun auf einem französischem Friedhof ruht, stellt Alfred Döblin das besonders interessante Beispiel eines interkulturellen Autors dar. Als Exilschriftsteller kam er vor allem mit dem westlichen Kulturraum in Berührung (Frankreich, Deutschland, Schweiz, Amerika). Aber neben der abendländischen Kultur und der jüdisch-katholischen Weltanschauung prägte auch die mystisch anmutende buddhistische Kultur sein literarisches Werk. Obwohl seine Einnahmen ihm weder eine Reise nach Indien noch eine nach China erlaubten, konnte er, wie er selbst später zugeben sollte, eine Fülle von Reisebeschreibungen lesen, an denen er großes Interesse fand. Übrigens stellte er sich das Schreiben als eine Reise vor, in der er neue Entdeckungen machte. Darum lässt sich bei ihm auch der Schreibprozess gleichsam mit Fahrten vergleichen, die ihn nach China, Indien, Grönland und in andere Epochen führten.
1. Das Exil als Reise zwischen den Kulturen
Alfred Döblins Lebensweg war in erster Linie der eines Exilierten. Der ständige Ortswechsel machte ihn zu einem ewigen Wanderer. Der zwischen mehreren Kulturen pendelnde Autor sah sich immer wieder dazu gezwungen, sich neu anzupassen. Im Jahre 1914 kam er als Militärarzt in die Grenzregion Elsass-Lothringen. Gerade in diesem Gebiet, das seit 1870 schon immer nur halbdeutsch gewesen war und nach dem Krieg schnell französisches Gebiet wurde, wohnte Döblin der deutschen Novemberrevolution bei. So entwickelte er während seines Aufenthalts ein besonderes Gespür für die deutsch-französischen Verhältnisse und die kulturellen Merkmale beider Länder. Seine Erfahrungen im Elsass-Lothringen hielt er in seiner Tetralogie November 1918 fest.
Im Jahre 1933 fing dann das wirkliche Exil an. Döblin sah sich gezwungen, Berlin zu verlassen und in Paris Zuflucht zu finden. So hart diese erste große Entwurzelung Döblin getroffen haben mag, sie trug auch dazu bei, Döblins Verhältnis zu Frankreich auszuprägen. Durch französische Germanisten wie Robert Minder gewann Döblin einen Einblick in die französische Kultur, was seinem literarischen Schaffen neue Impulse verlieh. So bewunderte er vor allem den seit 1789 in Frankreich allgegenwärtigen Freiheitsgedanken sowie die gesellschaftliche Tragweite der Werke eines Balzac.
Döblin hatte sich in seinen Exiljahren in Paris relativ erfolgreich dem Strom des Pariser Lebens anpassen können, aber die gezwungene Flucht aus Paris im Jahre 1940 bedeutete für ihn einen neuen Bruch und einen erneuten Entfremdungsprozess, die er als regelrechte "Zeit der Beraubung" empfand, wie er es in seinem Exilroman Schicksalsreise bezeichnete (1996 : 124). Döblin blieb die amerikanische Kultur fremd, und als der Krieg vorbei war, kehrte er nach Deutschland zurück, mit dem Wunsch, an der sich neu konstituierenden kulturellen Landschaft der Nachkriegsjahre teilzunehmen.
Doch die Rückkehr nach Deutschland, in eine neue, ihm fremd gewordene Umgebung, stellte Döblin erneut auf die Probe. So suchte er nach dem Krieg parallel zu seinem europäischen Engagement nach neuen kulturellen Paradigmen.
2. Döblin, ein Bindeglied zwischen den Kulturen
Bei seiner Rückkehr in die deutsche 'Heimat' musste Döblin feststellen, dass das nationalistische Denken fortwährend die deutsche Gesellschaft prägte. Um dem entgegenzuwirken, versuchte er, die Völker über deren nationale Kulturen und Paradigmen hinweg zu einem europäischen Gedankengut zusammenzubringen. So bemühte er sich um eine Völkerverständigung auf deutschem Boden und trug somit dazu bei, den kulturellen Boden für den in der Nachkriegszeit aufkeimenden europäischen Gedanken zu schaffen. Döblins Plädoyer für den Frieden wurde zum Projekt einer interkulturellen Kommunikation. So heißt es in seiner Saarbrücker Rede über das neue Europa: "Eigentlich sind wir ja alle Europäer, ob wir deutsch, französisch oder italienisch sprechen" (29.6.1952).
Wie in seinen Pariser Exiljahren 1933-1940, als er gemeinsam mit Robert Minder ein wertvolles Bindeglied zwischen Deutschland und Frankreich darstellte, zielte Döblin sein Leben lang auf interkulturelle Verständigung ab und war darum bemüht, die Grundlagen für einen Friedensdiskurs zu schaffen. Sein Wille, als interkultureller Agent zu wirken, hatte zur Folge, dass er sich für eine tiefgreifende Umerziehung engagierte, in der er die Literatur als Mittel zur Verbreitung seiner Friedensästhetik einsetzte.
Döblins interkulturelle Vorgehensweise bestand vor allem darin, dass er intertextuell arbeitete und auf diese Weise verschiedene Kulturen ins Gespräch kommen ließ. Chinesische, südamerikanische und indische Kulturen wurden in seinem Werk geschildert, um mit deren Hilfe Kritik an der europäischen Wirklichkeit und ihren totalitären Diskursen zwischen 1914 und 1945 zu üben. In seiner Amazonas-Trilogie zum Beispiel inszenierte Döblin die Begegnung zwischen Europäern und Indianern. Die besondere Situation der Indianer (die zu bloßen Rohstofflieferanten werden) sowie der europäischen Eroberer (die der neuen Techniken nicht Herr werden) führt auf beiden Seiten zu einem Krisenbewusstsein, das letztlich zur Einführung antitotalitärer und antikolonialer Diskurse führt.
So ist Döblin laut Robert Minder "eingefügt in größere Zusammenhänge, Brücke zwischen Osten und Westen, der Welt verbunden und damit Vor- und Sinnbild der eigenen Heimat" (Alfred Döblin zwischen Ost und West).
3. Döblin zwischen Religion und Mystik
Als emanzipierter Jude pflegte Alfred Döblin ein enges und zugleich auch ambivalentes Verhältnis zum Judentum. Davon zeugen unter anderem sein Reisebericht Reise nach Polen (1924) und seine Schriften zur jüdischen Frage (1924). Aber gerade dieses zwiespältige Verhältnis eröffnete ihm den Zugang zu anderen Kulturen, weil er über die Fremdheit des eigenen Landes (Deutschland) und der eigenen Religion nachdachte. Die 1924 unternommene Reise nach Polen stellte insofern einen Wendepunkt in Döblins Schreiben dar, als dort die Begegnung mit einer großen Zahl von Aschkenasim (osteuropäischen Juden) Döblin eine doppelte Perspektivierung abverlangte: zum einen eine Selbstbetrachtung der eigenen Wurzeln, zum anderen eine Fremdbetrachtung, die ihm die Diskurse fremder Menschen zugänglich machte. Das daraus für die Darstellung abgeleitete Porträt des Ostjuden war ein mehrschichtiges, zwischen Säkularisierung und Synkretismus pendelndes Bild.
In Döblins naturphilosophischen Schriften Buddha und Natur (1921), Ich über der Natur (1928) und Unser Dasein (1933) unter anderem entstand ein Weltbild, das als Antithese zum Säkularisierungsprozess der Moderne fungierte. Seine Faszination für das Mystische und seine Nähe zum buddhistischen Glauben fanden zunächst in seinem im Untertitel als "chinesischer Roman" bezeichneten Werk Die drei Sprünge des Wang-lun (1915) und in seinem epischen Naturroman Berge, Meere und Giganten (1924) ihren Niederschlag. Als Deutscher jüdischen Ursprungs bekehrte sich dann Döblin im amerikanischen Exil zum Katholizismus. Somit vereinigte er sowohl die jüdische als auch die christlich-katholische Kultur in sich. Beide Glaubensbekenntnisse prägten seinen diffusen mystischen Glauben, der vor allem sein Spätwerk kennzeichnete.
Döblins kosmozentrische Auffassung, seine magischen Visionen - seien sie chinesischen oder indischen Ursprungs - und das in seinen Werken hervorgehobene Zusammenwirken von Mensch und Natur dienen ihm dazu, das Anthropozentrische zu dekonstruieren und einen Kosmozentrismus poetisch zu konstruieren. Seine naturphilosophische Ästhetik stellt die Antithese zu einem nationalistisch gesinnten Diskurs dar und ist somit ein Grundpfeiler für Döblins interkulturellen Friedensdiskurs.
Bibliographie
Primärliteratur
DÖBLIN, Alfred. 1996. Schicksalsreise. Bericht und Bekenntnis. Hrsg. von Anthony W. Riley. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
DÖBLIN, Alfred. 1939. November 1918. Bürger und Soldaten, Bd. 1. Amsterdam: Querido Verlag.
DÖBLIN, Alfred. 2007. Die Drei Sprünge des Wang-lun. München: dtv.
DÖBLIN, Alfred. 2006. Berge, Meere und Giganten. München: dtv.
DÖBLIN, Alfred. 1995. Schriften zur jüdischen Frage. Hrsg. von Hans Otto Horch, in Verbindung mit Till Schicketanz. Solothum: Walter-Verlag.
DÖBLIN, Alfred. 2010. "Saarbrücker Rede über das neue Europa" (29.6.1952), in: Ralph Schock, Meine Adresse ist Saargemünd. Spurensuche in einer Grenzregion. Merzig: Gollenstein Verlag, p. 196.
Sekundärliteratur
HOFMANN, Michael. 2006. "Europäische Zivilisationskritik und indianische Mythen: Alfred Döblins Amazonas-Trilogie", in: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Stuttgart: Uni-Taschenbücher, pp. 106-116.
MINDER, Robert. 1996. Alfred Döblin zwischen Ost und West. Dichter in der Gesellschaft. Erfahrungen mit deutscher und französischer Literatur. Frankfurt a.M.
NENGUIE, Pierre Kodjio. 2007. "Exil, Grenzgängertum und Provokation", in: Yvonne Wolf (Hrsg.), Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium Mainz 2005, Jahrbuch für internationale Germanistik - Reihe A, Band 90. Bern: Peter Lang.
NENGUIE, Pierre Kodjio, 2005. Interkulturalität im Werk von Alfred Döblin: Literatur als Dekonstruktion totalitärer Diskurse und Entwurf einer interkulturellen Anthropologie. Stuttgart, Ibidem.
Pour citer cette ressource :
Livia Plehwe, Alfred Döblin: ein interkultureller Schriftsteller, La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), janvier 2012. Consulté le 21/12/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/litterature/mouvements-et-genres-litteraires/alfred-doblin-ein-interkultureller-schriftsteller