Wolfgang Hermann: Der weite Weg nach Frankreich
Im Frühjahr 2017 reiste der österreichische Schriftsteller Wolfgang Hermann nach Frankreich, um sein Buch Abschied ohne Ende (Langen-Müller, 2012) vorzustellen. Hauptfigur in dieser kurzen, dichten Erzählung ist ein Vater, der seinen Sohn verloren hat. Das Buch war einige Monate zuvor in der Übersetzung von Olivier Le Lay bei Verdier erschienen (Adieu sans fin) und hatte in den Medien für Aufsehen gesorgt. Von Libération über Télérama bis Le Monde: Die Rezensenten waren sich einig, dass hier ein wichtiges Buch vorgelegt worden war. Jean-Claude Lebrun schrieb in L’Humanité, dass es sich dabei um einen der großen deutschsprachigen Texte der letzten Jahre handele.
Die Lesereise führte Wolfgang Hermann nach Bordeaux, Paris, Lyon und Chambéry. Mit Orientierungsproblemen hatte er dabei nicht zu kämpfen. Hermann kennt Frankreich sehr gut. In den 90ern hat er einige Jahre in Paris und Aix-en-Provence gelebt, er spricht die Landessprache fließend und variantenreich, auch wenn er sich vor Publikum immer wieder für sein „hausgemachtes Französisch“ entschuldigt. Die Rolle als öffentliche Person, die er auf dieser Reise einnimmt, ist allerdings neu für ihn. Nach dreißig Jahren literarischen Schaffens und zahlreichen Auszeichnungen ist Abschied ohne Ende das erste Buch von Hermann, das ins Französische übertragen worden ist.
Eigentlich hätte es viel schneller gehen sollen. 1988 erschien Wolfgang Hermanns erstes Buch Das schöne Leben, für das er den Preis der Jürgen-Ponto-Stiftung für das beste literarische Debüt des Jahres erhielt. Georges-Arthur Goldschmidt bekam das Buch via Peter Handke in die Hände und wollte es sogleich übersetzen. Aus unbekannten Gründen wurde daraus aber nichts. Fünfundzwanzig Jahre später schickte Wolfgang Hermann Goldschmidt sein gerade fertig gewordenes Abschied ohne Ende, sein bis dahin persönlichstes und wahrscheinlich schwierigstes Buch. Tief beeindruckt leitete Goldschmidt das Buch an Olivier Le Lay weiter, an seinen Nachfolger als Übersetzer bei Gallimard. Dieser konnte dann das renommierte Verlagshaus Verdier von der Qualität der Erzählung überzeugen.
Der Weg nach Frankreich war ein weiter. Dennoch ist Hermann überglücklich, dass es schließlich doch noch geklappt hat. Literatur, so sein Eindruck, habe in Frankreich einen höheren Stellenwert als im deutschsprachigen Raum. Die Reaktionen auf sein Buch seien in dieser Hinsicht aufschlussreich. Während sich deutschsprachige Medien eher auf den „Schicksalsaspekt“ konzentriert hätten, sei in Frankreich viel mehr über das Literarische, über die sprachliche Ebene geschrieben worden. Auch deswegen bedeute ihm ein Erfolg hierzulande besonders viel. Und mit Verdier glaubt er auch ein Verlagshaus gefunden zu haben, auf das er sich verlassen könne. Olivier Le Lay, für den Hermann voll des Lobes ist, wolle noch andere Bücher von ihm übersetzen. Der vielfach ausgezeichnete Übersetzer kann dabei aus dem Vollen schöpfen. Seit 1988 hat der 1961 geborene Wolfgang Hermann mehr als zwei Dutzend Bücher veröffentlicht. Sein Werk ist ebenso umfang- wie facettenreich. Es umfasst Romane, Erzählungen, Gedichtbände, Reiseberichte, Städteportraits, etc., für die er viele Preise bekommen hat, unter anderem den Anton-Wildgans-Preis.
Bekannt ist Hermann vor allem für seine Prosaminiaturen, für seine „traumscharfen Momentaufnahmen“ (Hackl, 2008) von Städten, Landschaften und scheinbar alltäglichen Begebenheiten. Hermann bezeichnete die Arbeit an dieser seiner Spezialität in einem Radiointerview einmal als „Linsenschleifen“. Seine Miniaturen seien so etwas wie „optische Geräte“: „Ich glaube, eine Miniatur ist dann gelungen, wenn sie den Blick bricht, verändert und neu entstehen lässt.“ Der österreichische Literaturwissenschaftler Georg Pichler schrieb 2012 über das Werk von Wolfgang Hermann:
Wolfgang Hermann ist ein Meister der kleinen Form und der präzise geschilderten Beobachtung, mit Blick für das Detail und einer Prosa, die in ihrer ausgefeilten, uneitlen Verhaltenheit ihresgleichen sucht. Er hat es in seinen nunmehr dreiundzwanzig Büchern immer wieder bewiesen, in seinen eindrücklichen Beschreibungen von Orten hier und anderswo, in seinen meist kurzen Romanen mit ihren scheinbar einfachen Geschichten, die benennen, ohne zu zerreden, sich auf das Wesentliche konzentrieren.
Das französischsprachige Publikum wird sich in den nächsten Jahren ein genaueres Bild davon machen können.
Zum Buch Abschied ohne Ende
Abschied ohne Ende beginnt mit einem Donnerschlag: Ein Mann, ein allein erziehender Vater, betritt das Zimmer seines 17-jährigen Sohnes und findet ihn tot im Bett liegend. Es hat zuvor keine Anzeichen für eine ernstere Erkrankung gegeben. Der Vater versteht nicht, kann nicht verstehen, was passiert ist: „Aber es konnte ja nicht sein, es durfte nicht sein. Es war doch nur eine Grippe. Es war nur Fieber. Daran stirbt ein junger Mensch nicht.“ Auf die Fassungslosigkeit folgt das Entsetzen, der Schrecken, das Gefühl der Ohnmacht: „Ich lebe in einem Tunnel aus immergleichen Angstbildern“. Gegen diese setzt er allmählich andere, „die Bilder der Liebe“ zu seinem Sohn. „Es bleibt nur die Erinnerung, nur das Andenken, der innere Raum, den mir keiner nehmen kann.“ Erinnerung an Augenblicke wie diese:
Fabius mit acht auf meinem Schoß, auf einem Feldweg am Steuer meines Wagens. Er hielt das Lenkrad stolz, drehte in den Kurven wie wild daran, wandte zwischendurch den Kopf nach mir um, um zu sehen, was ich von seiner Fahrkunst hielt. Die Fenster offen, hörten wir den abendlichen Gesang der Grillen. Es war Sommer, der Feldweg gesäumt von hohem Schilf. Als wir anhielten, den Motor abstellten, den Feldweg entlanggingen, umhüllt von feuchtwarmer Riedluft, quakten uns Frösche entgegen.
Der Erzähler ist mit seiner Trauer und seinen Erinnerungen nicht alleine. Die Mutter von Fabius leistet ihm Gesellschaft, ebenso die Freundin und die vielen Freunde des Sohnes. Ganz langsam entsteht ein intimer Kreis, den das Andenken an den Verstorbenen zusammenhält.
Abschied ohne Ende ist ein tieftrauriges Buch, aber doch auch eines, in dem Trost, Hoffnung und große Lebensfreude immer wieder leuchtend aufblitzen.
Pierre Deshusses schrieb in Le Monde des Livres über diese Erzählung:
Bei manchen Büchern wünscht man niemandem, dass er sie schreiben muss. Aber gäbe es sie nicht, würden sie fehlen. Bücher, die so stimmig, so einfach, so knapp sind, dass man nur Eines sagen möchte: Lesen Sie sie und Sie werden sehen, fühlen, verstehen […]. Man kann nur Bewunderung aufbringen für die Kraft der Sätze - und ihrer Übersetzung -, die in der Lage sind, diesem schwindelerregenden Taumel Herr zu werden.
Bibliografie
BELIC, Barbara. 18. Mai 2011. « auch mit geschlossenen Augen finde ich dich nicht - Portrait des Autors Wolfgang Hermann ». Radio Helsinki.
DESHUSSES Pierre. 2. März 2017. « Prière pour le fils mort », in Le Monde des livres.
HACKL, Erich. 19. April 2008. « Zwischen Erwartung und Erfüllung » (Laudatio auf Wolfgang Hermann anlässlich der Verleihung des Förderpreises zum Österreichischen Staatspreis für Literatur 2007), in Der Standard, Album.
PICHLER, Georg. November 2012. « Die Arbeit der Trauer - Wolfgang Hermanns "Abschied ohne Ende", in Literatur und Kritik, n° 469/470.
Pour citer cette ressource :
Wolfgang Hermann, Roman Kaiser-Mühlecker, Wolfgang Hermann: Der weite Weg nach Frankreich, La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), octobre 2017. Consulté le 08/11/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/litterature/litterature-contemporaine/wolfgang-hermann-der-weite-weg-nach-frankreich