Das Wien des Fin de Siècle in Arthur Schnitzlers «Weg ins Freie»
I. Zeittypen und Vertreter der Wiener Gesellschaft
A. Eine Vielfalt an Figuren
Die beiden Hauptfiguren des Romans heißen Georg von Wergenthin und Anna Rosner. Ihre Liebesgeschichte und die Unfähigkeit von Georg von Wergenthin, eine Entscheidung zu treffen, sind Hauptmotive des Romans. Giuseppe Farese hat die Handlung kurz zusammengefasst:
Im Wien der Jahrhundertwende verliebt sich der Aristokrat und Musiker Georg von Wergenthin in ein Mädchen aus dem Kleinbürgertum, die angehende Sängerin Anna Rosner, und beginnt ein Verhältnis mit ihr. Am Ende wird Anna ein totes Kind zur Welt bringen, und Georg wird sie nicht heiraten. Er wird seinen Weg ins Freie wählen oder glauben, dass er ihn wählt. (S. 132)
Am Anfang wurde Schnitzler als unseriös betrachtet, als ein "Dichter des süßen Mädels aus der Vorstadt" (Erich Kaiser, S. 9). Der Roman Der Weg ins Freie zeichnet sich aber durch eine Vielfalt an Figuren aus, die Vertreter der zeitgenössischen Wiener Gesellschaft repräsentieren.
Die Porträts der Romangestalten sind dynamisch gestaltet. Auf der einen Seite verleihen die Familienkonstellationen den Figuren literarische Tiefe. Gleichzeitig ist die Darstellung der verschiedenen Generationen und der Vater-Sohn-Beziehungen ein Mittel, auf die vergehende Zeit hinzuweisen. Die Meinungsunterschiede zwischen Herrn Ehrenberg und seinem Sohn Oskar, dem alten Doktor Stauber und Berthold Stauber oder zwischen Herrn Rosner und Josef tragen dazu bei, die Grenze zwischen zwei Generationen und zwei Epochen zu zeigen.
In Der Weg ins Freie haben wir es vor allem mit den jüdischen und gebildeten Kreisen der Wiener Gesellschaft zu tun. Damit wird eine ganze Schicht der Wiener Gesellschaft dargestellt. Es ist bemerkenswert, dass Schnitzler jede Romangestalt mit einem Lebensprinzip und einer Weltanschauung verbindet.
B. Der sozialgeschichtliche Kontext
Selbst die Liebesgeschichte hängt von dem sozialgeschichtlichen Kontext ab. Da ein sozialer Unterschied zwischen den beiden Liebenden besteht, scheint diese Beziehung von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Die Romangestalten sind nämlich Zeittypen, sie sind auch Vertreter einer sozialen Schicht. Georg und sein Bruder Felician sind Vertreter der Aristokratie. Das soziale Prestige, die Zugehörigkeit zu einem Klub (Der Weg ins Freie, S. 63, S. 93), die Möglichkeit, nicht zu arbeiten und zu verreisen sind typische Merkmale der Aristokratie. Im Gegenteil dazu verkörpern die Golowskis den Verfall einer Familie (Der Weg ins Freie, S. 111). Diese Entwicklung ist mit der neuen Lage der jüdischen Bevölkerung in Wien zu verbinden.
Da sich die Handlung im Jahre 1898 abspielt, fliessen auch die Veränderungen der Wiener Gesellschaft und der Weltanschauungen um die Jahrhundertwende in das Romangeschehen ein. Zu dieser Zeit scheint die traditionelle liberale Weltanschauung überholt. Die wachsende Rolle der Presse und der Politik sind zwei Neuerungen, die die neue Generation und das Leben in Wien prägen. Eines der Merkmale des Romans ist auch die Gegenüberstellung von jüdischen und nicht-jüdischen Figuren. Da Georg von Wergenthin und Anna Rosner nicht-jüdische Figuren sind und doch jüdische Themen im Roman eindeutig angeschnitten werden, wurde Arthur Schnitzler oft vorgeworfen, zwei Romane geschrieben zu haben (siehe den Briefwechsel zwischen Arthur Schnitzler und Georg Brandes in Kurt Bergel 1956). Schon die Darstellung jüdischer Kreise und der Probleme des zunehmenden Antisemitismus ist ein Zeitzeugnis.
C. Die Form des Romans
Im Werbetext des Samuel Fischer Verlags für den Roman Der Weg ins Freie (16. November 1907) wurde er als ein "zeitgeschichtlicher Roman" bezeichnet. Der zeitgeschichtliche Roman ist eine Form des historischen Romans. Er soll das kulturelle, politische, gesellschaftliche und geistige Leben der Epoche des Schriftstellers darstellen. Der zeitgeschichtliche Roman ist also eine Art Zeitzeugnis. Daraus kann man schließen, dass Fiktion und Realität verflochten werden. Der Begriff des zeitgeschichtlichen Romans ist daher sowohl literarisch, als auch historisch zu verstehen. Darüber hinaus üben Fiktion und Wirklichkeit in diesem Werk und durch dieses Werk einen gegenseitigen Einfluss aufeinander aus. Auf der einen Seite soll die Fiktion das Reale widerspiegeln. Auf der anderen Seite gilt Schnitzlers Roman als ein Zeitzeugnis, so trägt es auch zur Geschichte bei.
Selbst wenn wir es in Der Weg ins Freie mit sozialen Typen zu tun haben, bricht dieser Roman mit der traditionellen Auffassung des Gesellschaftsromans. Zum Beispiel entspricht Demeter Stanzides dem Typus des Offiziers der kaiserlich-königlichen Armee, Felician dem Typus des Aristokraten oder Georg dem Typus des Ästheten. Trotzdem treten vor allem gebildete und zur hohen sozialen Schicht gehörige Figuren auf: Die niederen Schichten werden nicht geschildert. Stattdessen tritt eine Salongesellschaft auf.
Zur Zeit der Veröffentlichung konnten sich die Rezensenten über die Romanform nicht einig werden. Sie sprachen von "Zeitroman", "Gesellschaftsroman", "Judenroman" oder "Wiener Roman". Aus diesen Bezeichnungen geht hervor, dass Der Weg ins Freie ein Spiegelbild des Wiens des Fin de Siècle ist. Jedoch sollte der Leser die Fiktion von der Realität unterscheiden. In Schnitzlers Tagebuch wird aber eindeutig, dass er einen zeitgeschichtlichen Wiener Roman schreiben wollte: "Allerdings denk ich mir oft, wird er nicht der beste Wiener Roman - so sollte ich ihn lieber nicht schreiben" (Tagebuch, 25.02.1905).
II. Das Spiegelbild des Wiener Kulturlebens
A. Wien: eine Hauptfigur des Romans
In Der Weg ins Freie ist Wien nicht nur der Handlungsort und ein Orientierungspunkt: Wien ist auch eine der Hauptfiguren des Romans. Die Wiener Straßen, die öffentlichen Gebäude, die Kaffeehäuser, die Ringstraße oder der Prater erscheinen mehrmals im Roman. Die Ringstraße ist eine Metonymie für Wien, so wie Wien eine Art Metonymie für die Doppelmonarchie sein kann. Wien ist eine Stadt, die Moderne mit Tradition verbindet. Im Roman gibt es zahlreiche Anspielungen auf Kaffeehäuser, auf Galerien, auf Museen oder auf Theater. Das Wien des Fin de Siècle zeichnet sich nämlich durch eine blühende kulturelle Produktion aus, was auch in Der Weg ins Freie zum Ausdruck kommt. In dieser Hinsicht ist zu betonen, dass Schnitzler ein Vertreter der Wiener Moderne ist.
In Der Weg ins Freie ist Wien ein Mikrokosmos, in dem sich die Romangestalten treffen. Der Leser bekommt den Eindruck, dass Wien eine Figur ist, die sich bewegt, damit das Schauspiel stattfinden kann. Im Roman ist Wien gleichzeitig eine Romangestalt, ein Ort, ein Hinweis auf die Zeit (dank der Veränderungen der Stadt) und spiegelt ein besonderes Flair wider. Dadurch wird Wien allgegenwärtig. Es ist auffallend, dass auch Schnitzlers Liebe zu dieser Stadt den Roman prägt. Schnitzlers Selbstironie führt ihn dazu, das "Österreichische" und das "Wienerische" mit kritischem Abstand darzustellen.
Schnitzler zögert nicht, typische Züge und Widersprüche zu betonen. Das "Österreichische" entspricht nicht nur der sozialen oder politischen Lage des Vielvölkerstaats, sondern auch einem seelischen Zustand. Das "Österreichische" gilt als ein kontrastreiches und manchmal theatralisches Verhalten. Selbst Wien um die Jahrhundertwende zwischen Dekadenz und künstlerischer Produktion, Weltschmerz und Neuerungen ist eine Verkörperung dieser Kontraste. In dieser Hinsicht sind Kaffeehäuser nicht nur Treffpunkte, sondern auch eine Hochburg der österreichischen Kultur.
B. Das literarische Wien: die Kaffeehäuser
Die Kaffeehäuser sind ein Leitmotiv in Schnitzlers Roman. Dort trifft oft die Hauptfigur Georg von Wergenthin Bekannte, mit denen er über Kultur und künstlerische Produktion diskutiert. Arthur Schnitzler ist ein Vertreter der Wiener Moderne. Die Mitglieder der Gruppe Jung Wien trafen sich im Café Griensteidl, das zu einem Symbol dieser literarischen Bewegung wurde. Das Flair der Kaffeehäuser um die Jahrhundertwende spiegelt den Kontrast zwischen der Dekadenz und dem Willen, etwas Neues zu schaffen, wider. Keine oberflächliche Darstellung der Kaffeehäuser ist in Schnitzlers Weg ins Freie zu finden. Stattdessen ist Schnitzler ganz kritisch, wie das folgende Zitat zeigt:
An einem Fenster, das der Vorhang nicht verhüllte, sah [Georg] den Kritiker Rapp sitzen, einen Stoß Zeitungen vor sich auf dem Tisch. Eben hatte er den Zwicker von der Nase genommen, putzte ihn, und so sah das blasse, sonst so hämisch-kluge Gesicht, mit den stumpfen Augen wie tot aus. Ihm gegenüber, mit ins Leere gehenden Gesten, saß der Dichter Gleißner im Glanze seiner falschen Eleganz, mit einer ungeheuern schwarzen Krawatte, darin ein roter Stein funkelte. Als Georg, ohne ihre Stimmen zu hören, nur die Lippen der beiden sich bewegen und ihre Blicke hin- und hergehen sah, fasste er es kaum, wie sie es ertragen konnten, in dieser Wolke von Hass sich eine Viertelstunde lang gegenübersitzen. Er fühlte mit einem Mal, dass dies die Atmosphäre war, in der das Leben dieses ganzen Kreises sich abspielte, und durch die nur manchmal erlösende Blitze von Geist und von Selbsterkenntnis zuckten. (Der Weg ins Freie, S. 93)
Damit erlaubt uns Schnitzler einen Einblick in die Kaffeehäuser, das heißt in die Gesellschaft, in der er verkehrte. Deswegen ist es so schwer, Fiktion und Realität zu unterscheiden.
C. Die Salongesellschaft und die künstlerische Produktion
In dieser Hinsicht ist es kein Zufall, dass die Hauptfigur Georg von Wergenthin ein Musiker ist. In Der Weg ins Freie ist viel von Kunst, Musik und Literatur die Rede. Es ist augenfällig, dass Liebe mit Musik verbunden ist. Edmund Nürnberger und Heinrich Hauptmann sind zwei Schriftsteller, die im Roman auftauchen. In mancher Hinsicht können wir eine Parallele zwischen diesen Romangestalten und Schnitzler ziehen. Diese beiden Schriftsteller verkörpern zwei Auffassungen der literarischen und künstlerischen Produktion: Ihre Gegenüberstellung wirkt strukturierend.
Auf der einen Seite hat Edmund Nürnberger einen Roman geschrieben, der großes Aufsehen erregt hat, aber auch scharf kritisiert wurde. Zur Zeit der Handlung will Nürnberger nichts mehr veröffentlichen, da er eine starke Abneigung gegen die Gegenwart empfindet. Edmund Nürnbergers Krisenbewusstsein und Untätigkeit stehen im starken Kontrast mit Heinrich Bermanns Selbstanalyse und Streben nach künstlerischem Schaffen. Trotzdem versuchen Heinrich Bermann und Georg von Wergenthin zusammen eine Oper zu schreiben, ohne diese Absicht verwirklichen zu können.
Der Wille, etwas Neues zu schaffen, endet oft in einem Scheitern. Zum Beispiel ist von Georgs Quintett viel die Rede, ohne dass er es vollendet. Diese Hauptfigur scheint unfähig zu sein, ein Werk fertigzustellen oder eine Entscheidung zu treffen. Er sucht nach seinem "Weg ins Freie", ohne zu wissen, wie er seine Fähigkeiten entfalten kann. So kommt es dazu, dass man auch das besondere Flair dieser Epoche untersuchen muss.
III. Das Flair einer Epoche
A. Weltschmerz und Dekadenzgefühl
Der erste Hinweis auf den Weltschmerz sind die Generationskonflikte , die für die Wiener Moderne typisch waren. In Der Weg ins Freie sind die Väter entweder abwesend oder weltfremd, die Vatergeneration besteht vor allem aus Anhängern des Liberalismus. Um 1900 scheinen jedoch die liberalen Werte und ihre Vertreter nicht mehr für die moderne Welt geeignet zu sein. Obwohl das Habsburgerreich sich durch Stabilität und Sicherheit auszuzeichnen schien, haben die tiefen Veränderungen der österreichischen Gesellschaft unterschwellig eine neue Lage geschaffen.
Daraus entsteht ein Wertvakuum, das zu der Charakterschwäche der Söhne beiträgt. Der Mangel an Energie und die Leichtfertigkeit im Umgang mit der Wirklichkeit und der Gegenwart werden zu typischen Merkmalen der Generation der Dekadenzepoche. Also nehmen das Spiel, das Welttheater und Liebesthemen eine Vorrangstellung ein. Diese Passivität wird im folgenden Zitat offensichtlich: "Für unsere Zeit gibt es keine Lösung, das steht einmal fest. Keine allgemeine wenigstens" (Der Weg ins Freie, S. 42). Diese neue Generation besteht aus Willenskranken und Empfindsamen: Das Beispiel des jungen Labinski, der Selbstmord begeht, ist ein Zeichen dafür. Das Motiv des totgeborenen Kindes ist auch ein Hinweis darauf, dass allem Anschein nach nichts Konkretes entstehen kann.
Dieses Dekadenzgefühl wirkt sich unmittelbar auf die künstlerische Produktion aus. Es handelt sich um einen Verzicht auf das Vollendete: Die innerliche Krise wird zu einer künstlerischen. Genau dieses Gefühl, dass eine Epoche zu Ende ist, und dass die Dekadenz die neue Regel ist, führt zu einer neuen Art des Schaffens. Wir dürfen nicht vergessen, dass das Wien des Fin de Siècle besonders reich an Meisterwerken und Neuerungen in fast jedem kulturellem Bereich war. Selbst durch das Verfassen dieser besonderen Romanform bestreitet Schnitzler das Scheitern der künstlerischen Produktion und des Daseins schlechthin.
B. Debatten und drohende Gefahren in Wien und Österreich
Schnitzler entwirft nicht nur ein Spiegelbild der besonderen Stimmung im Wien um die Jahrhundertwende. Der Weg ins Freie ist ein Zeitzeugnis, auch insofern, als der Schriftsteller Anspielungen auf historische Ereignisse und Entwicklungen macht. Schnitzler behandelt zeitgeschichtliche Themen, die zu großen Debatten der Epoche geworden sind. In seinem Roman stellt Schnitzler das Individuum, die Gesellschaft und ihre Beziehungen zueinander dar. Privatsphäre und Öffentlichkeit werden gegenübergestellt.
Die Themen der "fröhlichen Apokalypse" (Hermann Broch, Hofmannsthal und seine Zeit: Eine Studie, zitiert nach: Gotthart Wunberg, S. 86) ziehen sich durch den Roman: Antisemitismus, Zionismus, Nationalismus oder Sozialismus entwickeln sich während dieser "Dekadenzepoche". In mancher Hinsicht ist Der Weg ins Freie ein Text, der das Problem des Antisemitismus und der neuen Lage der Juden im dem Wien der Jahrhundertwende behandelt. Im Werbetext des Samuel Fischer Verlags für Der Weg ins Freie wird betont, dass die neue Lage der Juden eine besondere Stelle im Roman einnimmt:
Allerlei Probleme der Zeit werden berührt, insbesondere den Schicksalen der modernen Juden, innerhalb der eigentümlichen Gruppierung der Wiener Gesellschaft, wird mehr noch nach der seelischen als der rein sozialen Seite nachgegangen.
Am Ende des 19. Jahrhunderts waren 9% der Wiener Bevölkerung jüdisch und viele gehörten zu der intellektuellen und sozialen Elite der Stadt (siehe Françoise Derré, 1966). Die Wiener Juden spielten eine wichtige Rolle im Bereich des Handels und des Bankgeschäfts. Der sich zu dieser Epoche entwickelnde Antisemitismus nahm große Ausmaße in Wien an und wurde sogar zum politischen Programm der Deutschnationalisten und Christsozialisten. Am Ende des 19. Jahrhunderts entstanden Debatten über den Platz der jüdischen Bevölkerung in der Gesellschaft, über den Antisemitismus und die Assimilation. Zur selben Epoche tauchte der Zionismus auf, dessen Wortführer der Österreicher Theodor Herzl war. Der Basler Zionistenkongress fand 1897 statt. Der Zionismus steht der Assimilation entgegen und verteidigt die jüdische Identität.
Der Umgang mit Judentum und Antisemitismus prägt auch Schnitzlers Autobiografie Jugend in Wien und sein Schauspiel Professor Bernhardi (1912). Die Gegenüberstellung von Figuren wie Josef Rosner (dessen Radfahrklub deutschnational oder christsozial orientiert ist), Heinrich Bermann (einem Vertreter der Theorie des "Heimatgefühls") und Leo Golowski (einem Anhänger des Zionismus) ist ein Mittel, die Anschauungen der Epoche zu schildern. Der Weg ins Freie soll aber keine Abhandlung sein: Es handelt sich eher um eine Darstellung der Debatten, die zu dieser Zeit in Wien und Österreich entstehen.
Die Politik spielt eine zunehmende Rolle in der Öffentlichkeit, was sich auch im Roman niederschlägt. Die neuen politischen Strömungen werden zwar dargestellt, aber Schnitzlers Misstrauen gegenüber der Politik ist eindeutig zu spüren. Selbst die Hauptvertreter des Sozialismus im Roman, Therese Golowski und Berthold Stauber, werden kaum ernst genommen. Schnitzler will aktuelle Probleme aufwerfen, ohne jedoch konkrete Lösungen vorzuschlagen.
C. Schnitzlers besondere Stellung in Wien
Bemerkenswert ist, dass das Dargestellte Hinweise auf Schnitzlers Stellung in Wien liefert. In Der Weg ins Freie verarbeitet Schnitzler viel Autobiografisches. Zum Beispiel ist das Motiv des totgeborenen Sohns ein tragisches Ereignis im Leben des Autors. Außerdem ist die Behandlung zeitgeschichtlicher Themen von großer Bedeutung für den Autor: Er selbst war Jude und wollte vor den Gefahren des Antisemitismus warnen.
Das Streben nach Wahrheit gilt nicht nur für Schnitzlers Autobiografie oder für seine Tagebücher. Obwohl es manchmal schwer ist, Schnitzlers Subjektivität von der historischen Wirklichkeit zu unterscheiden, gewährt uns Der Weg ins Freie einen Einblick in Schnitzlers Epoche. Der Schriftsteller zielt darauf ab, unparteiisch zu sein, wenngleich er gewisse Konzessionen machen musste, um ein Lebensjahr in Wien zu schildern. Es gibt einige Diskrepanzen zur Realität, aber Schnitzler wollte echte Gegenüberstellungen und Entwicklungen zeigen. In dieser Hinsicht können wir von einer "zwar subjektiv gefärbte[n], aber um Objektivität bemühte[n] Bestandsaufnahme" sprechen (Nikolaj Beier, S. 78).
Außerdem haben wir es mit Schnitzlers Selbstironie gegenüber seiner Epoche, seinen Zeitgenossen und den Widersprüchen, die zu dem "Österreichischen" gehören, zu tun. Gleichzeitig enthüllt sich in diesem Roman Schnitzlers Liebe zu Wien und Österreich. Schnitzler hat weder ein Plädoyer noch ein Geschichtsbuch geschrieben. Der Weg ins Freie ist ein zeitgeschichtlicher Roman, der zu einem Zeitzeugnis geworden ist. Als Vertreter der "fröhlichen Apokalypse" und der Moderne zeichnet sich Schnitzler durch den Umgang mit leichtfertigen und ernsten Themen aus.
Schluss
In DerWeg ins Freie entdeckt der Leser das besondere Flair des Wiens des Fin de Siècle. Obwohl es sich um einen Roman handelt, hat Schnitzler viel Reales und Autobiografisches verarbeitet. Zeittypen und zeitgeschichtliche Themen treten auf, woraus sich ein Spiegelbild der Wiener Gesellschaft um 1900 ergibt. Es gibt nur einen kleinen Zeitabstand zwischen der Handlungszeit und der Veröffentlichung des Romans: Schnitzler beschreibt also Kreise, mit denen er verkehrte, und schneidet Themen an, die ihn betrafen. Die Wiener Intellektuellen werden dargestellt, genauso wie die Kontraste zwischen Tradition und Moderne oder zwischen der Dekadenz und dem Willen, etwas Neues zu schaffen.
Bibliografie
Beier, Nikolaj: Vor allem bin ich ich - Judentum, Akkulturation und Antisemitismus in Arthur Schnitzlers Leben und Werk, Göttingen, Wallstein Verlag, 2008
Bergel, Kurt (Hg.): Georg Brandes und Arthur Schnitzler - Ein Briefwechsel, Bern, Francke Verlag,1956
Derré, Françoise: L'oeuvre d'Arthur Schnitzler, imagerie viennoise et problèmes humains, Paris, Didier, 1966
Farese, Giuseppe: Arthur Schnitzler - Ein Leben in Wien 1862-1931, aus dem Italienischen von Karin Krieger (1997), München, C. H. Beck Verlag, 1999
Kaiser, Erich: Arthur Schnitzler - Leutnant Gustl und andere Erzählungen, München, Oldenbourg Interpretationen, 1997
Schnitzler, Arthur: Der Weg ins Freie - Roman (1908), Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag,1990, 9. Auflage 2007, (Erste Buchauslage : S. Fischer Verlag, Berlin 1908)
Schnitzler, Arthur: Tagebuch 1903-1908, Wien, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 1991
Schnitzler, Arthur: Jugend in Wien - Eine Autobiographie, Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag, 2006 (1968)
Schnitzler, Arthur: Professor Bernhardi und andere Dramen, Das dramatische Werk 9. Band, Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag, 1988 (1962)
Schorske, Carl E.: Vienne fin de siècle: politique et culture, Paris, Seuil, 1983
Wunberg, Gotthart (Hg.), unter Mitarbeit von Braakenburg, Johannes J: Die Wiener Moderne - Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, Stuttgart, Reclam, Universal-Bibliothek Nr. 7742, 1981
Pour citer cette ressource :
Laure Gallouët, "Das Wien des Fin de Siècle in Arthur Schnitzlers «Weg ins Freie»", La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), octobre 2010. Consulté le 05/11/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/litterature/mouvements-et-genres-litteraires/tournant-du-xxe/das-wien-des-fin-de-siecle-in-arthur-schnitzlers-weg-ins-freie-