"Das Brot der frühen Jahre" von Heinrich Böll (1955): eine Erzählung der Symbole
I. Einleitung
Heinrich Böll, der 1917 in den Hungerjahren des Ersten Weltkriegs geboren ist, musste während des Zweiten Weltkriegs als Soldat kämpfen. Als der Krieg zu Ende war, widmete er sich wieder der Literatur und wurde Mitglied der Gruppe 47. In seinen Werken verarbeitet er oft die Gefühle und Eindrücke, die er während des Krieges gesammelt hatte. 1955 schreibt er Das Brot der frühen Jahre, dessen Handlung sich im selben Jahr abspielt.
Das Buch, welches in vier Kapitel untergliedert ist, wird aus der Perspektive des 23-jährigen Walter Fendrich erzählt.
Der erste Teil dient der Vorstellung des Ich-Erzählers, seiner Geschichte und seiner Charakterzüge. Seit dem Kriegsende, als er 13 oder 14 Jahre alt war, hat er sich in verschiedenen Lehrlingsstellen erfolglos versucht (Durzak 1971: 52) und hat schließlich eine Ausbildung zum Reparaturspezialisten für automatische Waschmaschinen gemacht. Er führt sozusagen ein „passables“ Leben im Deutschland des Wirtschaftswunders: Er übt einen Beruf aus, verfügt über ein Bankkonto und besitzt zudem ein Auto. In diesem ersten Kapitel wird Fendrich als Beispiel schlechthin für den modernen Durchschnittsmenschen vorgestellt (Durzak 1971: 52).
Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels steht die Begegnung Fendrichs mit Hedwig am 14. März 1955. Sie kommt aus seinem Heimatort in die Stadt um zu studieren, und Fendrich hat von seinem Vater die Aufgabe bekommen, ein Zimmer für sie zu besorgen. Beide haben sich eigentlich schon vor sieben Jahre kennengelernt.
Im dritten und vierten Teil werden die Folgen dieser Begegnung dargestellt: Fendrich trennt sich von Ulla, seiner Freundin, und gestaltet sein Leben mit Hedwig neu.
Wie bereits in der Zusammenfassung der Erzählhandlung angedeutet, bildet der Tag der Begegnung Fendrichs mit Hedwig den Kern der Erzählung: Er stellt einen Wendepunkt in Friedrichs Leben dar (Hummel 2000: 143). Auf den ersten Blick könnte behauptet werden, Das Brot der frühen Jahre sei eine Liebesgeschichte. Diese nimmt sicherlich einen Großteil der Erzählung ein, der vorliegende Beitrag geht jedoch der Frage nach, welches Bild Heinrich Böll von der Nachkriegszeit entwirft – sowie (auf indirekte Weise) auch von der Kriegszeit selbst – und inwieweit die Spuren, welche der Zweite Weltkrieg bei den Menschen hinterlassen hat, Erwähnung finden. Um diese Fragestellung zu beantworten, wird auf die Untersuchung zweier Symbole zurückgegriffen. Zum einen wird das Symbol „Brot“ erläutert, welches als wiederkehrendes Hauptmotiv innerhalb der Erzählung fungiert. Zum anderen wird die Funktion der verschiedenen Farben in groben Zügen angerissen. –
II. Das Brot
II.1. Das Brot als Symbol für die Not der Nachkriegszeit
In der Erzählung erwähnt Fendrich häufig seine Erinnerung an seine Jugend in Knochta auf dem Land, – der Ort, an dem er Hedwig kennengelernt hat –, an die vergangenen sieben Jahre in der Stadt, vor allem an die Lehrlingszeit, sowie an die Krankheit und an den Tod seiner Mutter. Im Mittelpunkt seiner Erinnerung steht aber vor allem ein Gefühl: der Hunger.
Der Ich-Erzähler erinnert sich oft an die Hungersnot, als er zusammen mit seinen Eltern um das tägliche Brot kämpfen musste und daraus resultierend ein ganz besonderes Verhältnis zum Brot entwickelt hatte: „ich ging zum Schwarzmarkt, kaufte mir ein ganzes Zwei- oder Dreipfundbrot, frisch aus der Bäckerei… und ich hatte für Augenblicke das Gefühl, ein lebendes Wesen in den Händen zu haben.“ (20)
Aus Hunger hat er damals gestohlen, um anschließend auf dem Schwarzmarkt sein Diebesgut für Brot einzutauschen (Hummel 2000: 141). Einmal hatte er sogar seinem Vater Bücher gestohlen, was dieser ihm aber verzieh. Ein weiteres Mal hatte er bei seinem Arbeitgeber Wickweber gestohlen; dieser war jedoch nicht so nachsichtig wie Fendrichs Vater. Aus diesen Erfahrungen entsteht die als sehr pessimistisch zu charakterisierende Weltanschauung Fendrichs. Da alles aus seiner Sicht, das heißt aus derjenigen eines ehemaligen Hungernden beschrieben wird, wird ein aggressiver und egoistischer Blick auf Fendrichs Um- und Mitwelt geworfen. Das Animalische in Fendrich, das Ausdruck seines Überlebensinstinkts war, hat sich selbst im Laufe der Jahre nicht ganz legen können.
Der Hunger lehrte mich die Preise; der Gedanke an frischgebackenes Brot machte mich ganz dumm im Kopf, und ich streifte oft abends stundenlang durch die Stadt und dachte nichts anderes als: Brot. Meine Augen brannten, meine Knie waren schwach, und ich spürte, dass etwas Wölfisches in mir war. Brot. Ich war brotsüchtig, wie man morphiumsüchtig ist. (16)
An seinen Gewohnheiten – zum Beispiel an der Tatsache, dass er immer mehr Brot kauft als er eigentlich braucht, wird deutlich, dass er auch in der Nachkriegszeit sich nicht von der Angst vor einer Hungersnot befreien kann.
Das Motiv „Brot“ verdeutlicht zwar zum einen die Not der Nachkriegszeit, aber es steht zum anderen auch für Fendrichs Suche nach moralischer Erneuerung (Durzak 1971: 51), was in einem nächsten Unterpunkt kurz erläutert wird.
II.2. Das Brot als "Rechnungseinheit"
Durch die Erfahrung der Liebe erlebt Fendrich eine Bewusstseinsänderung (Hummel 2000: 139) und löst sich langsam von seiner instinktiven Brotsucht.
Von der Begegnung ist er zunächst wie gelähmt, als hätte er seine Identität verloren: „inzwischen hatte ich vergessen, wer ich war, wie ich aussah und welchen Beruf ich hatte…“, „die Zeit aber seit Mittag, die Zeit Hedwigs Ankunft, war eine andere“. Schließlich aber bietet diese Begegnung Fendrich die Gelegenheit, über sein Leben zu reflektieren. Durch Hedwig erkennt Fendrich Gegebenheiten, die er vorher verdrängt hatte. Ihm wird zum Beispiel plötzlich klar, dass sein Beruf ihm eigentlich nicht gefällt und er ihn nicht aufblühen lässt (Hummel 2000: 143): Am Tag der Begegnung vernachlässigt er seine Kundschaft mehrfach, zerreißt seinen Auftragszettel, erkennt auch die betrügerischen und perversen Praktiken seines Chefs im Geschäft. Er befreit sich sozusagen von dem, was bis jetzt sein Leben geleitet hat, und wirft einen neuen Blick auf die Menschen, mit denen er zu tun hat (Durzak 1971: 53-54). Dabei trennt er sich auch von Ulla, seiner Geliebten und Tochter seines Chefs. In seinem letzten Gespräch mit ihr entwickelt er die Metapher des Brots der frühen Jahre als „Rechnungseinheit“: „Die Rechnungseinheit ist das Brot, das Brot dieser frühen Jahre, die in meiner Erinnerung wie unter einem tiefen Nebel liegen…“ (91). Fendrich assoziiert nämlich das Brot mit der Humanität oder, im Gegenteil, mit dem Egoismus der Menschen (Durzak 1971: 50). Anders gesagt bewertet er einen Menschen danach, wie dieser das Brot schätzt und ob er dazu bereit wäre, es jemandem zu schenken. Ulla gehöre zu denjenigen, die ihn mit seinem Hunger allein gelassen haben: „Ich glaube, wenn du mir damals auch nur einmal ein Brot gegeben hättest, würde es für mich unmöglich sein, hier zu sitzen und so mit dir zu sprechen“ (86). Dagegen scheint Hedwig die Bereitschaft zu verkörpern, ihr Brot mit anderen zu teilen.
Neben dem zentralen Motiv „Brot“ greift Heinrich Böll in seiner Erzählung auf andere wenige Symbole zurück, die dazu beitragen, die Weltvorstellung Fendrichs im Jahre 1955 besser nachvollziehen zu können, darunter die Farben.
III. Die Rolle der Farben
Auffällig ist die Tatsache, dass die Farben, besonders das Grün und das Rot, im Buch eine bestimmte Bedeutung haben.
Die rote Farbe ist im ersten Kapitel besonders regelmäßig zu finden. Sie ist stets mit einer negativen Erinnerung oder Vorstellung verbunden: Sie steht für die Schmerzen der Jugendjahre Fendrichs, für den Hunger, aber auch für den Hass (Stone 1974: 69).
Die grüne Farbe ist dagegen positiv konnotiert. Als Fendrich Hedwig am Bahnhof abholt, ist sie grün gekleidet. In der genaueren Beschreibung dieser Szene kommt diese Farbe sehr häufig vor – und zwar fünfundzwanzigmal (Hummel 2000: 142) – und sie zeigt, dass Hedwig einen Neuanfang in Fendrichs Leben darstellt: Sie steht als Symbol für „das Aufkeimen von Fendrichs Liebe“ (Hummel 2000: 142). Im Gegensatz dazu repräsentiert Ulla vielmehr die rote Farbe.
IV. Schluss
In seiner Erzählung „Das Brot der frühen Jahre“ greift Heinrich Böll auf nur wenige Bilder zurück. Aber um das zentrale Motiv des Brots entwickelt er eine Bildkonstellation. Indem Böll das Brot sowohl mit Fendrichs Vergangenheit in der Nachkriegszeit als auch mit der Erkenntnis des Unmoralischen in seiner Umwelt in Verbindung setzt, zeichnet er in dieser Erzählung die Bedingungen eines Übergangs zu einer neuen Menschlichkeit im Deutschland des Wirtschaftswunders. Mit diesem Buch wird deutlich, dass die Individuen sich nicht so schnell entwickelt haben wie die Wirtschaft und dass der ökonomische Wohlstand nicht bedeutet, dass die Bevölkerung den Zweiten Weltkrieg schon hinter sich gelassen hat: Die Gefühle, die alltäglichen Gewohnheiten, die Ängste, kurz die Weltanschauung der Individuen waren 1955 immer noch von der Erfahrung des Krieges geprägt. Am Beispiel Fendrichs sieht man, wie schwer es war, sich davon zu lösen.
V. Bibliographie
Böll, Heinrich (1959): Das Brot der frühen Jahre: Erzählung. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Durzak, Manfred (1971): Der deutsche Roman der Gegenwart. Stuttgart [u.a.]: Kohlhammer.
Hummel, Christine (2000): „Das Brot der frühen Jahre“, in: Bellmann, Werner (Hrsg.): Heinrich Böll, Romane und Erzählungen. Stuttgart: Reclam, S. 137-148.
Stone, Margaret (1974): Heinrich Böll, Das Brot der frühen Jahre: Interpretation. München: Oldenbourg.
Pour aller plus loin
Das Brot der frühen Jahre, Film von Herbert Vesely, 1962.
Pour citer cette ressource :
Anne Bernard, "Das Brot der frühen Jahre" von Heinrich Böll (1955): eine Erzählung der Symbole, La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), mars 2016. Consulté le 13/11/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/litterature/mouvements-et-genres-litteraires/nachkriegsliteratur/das-brot-der-fryhen-jahre-von-heinrich-boll-1955-eine-erzahlung-der-symbole