François Mitterrand und die Wiedervereinigung
Blickt man auf die Ereignisse im Herbst 1989 zurück, so herrscht immer noch das Bild vor, Frankreich habe unter der Führung von François Mitterrand die Wiedervereinigung Deutschlands wenn nicht verhindern, so doch zumindest verzögern wollen. Auch in der Forschung ist man sich über die Bewertung von Mitterrands Politik uneins. Man attestiert ihm "Attentismus" und "Passivität" (Giesbert, 1997) oder unterstellt ihm, auf ein sowjetisches Veto spekuliert zu haben (Lacouture, 1998). Ein positiveres Bild zeichnen Tilo Schabert (Schabert, 2002) und Frédéric Bozo (Bozo, 2005). Schabert, der für seine Arbeit Akten des Präsidenten auswerten durfte, geht ebenfalls von einer gespaltenen Haltung Mitterrands zu Deutschland in der Zeit der Wende aus, bescheinigt ihm aber, ein "konstruktives Konzept" verfolgt zu haben. Bozo dagegen räumt ein, dass die französische Diplomatie von den Umwälzungsprozessen in Osteuropa und der deutschen Wiedervereinigung überrumpelt worden sei, er betont gleichzeitig aber auch, dass Mitterrand sich diesen Prozessen nicht habe in den Weg stellen wollen, auch wenn er sich eine langsamere Entwicklung gewünscht habe.
François Mitterrand selbst versuchte dieses Bild am Ende seines Lebens gerade zu rücken, indem er in einem Teil seiner Memoiren, die den Namen De l'Allemagne. De la France tragen, sein Bild von Deutschland und seine Sicht auf die Wiedervereinigung darlegte. Auf Grundlage dieser Erinnerungen soll dargelegt werden, welche Rolle der französische Präsident bei der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten spielte. Dem gegenüber sollen die Memoiren Helmut Kohls sowie deutsche und britische Quelleneditionen zur Wiedervereinigung gestellt werden, um Mitterrands Haltung zur deutschen Einheit zu überprüfen.
Welches Bild von Deutschland hatte François Mitterrand? Inwieweit prägte ihn die Kriegsgefangenschaft in Deutschland? Wie wichtig war Mitterrands Verhältnis zu Bundeskanzler Helmut Kohl für seine Deutschlandpolitik? Welche Position nahm er vor dem Fall der Mauer angesichts einer möglichen Wiedervereinigung ein? Welche Politik verfolgte er nach dem Fall der Mauer? Wie lässt sich in diesem Zusammenhang die französische Europapolitik einordnen?
Um diese Fragen beantworten zu können, soll zunächst Mitterrands Deutschlandbild näher untersucht werden. Dabei steht vor allem seine Zeit als Kriegsgefangener im Vordergrund, aber auch sein Interesse für die deutsche Kultur und Literatur. Ein weiterer Abschnitt soll sich Mitterrands Haltung zu einer möglichen Wiedervereinigung vor dem Fall der Mauer widmen. Zum einen soll näher auf das Verhältnis zwischen Bundeskanzler Kohl und dem französischen Präsidenten eingegangen werden, zum anderen soll Mitterrands Deutschlandpolitik vor dem Mauerfall untersucht werden. Schließlich steht Mitterrands Politik nach dem Mauerfall und die Rolle Frankreichs bei dem Prozess der Wiedervereinigung im Zentrum der Analyse.
1. Mitterrand und Deutschland
1.1. Kriegsgefangenschaft in Deutschland
Als Schüler und junger Student kam François Mitterrand nur wenig mit Deutschland in Berührung. In der Schule stand Deutsch nicht auf dem Stundenplan, erst im Sommer 1937 kam es zu einer intensiveren Beschäftigung mit Deutschland, als er mit einer befreundeten Familie zu einer Reise nach Deutschland aufbrach, wo er Nürnberg und den Schwarzwald besuchte (Foro, 2003, 281/282).
Dennoch kann man davon ausgehen, dass das nationalsozialistische Deutschland auch während seines Studiums an der École libre des sciences politiques in Paris in Diskussionen immer wieder eine Rolle spielte und in sein Bewusstsein rückte. So kommentierte der Jura-Student Mitterrand den Anschluss Österreichs an das Reich im März 1938 in einem Artikel der Zeitschrift La Revue Montalembert mit den Worten: "Jusqu'ici et pas plus loin" (Foro, 2003, 282; Mitterrand, 1977, 3-6).
Zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs im September 1939 diente Mitterrand als Sergeant bei einem Infanterieregiment nahe der Maginot-Ligne, zunächst bei Bitche, dann zwischen Sedan und Montmédy. Nach einer Verwundung durch einen Granateneinschlag in der Nähe von Verdun wurde er am 14. Juni 1940 in das Krankenhaus von Bruyères gebracht. Am 18. Juni 1940 nahmen ihn dort die Deutschen gefangen (Foro, 2003, 279/280).
Er wurde zunächst in das Stalag II C nach Bad Sulza, 60 Kilometer von Kassel entfernt, gebracht. Anfang August wurde er in das Stalag im hessischen Ziegenhain verlegt, ein riesiges Lager für bis zu 30 000 Gefangene. Von dort aus ging es für ihn im Oktober 1940 weiter in ein Lager nach Schaala in Thüringen, von wo er am 5. März 1941 einen ersten Fluchtversuch unternahm. Er wurde aufgegriffen und musste einen Monat im Gefängnis in Spaichingen an der Donau verbringen, bevor er nach Ziegenhain zurückgebracht wurde. Am 28. November 1941 startete er einen erneuten Fluchtversuch. Er konnte sich bis nach Metz durchschlagen, wo er jedoch von einem Hotelbesitzer an die Deutschen verraten wurde. Den Rücktransport nach Deutschland vor Augen gelang es ihm schließlich, von Boulay/Moselle aus - diesmal erfolgreich - zu entkommen (Péan, 1994, 119ff.).
Insgesamt zeigte sich Mitterrand überrascht, wie die Deutschen ihm als französischen Kriegsgefangenen gegenübertraten. In seinen Mémoires interrompus schreibt er dazu:
Ce ne fut donc pas sans étonnement que je constatai, en pleine Seconde Guerre mondiale, que les sentiments antifrançais en Allemagne étaient plutôt de moindre intensité que les sentiments antiallemands des Français.» Gleichzeitig bemerkt er aber auch mit Fortschreiten des Krieges den unverhohlenen Rassismus der Nazis gegenüber jugoslawischen und sowjetischen Kriegsgefangenen (Mitterrand, 1996, 58/59, Foro, 2003, 287)
Einen besonderen Eindruck hinterließ gerade die erste Flucht aus dem Strafgefangenlager, die es ihm ermöglichte, Deutschland von innen her kennenzulernen. Den Eindrücken, die er während der Flucht sammelte, hat er im Dezember 1942 in dem Artikel "Pèlerinage en Thuringe" ein Denkmal gesetzt. In einer Art historisch-philosophischem Essay stellt er dort allgemeine Reflexionen zur Geschichte Deutschlands an: Anhand der Städte Gotha, Eisenach, Erfurt und Weimar stellt er die Geschichte Deutschlands dar und erklärt den deutsch-französischen Antagonismus, den er von deutscher Seite vor allem in dem erfolglosen Streben nach nationaler Einheit begründet sieht. Die vorgenannten Städte symbolisieren für ihn in diesem Zusammenhang unterschiedliche Stadien der deutschen Geschichte: Gotha steht für ihn symbolisch für den deutschen Partikularismus; Eisenach für die Reformation und gemeinsame Auflehnung der deutschen Fürsten gegen die römische Kirche; Erfurt, wo Napoleon die Fürsten des Rheinbundes empfing; zuletzt Weimar als Ort Goethes und Schillers, aber auch der Weimarer Republik (Mitterrand, 1977, 11-17).
Mitterrand berichtet aber auch immer wieder vom Alltag und von den Erfahrungen, die er auf seiner Flucht durch Deutschland sammelte. Neben der Gleichgültigkeit, mit der die Deutschen den französischen Kriegsgefangenen auf den Bahngleisen des Goslarer Bahnhofs begegneten, berichtete er auch von interessanten Begegnungen mit Einheimischen, so zum Beispiel mit einem Zimmermann, bei dem er im Rahmen seiner Gefangenschaft arbeiten musste, der eine Schwäche für Napoleon hatte und mit dem er eine Gemeinsamkeit teilte: Der Zimmermann war im Ersten Weltkrieg bei Verdun verwundet worden, Mitterrand im Zweiten (Mitterrand, 1977, 11-17).
Insgesamt zeichnet Mitterrand ein positives Bild von Deutschland und seinen Bewohnern. Schwer wog für ihn vor allem die Niederlage Frankreichs und die daraus resultierende nationale Demütigung. Wie viele Franzosen setzte Mitterrand seine Hoffnungen in das Vichy-Regime unter Marschall Pétain, das im unbesetzten Teil Frankreichs eine von den Deutschen geduldete Regierung gebildet hatte, und arbeitete ab Anfang 1942 sogar für die Verwaltung in Vichy, wo er ab Mitte 1942 mit der Résistance in Berührung kam. Es sollte aber bis Juni 1943 dauern, bis Mitterrand - unter dem Eindruck der deutschen Besatzung Gesamtfrankreichs seit November 1942 - endgültig in den Untergrund ging. Verfolgt von der Gestapo floh er im November 1943 nach London zu General de Gaulle (Bruck, 2003, 61, Mitterrand, 1996. 86ff.).
1.2. Mitterrands Deutschlandbild
François Mitterrand war ein ausgezeichneter Kenner Deutschlands. Auch wenn er - wie bereits dargelegt - nie Deutsch gelernt hatte, hatte er sich dennoch in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ein fundiertes Wissen zur deutschen Literatur und Kultur angeeignet. Zwar hatte die Erfahrung der deutschen Besatzung und des Nazi-Terrors im besetzten Frankreich ihn auf Distanz zu Deutschland gehen lassen und sein romantisches Bild von Deutschland getrübt, dennoch enthielten seine Schriften, die er in der Zeit der Résistance und später verfasst hatte, keinerlei anti-deutsche Ressentiments (Bruck 2003, 65/66; Sauzay, 1998, 9).
Ein besonderes Interesse hatte François Mitterrand an deutscher Literatur, wobei die Bandbreite groß war: Auf der einen Seite schätze er das Werk Heinrich Bölls, insbesondere Ansichten eines Clowns mit seiner Darstellung des rheinischen katholischen Deutschlands, aber auch Gruppenbild mit Dame, dessen ersten Satz er sogar wortwörtlich behalten hatte. Auf der anderen Seite begeisterte er sich aber auch für Ernst Jünger, der mit Erzählungen wie In Stahlgewittern, Tagebuchaufzeichnungen seiner Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg, bekannt geworden war und von vielen in der Bundesrepublik wegen seiner nationalistischen und konservativen Einstellung kritisiert wurde. Anlässlich der Begegnung Kohls und Mitterrands in Verdun 1984 lud Kohl auch Jünger ein, um ein Treffen zwischen den beiden zu ermöglichen (Kohl, 2005, 311, Sauzay, 1998, 10).
Er begeisterte sich aber auch für den eleganten Stil der Erzählungen Theodor Fontanes, den er auch deshalb bewunderte, weil er sich erst in späten Jahren dem Schreiben zugewandt hatte. Darüber hinaus zitierte er in seinen Memoiren weitere Autoren wie Bertolt Brecht und Hans Magnus Enzensberger (Sauzay, 1998, 9; Mitterrand, 1996, 27, 29).
Daneben war es aber auch das Preußen Friedrichs II., das ihn beeindruckte. Das Preußen des 18. Jahrhunderts, dessen Rechts- und Religionspolitik vom Geist der Aufklärung beseelt war und das für den Franzosen Mitterrand den Herd der Zivilisation und Kultur darstellte. Er bewunderte Friedrich II., dem es seiner Ansicht nach gelungen war, aus Preußen den ersten verfassungsmäßigen Staat der Welt zu machen, indem er die allgemeine Schulpflicht und die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz einführte. In seinen Memoiren De l'Allemagne, de la France nehmen seine Reflexionen zu Preußen einen breiten Raum ein. Für ihn ist Preußen nicht die Wiege des Militarismus oder der Reaktion, vielmehr verband er damit gewisse Werte, die z. B. in seinen Augen auch von Henning von Tresckow verkörpert wurden, der zu den Verschwörern des 20. Juli gehörte. Dieses Preußen hatte für ihn nichts mit Hitler und dem Nationalsozialismus gemein (Mitterrand, 1994, 19-26).
In seinen Memoiren kritisiert er die Zerschlagung Preußens durch die Alliierten und merkt an, dass die Alliierten die Bedeutung Preußens falsch eingeschätzt und Preußen mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt hätten. Der Fall der Mauer war für ihn auch eine Möglichkeit, Werte, die er Preußen zuschrieb, neu zu beleben. In einem Gespräch mit Manfred Stolpe, zu diesem Zeitpunkt hochrangiger Vertreter der evangelischen Kirche in der DDR und späterer Ministerpräsident von Brandenburg, während seines DDR-Besuchs im Dezember 1989 erklärte er:
[...] j'avais la conviction qu'avant la fin du siècle, la Prusse réapparaîtrait dans sa vraie dimension, l'un des plus riches réservoirs d'hommes et de moyens de l'Allemagne et de l'Europe. (Mitterrand, 1996, 125)
1.3. Das Verhältnis Kohl/Mitterrand
Bis Anfang der 80er Jahre war Helmut Kohl für die Mehrzahl der Franzosen und auch für den Sozialisten François Mitterrand, der seit 1981 als Staatspräsident im Elysée-Palast residierte, ein unbeschriebenes Blatt. Erst als sich die Zeichen verdichteten, dass es in Bonn zu einem Machtwechsel kommen könnte, begann sich das Elysée für den CDU-Politiker Helmut Kohl zu interessieren, dem eine zentrale Rolle in einer möglichen neuen Regierung zugetraut wurde (Miard-Delacroix, 1999, 547/548).
Zu einer ersten Begegnung zwischen Kohl und Mitterrand kam es am 4. Oktober 1982, als der frisch gewählte Bundeskanzler Paris zum Ziel seiner ersten Auslandsreise wählte. Helmut Kohl beschreibt dieses Zusammentreffen in seinen Memoiren als einen regen Gedankenaustausch dieser beiden aus so unterschiedlichen politischen Lagern stammenden Politiker. Er charakterisiert Mitterrand als einen offenen und unvoreingenommenen Politiker, der ihn in der Art und Weise seiner Amtsführung an seinen Vorgänger Charles de Gaulle erinnerte. Kohl zeigte sich tief beeindruckt von Mitterrands Kenntnissen über die deutsche Geschichte, aber auch die aktuelle politische Situation in der Bundesrepublik. In den folgenden Jahren sollte es immer wieder zu intensiven Gesprächen zwischen den beiden über die deutsch-französische Geschichte, Kultur und Literatur kommen (Kohl, 2005, 35/36).
In seinen Memoiren urteilt Mitterrand seinerseits über den Menschen Helmut Kohl:
J'étais sensible à son rude bon sens, à sa connaissance des ressorts humains, à sa faculté d'encaisser les coups, à sa forme d'intelligence, dont trop d'intellectuels méjugeaient l'acuité. (Mitterrand, 1996, 136)
Er bescheinigte ihm, im Verlauf der Jahre 1989/1990 auf exzellente Weise für die Interessen seines Volkes gekämpft zu haben, und beschreibt ihn als "prudent" und "fidèle à ses convictions", vor allem was die Europäische Einigung betrifft (Mitterrand, 1996, 135/136).
Hatte Kohl zunächst die Befürchtung, mit Mitterrand nicht an das deutsch-französische "Traumpaar" Giscard d'Estaing und Schmidt anknüpfen zu können, so zerschlugen sich diese Befürchtungen - nicht zuletzt dank des ersten, erfreulich verlaufenen Treffens 1982 - rasch, und man bekräftigte nach dem Gespräch den Willen, trotz unterschiedlicher politischer Anschauungen die deutsch-französische Zusammenarbeit fortzusetzen (Kohl, 2005, 35/36, 104).
Denkt man an die "Männerfreundschaft" zwischen François Mitterrand und Helmut Kohl, so hat man wahrscheinlich direkt das Bild der beiden Männer vor Augen, die sich im September 1984 vor dem Gebeinhaus von Douaumont auf den Schlachtfeldern von Verdun die Hand reichen. Dem vorausgegangen war eine Einladung Mitterrands an Kohl, an den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie teilzunehmen. Kohl schlug diese Einladung mit dem Hinweis auf die deutsche Schuld jedoch aus. Daraufhin sprach Mitterrand eine weitere Einladung, diesmal für September 1984 nach Verdun aus, die Kohl annahm (Pfeil, 2008, 503).
In strömendem Regen und klirrender Kälte nahmen die beiden Politiker am 22. September 1984 vor dem Gebeinhaus von Douaumont die militärischen Ehren ab und verharrten schließlich vor einem mit der deutschen und französischen Flagge geschmückten Katafalk, als François Mitterrand die Hand Helmut Kohls ergriff. Diese symbolische Geste war die spontane Idee Mitterrands gewesen. In seinen Memoiren zeigte sich Kohl davon tief bewegt und vergleicht die Symbolik mit dem Zusammentreffen von Adenauer und de Gaulle in der Kathedrale von Reims 1962 (Kohl, 2005, 310).
2. Mitterrand und der Mauerfall
2.1. Mitterrands Deutschlandpolitik bis zum Mauerfall
In seiner Funktion als Politiker der IV. und V. Republik hatte sich François Mitterrand nur wenig mit Deutschland beschäftigt, vielmehr konzentrierte sich sein Interesse auf die französische Innen- und Kolonialpolitik. Dem deutsch-französischen Bündnis maß er bis zu seinem Amtsantritt nur wenig Interesse bei, sah er die privilegierte Partnerschaft der beiden Staaten doch als ein Hemmnis für die Europäische Integration an. Einen Wendepunkt markierte in diesem Zusammenhang seine Rede anlässlich des 20. Jahrestages der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags 1983, in der er dem deutsch-französischen Tandem eine wichtige Rolle für die Europäische Integration zuwies (Kohl, 2005, 102-108).
Dass es eines Tages zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten kommen würde, stand für Mitterrand wie für viele andere französische Politiker und Entscheidungsträger außer Frage. Anders als in Deutschland hatten in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg ein Nationsbewusstsein und ein geopolitisches Denken überdauert, nach denen mittel- oder langfristig mit einer deutschen Wiedervereinigung gerechnet wurde. Schon 1982 erklärte Mitterrand bei einem Treffen mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt:
L'unité de l'Allemagne est inscrite dans l'Histoire. Il faudra que l'Empire soviétique soit affaibli, ce qui interviendra dans les quinze ans. (Mitterrand, 1996, 13)
Diese Haltung bekräftigte er immer wieder, so zum Beispiel auf einer Pressekonferenz am 27. Juli 1989 gegenüber Journalisten fünf großer europäischer Zeitungen:
L'aspiration des Allemands à l'unité me paraît légitime. Mais elle ne peut se réaliser que pacifiquement et démocratiquement. (Mitterrand, 1996, 190, Hudemann, 2009, 497)
Am 25. Oktober 1989 hielt Mitterrand eine Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg. Dabei sprach er auch über die Umwälzungen in Osteuropa. Für ihn waren die aktuellen Ereignisse historische Momente, die Europa verändern würden:
Nous avons vécu pendant près d'un demi-siècle dans le cadre d'un ordre qui se défait sous nos yeux. C'était l'Europe de Yalta, expression consacrée, même si elle n'est pas historiquement exacte, l'Europe coupée en deux ou en trois, l'Europe des blocs et des systèmes. Nous n'en avons pas fini avec elle, l'histoire n'est pas un fleuve tranquille. Mais passer d'un équilibre à l'autre comme cela se passe aujourd'hui suppose des transitions heurtées, des retours en arrière, des troubles et des crises. Y sommes-nous préparés ? N'avons-nous pas tendance à voir seulement s'ouvrir un horizon lumineux, sans penser que les affaires des hommes sur la terre ne se règlent pas de cette façon? Mais quel élan et quel espoir! Comme aux grandes heures de 1789, c'est le peuple dont la clameur se fait entendre, c'est la détermination du peuple qui commande à l'événement, qui fait s'écrouler les murs et les frontières, c'est le peuple qui trace le chemin par où passera ce siècle finissant, par où s'engageront les temps futurs. Voilà la grande nouvelle. De nouveau, les peuples bougent et quand ils bougent, ils décident. (discours Mitterrand, www.ena.lu)
Eine zentrale Rolle in diesem Umwälzungsprozess kam seiner Ansicht nach der Europäischen Gemeinschaft zu, die den betreffenden Ländern in Osteuropa beim Aufbau neuer staatlicher Strukturen helfen sollte.
Der französische Präsident hatte seit den achtziger Jahren an alte französische Bündnistraditionen angeknüpft und den Transformationsprozess in Osteuropa gestützt. Dieses Engagement bot ihm zum einen die Möglichkeit, den französischen Einfluss in Frankreich zu stärken, zum anderen sollte die Möglichkeit genutzt werden, die Grenzen Osteuropas endgültig festzulegen. Für ihn war es wichtig, dass diese Wandlungsprozesse geordnet und kontrolliert abliefen. Durch sein vehementes Eintreten für die osteuropäischen Staaten entwickelte sich in den folgenden Monaten vor allem die deutsch-polnische Grenzfrage zu einem Konflikt (Hudemann, 2009, 499).
Kurz vor dem Fall der Mauer trafen sich Kohl und Mitterrand am 2. und 3. November 1989 anlässlich der 54. deutsch-französischen Konsultationen in Bonn. Auch dieses Zusammentreffen stand im Zeichen der aktuellen Ereignissen in Osteuropa. Mitterrand drängte auf den Ausbau der europäischen Zusammenarbeit, über ein konkretes Konzept, wie man mit den Umwälzungen im Osten umzugehen habe, verfügte er aber nicht. Anders als die Deutschen war er auch nicht bereit, für Polen weitreichende finanzielle Hilfen in Aussicht zu stellen. In den Gesprächen mit Bundeskanzler Helmut Kohl knüpfte Mitterrand eine etwaige Wiedervereinigung an unterschiedliche Bedingungen: Zum einen war die Anerkennung der polnischen Westgrenze für den französischen Präsidenten eine feste Bedingung, daneben aber auch die Westbindung eines zukünftig wiedervereinigten Deutschlands, der Verzicht auf ABC-Waffen und die abschließende Regelung in einem Friedensvertrag. Weil aber eine Wiedervereinigung zum damaligen Zeitpunkt noch eine abstrakte Idee für die kommenden Jahrzehnte darstellte und auch von deutscher Seite keine Pläne oder ein Zeitplan für eine mögliche Wiedervereinigung bestanden, sah Mitterrand zu diesem Zeitpunkt keine Veranlassung, sich vor einer deutschen Wiedervereinigung zu fürchten (Lind, 1998, 164-167).
In einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Bundeskanzler Helmut Kohl bekannte er am 3. November 1989, er habe keine Angst vor einer möglichen Wiedervereinigung:
Diese Frage stelle ich mir nicht. Die Geschichte ist da; man muß sie nehmen, wie sie ist. Ich glaube, der Wunsch nach Wiedervereinigung ist legitim seitens der Deutschen. (Lind, 1998, 167, Küsters, 2002, 472)
2.2. Mitterrands Reaktion auf den Mauerfall
Auch in Paris hatte in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 niemand mit dem Fall der Berliner Mauer gerechnet. Präsident Mitterrand äußerte sich am folgenden Tag in Kopenhagen, wo er sich in seiner Funktion als EG-Ratspräsident aufhielt, zum ersten Mal offiziell und bezeichnete die Geschehnisse der vergangenen Nacht als "glücklich" ("événements heureux", Bozo, 2005, 130/131).
Da Helmut Kohl im Moment des Mauerfalls anlässlich eines Staatsbesuches in Polen weilte, kam es erst am 11. November zu einem Telefonat zwischen ihm und François Mitterrand. Der französische Präsident beglückwünschte das deutsche Volk und sprach von einem "großen Augenblick der Geschichte" und der "Stunde des Volkes". Von den Geschehnissen der letzten Nacht erwarte er auch neue Bewegung in der Entwicklung Europas. Abschließend versicherte Mitterrand Kohl seine Freundschaft (Kohl, 2005, 974/975).
Wenige Tage später kam es auch zu einem Telefonat zwischen Mitterrand und Michail Gorbatschow. Letzterer hatte sich bereits am 10. November in einem Telegramm an Mitterrand, George Bush und Margaret Thatcher gewandt, in dem er von einer "chaotischen Situation" und "unvorhersehbaren Konsequenzen" sprach und die Einberufung eines Treffens der Vertreter der Vier Mächte forderte. Die Siegermächte hatten nach dem Zweiten Weltkrieg die Regierungsgewalt über Deutschland an sich genommen, die in einem Friedensvertrag abschließend geregelt werden sollte. Durch den fortschreitenden Ost-West-Konflikt ließ ein solcher Friedensvertrag aber immer noch auf sich warten. In der Zwischenzeit hatten die Westmächte im 1955 ratifizierten Deutschlandvertrag der Bundesrepublik staatliche Souveränität übertragen, sich in Fragen, die Deutschland als Ganzes und Berlin betrafen jedoch bestimmte Vorbehaltsrechte gesichert. Auch in der DDR waren die Rechte der Vier-Mächte-Verantwortung de facto in der Verantwortung der Sowjetunion verblieben. Nach dem Fall der Mauer war man sich dieser Verantwortung sowohl in Moskau als auch bei den drei Westmächten bewusst (Bozo, 2005, 133, Rödder, 2009, 148).
Auf Gorbatschows Initiative hin schlug Mitterrand ihm seinerseits ein Treffen in einem Drittstaat, kurz nach dem amerikanisch-sowjetischen Treffen mit Präsident Bush am 2. Dezember 1989 in Malta vor, um über die Entwicklungen in der DDR zu beraten (Bozo, 2005, 133).
Derweil war die Frage, wie es mit den beiden deutschen Staaten weitergehen sollte, noch unklar. Am 28. November stellte Bundeskanzler Helmut Kohl in einer Haushaltsdebatte vor dem Bundestag einen Zehn-Punkte-Plan vor, in dem der Kanzler den politischen Willen der Bundesregierung zur einer Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten bekräftigte. Der Plan sah zum einen sofortige Hilfen für die DDR vor, zum anderen aber auch einen Stufenplan bis hin zur Bildung einer Konföderation der beiden deutschen Staaten unter der Maßgabe vor, dass in der DDR freie Wahlen durchgeführt werden würden. Den Begriff "Wiedervereinigung" verwendete er explizit nicht. Zwar hatte Kohl im Vorfeld versucht, US-Präsident Bush über seine Pläne zu unterrichten, ihn aufgrund des Zeitunterschieds jedoch nicht erreicht, die übrigen Alliierten und sein Koalitionspartner FDP informierte er jedoch nicht. Dementsprechend waren dann auch die Reaktionen: In ganz Europa regte sich Kritik an Kohls Informationspolitik, gleichzeitig wuchs aber auch die Angst vor einem wiedererstarkten Deutschland (Schabert, 2002, 416/417).
Besonders François Mitterrand fühlte sich durch Kohls Verhalten vor den Kopf gestoßen. Die Nichtinformation traf die französischen Partner auch deshalb so schwer, weil es sich dabei um einen Verstoß gegen den Elysée-Vertrag handelte, nach dem die jeweiligen Regierungen die Regierung des Nachbarlandes über wichtige politische Fragen im Vorfeld informieren müssen. Darüber hinaus vermisste der französische Präsident in Kohls Konzept Ausführungen zur internationalen Dimension einer deutschen Einigung, z. B. was den sicherheitspolitischen Rahmen oder die zukünftigen Grenzen Deutschlands, insbesondere die polnische Grenze, betraf (Schabert, 2002, 416/417, Lind, 1998, 170).
Offiziell äußerte Mitterrand, der Inhalt habe ihn in keine Weise schockiert, anlässlich eines Besuchs von Außenminister Hans-Dietrich Genscher in Paris zeigte er sich angesichts der aktuellen Entwicklung jedoch besorgt, Europa könne nach einer Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten in eine Konstellation wie 1913 zurückfallen, da sich die übrigen europäischen Staaten von dem wiedererstarkten Deutschland bedroht fühlen und nach einem Gegengewicht suchen könnten. In diesem Zusammenhang forderte Mitterrand ein deutliches Signal Deutschlands für die Fortsetzung des europäischen Einigungsprozesses (Genscher, 1995, 678-680).
Wie mit Gorbatschow abgesprochen machte sich Mitterrand am 6. Dezember 1989 zu einem Treffen nach Kiew auf. Der französische Präsident wollte mit dem Treffen ein zweites Jalta verhindern, d.h. dass die beiden Großmächte ohne Möglichkeit zur Intervention für Frankreich die wichtigen Entscheidungen treffen könnten. Andererseits wollte sich Mitterrand aber auch über die Haltung Moskaus zu den Geschehnissen in Deutschland informieren und einer möglichen Destabilisierung Gorbatschows entgegenwirken. Ein Sturz Gorbatschows hätte ein Ende der Perestroika und des Wandlungsprozesses in Osteuropa bedeutet, was auf jeden Fall verhindert werden sollte. Der Generalsekretär der KPdSU zeigte sich bei der Zusammenkunft, was die Entwicklung in Deutschland anging, sehr ungehalten und kritisierte gegenüber Mitterrand vehement Kohls Zehn-Punkte-Plan. Zwar zeigte sich auch Mitterrand verärgert über die Nichtinformation im Vorfeld der Präsentation des Plans, aber er erklärte gleichzeitig, dass es eine Wiedervereinigung geben werde, es müssten in diesem Zusammenhang jedoch "unüberlegte, unbedachte Handlungen" vermieden werden. Auch hier betonte er noch einmal, dass dieser Prozess demokratisch und friedlich verlaufen müsse und sowohl die Grenzen als auch das Gleichgewicht Europas respektieren sollte (Schabert, 2002, 434, Bozo, 2005, 158, Hudemann, 2009, 499).
Das Treffen in Kiew war keineswegs eine Initiative Mitterrands, um im Bündnis mit Gorbatschow eine deutsche Wiedervereinigung zu verhindern. Zwar zeigten sich beide Politiker besorgt über den tiefgreifenden Wandel in Deutschland, von einem gemeinsamen Vorgehen kann jedoch keine Rede sein, auch weil das Treffen ohne Ergebnis endete. Mitterrands Nein zur Wiedervereinigung hätte aber auch seiner bisherigen Haltung widersprochen. Darüber hinaus war es nicht sicher, ob Moskau bei seiner ablehnenden Haltung bleiben würde. Schließlich war Gorbatschows Position für den französischen Präsidenten nur ein Teil einer Politik, die in ihrer Dimension für ihn vor allem eine deutsch-französische bzw. westeuropäische Angelegenheit war (Bozo, 2005, 159/160).
Am 8. Dezember fand in Straßburg das Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der EG statt. Wenige Tage nach der Präsentation seines Zehn-Punkte-Plans schlug Kohl hier der Unmut und das Misstrauen seiner europäischen Kollegen, darunter auch Mitterrand, entgegen. Im Rahmen des Gipfeltreffens kam es anlässlich eines Arbeitsfrühstücks zu einer längeren Begegnung zwischen Kohl und Mitterrand, bei dem sich der deutsche Bundeskanzler und der französische Präsident über die aktuellen Entwicklungen informieren konnten. Beide stuften die Situation in Osteuropa als kritisch ein. Mitterrand unterrichtete Kohl über sein Zusammentreffen mit Gorbatschow und von seinem geplanten Besuch in der DDR Mitte Dezember (Küppers, 2000, 628-631).
Einen Tag zuvor war es schon zu einer Begegnung zwischen Mitterrand und der britischen Premierministerin Margaret Thatcher gekommen. In diesem Gespräch zeigte sich der französische Präsident zwar nicht ganz so harsch wie Thatcher, aber auch er sah unmittelbaren Handlungsbedarf, schließlich hätten die Vier Mächte bestimmte Rechte gegenüber Deutschland als Ganzes und Berlin, was in Bonn gern vergessen werde. Die Ausübung dieser Rechte war für Frankreich auch deshalb wichtig, weil man über die gemeinsame Verantwortung für Deutschland von den anderen Mächten als gleichberechtigter Partner behandelt werden musste. Mitterrand erklärte noch einmal deutlich, dass es zu einer Wiedervereinigung Deutschlands kommen werde, die Frage sei nur, welche Rolle die Alliierten dabei spielen wollten. Beide einigten sich auf die Verabschiedung einer gemeinsamen Abschlusserklärung, in der die Staats- und Regierungschefs einer deutschen Wiedervereinigung unter Wahrung der KSZE-Schlussakte aus dem Jahre 1975 zustimmen sollten: Der Einigungsprozess müsse im Rahmen des Selbstbestimmungsrechtes der Völker verlaufen, internationale Grenzen (also vor allem die deutsch-polnische Grenze) müssten geachtet werden, schließlich sollte eine Wiedervereinigung keine Verlangsamung des Tempos der europäischen Integration zur Folge haben (Salmon, 2010,164-166, Hudemann, 2009, 499).
2.3. Der Besuch in Ost-Berlin
Bereits seit 1988 plante François Mitterrand den Besuch mehrerer osteuropäischer Länder, darunter auch die DDR. Während der Besuch in Polen im Frühsommer 1989 stattfinden konnte, verzögerte sich die Visite in Ost-Berlin. Im Laufe des Oktobers 1989 intensivierten sich jedoch die Versuche auf Seiten der DDR, nun geführt von Egon Krenz, und der Franzosen, einen Termin für einen Besuch zu finden. Am 13. November, also vier Tage nach dem Mauerfall, traf die französische Botschafterin in Ost-Berlin, Joëlle Timsit, mit Oskar Fischer, dem Außenminister der DDR zusammen. Im Laufe des Treffens einigte man sich, dass der Besuch des französischen Präsidenten in der DDR vom 20. bis 22. Dezember stattfinden solle, was am 21. November in einem Kommuniqué des Elysée offiziell bekannt gegeben wurde.
Zugleich begann in der deutschen und französischen Presse auch schon die Debatte um Mitterrands Besuch. Verfolgte Mitterrand in dieser so unübersichtlichen politischen Lage eine bestimmte Strategie? Wie war die Visite in die französische Deutschlandpolitik einzuordnen? War der Besuch in dieser Situation überhaupt noch angebracht?
Auch auf dem Gipfeltreffen am 9. Dezember 1989 in Straßburg war der Besuch Mitterrands in Ost-Berlin ein Thema. Für die deutsche Seite war der Besuch des französischen Präsidenten in der DDR auch deshalb heikel, weil Bundeskanzler Kohl für Mitte Dezember selbst einen Besuch in der DDR plante und er nicht erst nach Mitterrand dort eintreffen wollte. In der Unterredung mit Helmut Kohl erklärte Mitterrand, es handele sich um eine Einladung, die bereits Erich Honecker ausgesprochen hatte und die Krenz nun erneuert hatte. Er habe keine Gründe, diese Einladung auszuschlagen. Kohl mahnte Mitterrand dagegen, vorsichtig zu sein und die Lage genau abzuschätzen. Der französische Präsident erwiderte, bis dahin sei es ja noch ein bisschen Zeit und falls sich die Dinge änderten, werde er seine Reisepläne überdenken (Schabert, 2002, 451/452).
Ganz so einfach, wie es Mitterrand gegenüber Kohl darstellte, war die Sache für das Elysée jedoch nicht: Caroline de Margerie, die vom Elysée mit der Vorbereitung der DDR-Reise betraut war, berichtete am 6. Dezember von ihren Eindrücken bei ihrer Vorbereitungsreise Anfang Dezember: Die Reise habe bei ihr ein "komisches irreelles Gefühl" ("curieuse impression d'irréalité") hinterlassen. Die Situation in der DDR beschreibt sie nach einem Treffen mit Vertretern der Oppositionsbewegung folgendermaßen:
Nul ne sait vers quel régime, vers quel État, va s'orienter la transition de plus en plus chaotique que connaît la RDA.
Mitterrand ließ sich dennoch nicht von seinen Reiseplänen abbringen und flog schließlich am 20. Dezember 1989 nach Ost-Berlin (Bozo, 2005, 164).
Dort traf er mit dem Vorsitzenden des DDR-Staatsrates Manfred Gerlach, aber auch mit Vertretern der Opposition zusammen. In Leipzig traf er neben dem Pastor der Nikolai-Kirche auch den politisch engagierten Dirigenten des Gewandhausorchesters Kurt Masur. Daneben war ein Treffen mit Studenten der Karl-Marx-Universität Leipzig arrangiert worden. In dem überfüllten Audimax legte Mitterrand, wie auch später bei einer Pressekonferenz vor Journalisten in Berlin, noch einmal seine Position zur Zukunft Deutschlands dar: Eine Wiedervereinigung war allein Entscheidung der Deutschen, angesichts der daraus zu erwartenden Konsequenzen sollten aber auch andere Staaten in diesen Prozess miteinbezogen werden. Dabei galten nach Mitterrand die Abhaltung freier Wahlen, die Unverletzlichkeit der Grenzen sowie die Fortsetzung der Europäischen Integration als Grundvoraussetzung für ein vereintes Deutschland und für ein friedliches Zusammenleben in Europa (Mitterrand, 1996, 109-134).
In seinen Memoiren berichtet Mitterrand, dass ihn Helmut Kohl auch eingeladen hatte, der Öffnung des Brandenburger Tor beizuwohnen, das am 23. Dezember 1989 nach 28 Jahren wieder freigegeben werden sollte. Mitterrand lehnte die Einladung jedoch nach eigenem Bekunden ab, da er die anderen Staatsführer nicht düpieren und die späteren Verhandlungen nicht gefährden wollte. Darüber hinaus war er der Ansicht, dass dieser Moment ganz allein den Deutschen gehören müsse (Mitterrand, 1996, 117).
Über die Intention von Mitterrands Reise lässt sich auch heute nur mutmaßen: Wollte Mitterrand damit die Präsenz Frankreichs in Osteuropa manifestieren oder wollte er sich einfach nur ein eigenes Bild über die Vorgänge in der DDR machen? Für die Bundesregierung war nicht klar, welche Rolle Mitterrand spielte: Sympathisierte er mit dem revolutionären Aufbegehren der DDR-Bürger oder versuchte er Frankreichs Rolle in der Weltpolitik zu unterstreichen? Caroline de Margerie, die den Besuch im Vorfeld organisiert hatte, vermutet, dass Mitterrand in die DDR gefahren ist, "to see for himself", um sich einen eigenen Eindruck von der Situation zu verschaffen. Mitterrand selbst konnte diese Aufregung um seine Reise nicht nachvollziehen, war er seiner Ansicht nach doch nur einer schon länger vorliegenden Einladung von Seiten der DDR-Regierung gefolgt und hatte sich doch vorher des Einverständnisses der bundesdeutschen Regierung zu seinem Besuch versichert (Lappenküper, 2008, 386/387, Schabert, 2002, 454/455).
Auch wenn Mitterrand wegen seiner Reise in die DDR kritisiert wurde, bleibt abschließend festzustellen, dass er nicht der einzige Politiker war, der in diesen Tagen die DDR besuchte. Schon am 12. Dezember 1989 hatte der amerikanische Außenminister James Baker Potsdam besucht, um dem Besuch Mitterrands zuvorzukommen und die Macht der USA zu demonstrieren (Schabert, 2002, 454/455).
3. Mitterrand und die Wiedervereinigung
3.1 Das Treffen von Kohl und Mitterrand in Latche
Nachdem die letzten Wochen des Jahres 1989 von Spannungen und Ängsten zwischen der bundesdeutschen und französischen Regierung geprägt waren, kam es am 4. Januar 1990 zu einem Treffen zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und François Mitterrand auf dem Landsitz Mitterrands im französischen Latche, wo der französische Präsident und sein Gast Gelegenheit zu intensiven Gesprächen hatten (Kohl, 2005, 1034).
Im Verlauf des Gesprächs versuchte der Bundeskanzler die Bedenken Mitterrands weitgehend zu zerstreuen: Zunächst erstattete er Mitterrand Bericht über die Situation in der DDR, den weiter anhaltenden Exodus vor allem von gut ausgebildeten DDR-Bürgern in die Bundesrepublik und die Zukunft der DDR-Regierung. Seit dem Fall der Mauer riss der Strom von Übersiedlern nicht ab, im Januar 1990 kamen täglich bis zu 2000 DDR-Bürger in die Bundesrepublik. Ihnen müsse eine Perspektive geboten werden und ein Signal für die Zukunft gegeben werden. Entscheidend für beide Politiker war dabei das Timing. Man stimmte darin überein, dass es sich um einen langfristigen Prozess handeln müsse, der sich über einige Jahre erstrecken würde, auch weil - wie Kohl ausführte - die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Ost und West weit auseinander lägen. In diesem Prozess müsse die deutsch-französische Freundschaft und die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft eine zentrale Rolle spielen. Der Ausbau der europäischen Zusammenarbeit sei auch für Länder wie Polen und Ungarn von hoher Bedeutung. "Der Weg der neunziger Jahre müsse ein deutsch-französischer Weg sein.". Sowohl Mitterrand als auch Kohl zeigen sich jedoch besorgt über die Situation in der Sowjetunion, die mit Versorgungsproblemen und der Unabhängigkeitsbewegung im Baltikum zu kämpfen hatte. Beide Politiker hielten es daher für unbedingt notwendig, Gorbatschow zu stabilisieren, um den Demokratisierungsprozess in Osteuropa nicht zu gefährden (Küsters, 1998, 682-690, Schabert, 2002, 456/457, Hudemann, 2009, 498, Miard-Delacroix, 2007).
Mitterrand bekräftigte noch einmal, dass die Wiedervereinigung Deutschlands kein Problem sei, sie sei eine Realität. Eine Lösung des Problems hing seiner Meinung nach vom deutschen Volk ab, niemandem stehe es zu, diesem hier hineinzureden. Dennoch müsse man mit Bedacht vorgehen, vor allem auch im Hinblick auf die Entwicklung in der Sowjetunion. Der französische Präsident war jedoch der Ansicht, dass die deutsche Presse vorsichtige Äußerungen von "Freunden Deutschlands" direkt als Freundschaftsbruch oder Verrat auslege.
Zum Abschluss der Visite machten Mitterrand und Kohl einen Spaziergang entlang der Atlantikküste, wo sie von Journalisten erwartet wurden. In einer kurzen Erklärung machte François Mitterrand deutlich, dass es die wichtigste Aufgabe sei, die Europäische Integration voranzutreiben. Langfristig gesehen müssten West- und Zentraleuropa miteinander verbunden werden. Die deutsche und europäische Frage könnten nur gemeinsam gelöst werden (Küsters, 1998, 682-690).
Für Mitterrand war das Treffen mit Helmut Kohl ein Erfolg: Der Bundeskanzler hatte nicht nur zugesichert, dass sich eine Wiedervereinigung nur unter dem Dach Europas vollziehen könne und auch eine intensivere europäische Zusammenarbeit, initiiert durch das deutsch-französische Tandem, signalisiert, sondern auch deutlich gemacht, dass die Wiedervereinigung nicht an der nächsten Ecke lauere, sondern ein langfristiger Prozess sei. Insgesamt markiert das Treffen in Latche einen Wendepunkt in den deutsch-französischen Beziehungen seit dem Fall der Mauer. Durch Kohls Zusicherung, an der Europäischen Integration festzuhalten, gelang es ihm Mitterrands Bedenken weitgehend zu zerstreuen und den Weg für die weitere Zusammenarbeit der beiden Länder, vor allem in der Europapolitik, zu ebnen (Schabert, 2002, 458).
3.2 Zwei Seiten einer Medaille - die deutsche Wiedervereinigung und die französische Europapolitik
Bereits vor dem Fall der Mauer, als weitreichende Umwälzungen in Osteuropa deutlich wurden, drängte Mitterrand auf einen Ausbau der europäischen Zusammenarbeit. Für ihn stand außer Frage, dass sich eine Wiedervereinigung Deutschlands nur im Rahmen einer intensiver zusammenarbeitenden Europäischen Gemeinschaft vollziehen könnte. Darüber hinaus war ihm im Hinblick auf die französische EG-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 1989 sehr daran gelegen, sichtbare Erfolge zu erzielen: So sollte nach seiner Vorstellung der für 1992 geplante gemeinsame europäische Binnenmarkt von einer europäischen Sozialcharta und der Gründung einer Wirtschafts- und Währungsunion flankiert werden. Mitterrand versprach sich davon vor allem eine Zügelung der wirtschaftlichen Vorreiterrolle der Bundesrepublik in Europa. Er stützte sich dabei auf den Plan, den der Präsident der EG-Kommission Jacques Delors mit einer Expertenkommission seit 1983 ausgearbeitet hatte und der am 17. April 1989 vorgestellt wurde (Küsters, 2001, 487/488, Bitsch 2004, 233).
Diese Pläne wurden jedoch vor allem von der britischen Regierung abgelehnt. Doch auch die Bundesrepublik hatte Vorbehalte, hätte dies doch den Abschied von der D-Mark, dem Symbol des Wiederaufbaus, des Wirtschaftswunders, kurz der westdeutschen Erfolgsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutet. In Bonn favorisierte man stattdessen eine intensivere politische Zusammenarbeit, inklusive einer Stärkung der Rechte für das Europäische Parlament (Küsters, 2001, 499, Bitsch, 1999, 108/109).
Der Fall der Berliner Mauer brachte neue Bewegung in die Europäische Integration. Am 18. November lud Mitterrand in seiner Funktion als EG-Ratspräsident zu einem Sondertreffen der EG-Staats- und Regierungschefs nach Paris ein, um über die aktuellen Geschehnisse in Osteuropa und besonders in der DDR zu sprechen. Wurde das Thema "Wiedervereinigung" während des Abendessens bewusst ausgelassen, so begann beim Nachtisch ein Schlagabtausch zwischen Kohl und Margaret Thatcher, die sich vehement gegen eine mögliche Wiedervereinigung aussprach. Als sich Mitterrand in dieser Situation nicht an seine Seite stellte, musste Kohl davon ausgehen, dass sich auch dessen anfänglich signalisierte Unterstützung in eine reservierte Haltung gewandelt hatte (Kohl, 2005, 983-985).
Im Vorfeld des Zusammentreffens des Europäischen Rates am 8. Dezember in Straßburg wollte François Mitterrand die Gelegenheit nutzen und bei der Bundesregierung erneut für die Einberufung einer Regierungskonferenz zum Thema Wirtschafts- und Währungsunion werben. In einem Briefwechsel machte Bundeskanzler Kohl jedoch deutlich, dass er Mitterrands Plänen nur unter bestimmten Bedingungen zustimmen könne; so forderte er z.B. die Schaffung einer Europäischen Zentralbank, die unabhängig von den europäischen Regierungen agieren sollte, und den Ausbau der politischen Zusammenarbeit in Europa. Kohl lenkte schließlich ein und stimmte der Einberufung einer Regierungskonferenz zur Wirtschafts- und Währungsunion bis Ende 1990 zu. Auch ihm war die Europäische Einigung ein Anliegen, auch für ihn spielte Europa im Einigungsprozess eine wichtige Rolle, waren es für ihn doch zwei Seiten der selben Medaille (Küsters, 2001, 495/496, Bitsch, 1999, 111).
Nachdem sich Kohl und Mitterrand bei ihrem Treffen in Latche gegenseitig ihr Vertrauen versichert hatten und Kohl erklärt hatte, dass auch ein wiedervereinigtes Deutschland Teil der Europäischen Gemeinschaft bleiben würde, ging es darum, der Europäischen Integration neue Fahrt zu verleihen. Kohl stimmte schließlich den französischen Plänen zu und erklärte sich mit der Einführung einer gemeinsamen europäischen Währung einverstanden, auch der Ausarbeitung eines konkreten Zeitplanes stimmte er zu. Nach den ersten freien Wahlen in der DDR am 19. März 1990 mit ihrem klaren Bekenntnis zur Wiedervereinigung erarbeiteten Kohl und Mitterrand eine gemeinsame Strategie, um ihre Ziele einer Wirtschafts- und Währungsunion sowie einer politischen Union zu verwirklichen (Küsters, 2001, 504).
In einer gemeinsamen Erklärung regten Kohl und Mitterrand am 19. April 1990 an, auf dem nächsten Gipfeltreffen in Dublin die Gründung einer Europäischen Union zu beschließen. Die Stellung der Institutionen sollte gestärkt, das Handeln der Gemeinschaft in wirtschaftlichen, währungspolitischen und politischen Fragen vereinheitlicht und schließlich auch eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik definiert werden. Die Wirtschafts- und Währungsunion sollte parallel zu einer politischen Union auf den Weg gebracht werden, beide Projekte sollten gemeinsam mit dem europäischen Binnenmarkt am 1. Januar 1993 eingeführt werden (Bitsch, 2004, 246).
Im Laufe der Verhandlungen wurde jedoch deutlich, dass das von den Deutschen angestrebte Ziel einer umfassenderen politischen Zusammenarbeit nicht erreicht werden konnte. Im Bereich der Wirtschafts- und Währungsunion ließ sich nach einigen Konzessionen für die Deutschen jedoch eine Einigung erzielen: So setzte Bonn die Unabhängigkeit der zukünftigen europäischen Zentralbank und den nationalen Zentralbanken, aber auch die Erfüllung strenger Konvergenzkriterien vor Einführung des Euro, durch. Am 7. Februar 1992 wurde in Maastricht der "Vertrag über die Europäische Union" unterzeichnet, der am 1. November 1993 in Kraft trat und der die Transformation der Europäischen Gemeinschaft in die Europäische Union vollzog. Am 1. Januar 2002 wurde mit der Einführung des Euro die letzte Stufe der Wirtschafts- und Währungsreform erreicht (Bitsch, 1999, 118-120).
3.3 Frankreich in den 2+4 Gesprächen
Die Frage, wie es mit den beiden deutschen Staaten weitergehen sollte, war derweil Ende 1989 noch nicht gelöst: Bundeskanzler Kohl vermied es, offiziell von einer Wiedervereinigung zu sprechen, auch in seinem berühmten Zehn-Punkte-Plan war nur von einer Konföderation die Rede. Die Alliierten, vor allem Franzosen, Briten und Sowjets zeigten sich besorgt über die Dynamik, die sich seit dem Fall der Mauer in Deutschland entfaltet hatte.
Spätestens seit dem Jahreswechsel 1989/1990 begann man sich in den Hauptstädten konkrete Gedanken über eine vertragliche Lösung der deutschen Frage zu machen, stand doch die endgültige Regelung dieser Frage in Form eines Friedensvertrages seit Ende des Zweiten Weltkrieges noch aus. Man einigte sich schließlich auf Verhandlungen der vier Siegermächte mit den beiden deutschen Staaten. Diese sollten in vier Etappen in Bonn, Berlin, Paris und Moskau stattfinden (Ménudier, 1996, 485).
Am 10. Februar 1990 machte Michail Gorbatschow während eines Treffens mit Bundeskanzler Helmut Kohl in Moskau die Zusage, einer Wiedervereinigung nicht mehr im Wege zu stehen. Gleich darauf begann auch schon die Diskussion, wie ein wiedervereinigtes Deutschland auszusehen habe. Für den Westen, auch für die Bundesrepublik und Frankreich, stand außer Frage, dass ein gesamtdeutscher Staat dem westlichen Verteidigungsbündnis der NATO angehören sollte, was Moskau jedoch strikt ablehnte. Die Frage nach der Bündniszugehörigkeit blockierte dann auch einige Zeit die Verhandlungen der Vier Mächte und der zwei deutschen Staaten, bis Gorbatschow schließlich Mitte Juli 1990 der Zugehörigkeit des wiedervereinigten Deutschlands zur NATO zustimmte (Schabert, 2002, 484/485, Lind, 1998, 172/173).
Ein wichtiger Verhandlungspunkt für Frankreich im Rahmen der 2+4-Verhandlungen war die endgültige Regelung der polnischen Westgrenze. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges stand die völkerrechtliche Regelung der Grenzfrage in einem Friedensvertrag aus, auch wenn die Bundesrepublik Deutschland 1970 im Warschauer Vertrag die bestehende Grenzlinie als westliche Staatsgrenze Polens anerkannt hatte. Die polnische Regierung, an deren Spitze seit Sommer 1989 mit Tadeusz Mazowieki ein nicht-kommunistischer Premierminister stand, wollte im Zuge der rasanten Entwicklung in Deutschland eine völkerrechtliche Vereinbarung noch vor der Wiedervereinigung treffen. Zwar hatte Helmut Kohl schon beim Treffen in Latche erklärt, keinerlei Ansprüche auf polnisches Gebiet zu stellen, aber auch Mitterrand forderte von Kohl, noch vor dem Vollzug der Wiedervereinigung einen Vertrag mit Polen zur endgültigen Grenzregelung abzuschließen. Der Bundeskanzler lehnte dies ab und verwies auf die Tatsache, dass diese Frage erst nach Erlangung der völligen Souveränität Deutschlands gelöst werden könne. Mitterrand fürchtete, dass die deutschen Vertriebenenverbände Ansprüche auf die Gebiete im heutigen Polen erheben und eine Rückkehr zu den Grenzen von 1937 fordern könnten. Er wollte daher auf jeden Fall noch vor der Wiedervereinigung eine endgültige vertragliche Regelung zwischen der Bundesrepublik und Polen erreichen. Eine Absichtserklärung des Bundestages, wie Kohl sie als Übergangslösung vorschlug, reichte ihm nicht (Küsters, 2000, 855/856, Ménudier, 1996,485/486, Rödder, 2009, 236).
Nach einem Treffen mit dem polnischen General Jaruzelski und Premierminister Mazowiecki im März 1990 forderte Mitterrand noch einmal, vor der Wiedervereinigung einen deutsch-polnischen Grenzvertrag abzuschließen. Er erreichte schließlich, dass ein polnischer Vertreter an den 2+4-Gesprächen in Paris teilnehmen konnte. Neben konkreten Verfügungen im 2+4 Vertrag kam es am 14. November 1990 zur Unterzeichnung eines deutsch-polnischen Vertrages, in dem das wiedervereinigte Deutschland endgültig die Oder-Neiße-Grenze anerkannte (Ménudier, 1996, 485/486).
Am 12. September 1990 konnte schließlich in Moskau der 2+4-Vertrag von den Außenministern der vier Siegermächte und denen der beiden deutschen Staaten unterzeichnet werden. Am 3. Oktober trat die DDR nach Art. 23 GG der Bundesrepublik bei. Deutschland war wiedervereinigt.
Fazit
Mitterrand war zeitlebens ein Freund deutscher Kultur und Literatur gewesen, auch seine Kriegsgefangenschaft in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs hatte daran nichts geändert. Für ihn war schon Anfang der 80er Jahre klar, dass es eines Tages zu einer Wiedervereinigung Deutschlands kommen würde. Er erachtete das Streben der Deutschen zwar als legitim, doch die Frage, wie der Prozess der Wiedervereinigung ablaufen würde, blieb für ihn bis November 1989 ein Abstraktum, ein Prozess, der sich nach seiner Vorstellung über mindestens ein Jahrzehnt erstrecken würde. Die Ereignisse am 9. November 1989 und die daraus resultierende Dynamik überraschten den französischen Präsidenten und verunsicherten ihn.
Ohne über konkrete Pläne angesichts einer Wiedervereinigung zu verfügen, war für Mitterrand jedoch schon vor dem Mauerfall klar, dass sich diese nur mit einem an den Westen gebunden, in eine starke Europäische Gemeinschaft integriertes Deutschland ermöglichen ließ. Oberstes Ziel Mitterrands musste es daher sein, wenn er den Prozess der Wiedervereinigung schon nicht verlangsamen konnte, so doch wenigstens die Intensivierung der Zusammenarbeit auf europäischer Ebene zu verstärken.
Dabei waren für den französischen Präsidenten folgende Punkte unverrückbar: Neben der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze sollte Deutschland seinen Verzicht auf die Nutzung von ABC-Waffen erklären. Das wiedervereinigte Deutschland sollte Mitglied der NATO sein und es sollte sein Engagement beim Ausbau der Europäischen Gemeinschaft weiter vertiefen.
War Mitterrand in den ersten Wochen nach dem Fall der Mauer stark verunsichert, was die Zukunft Deutschlands anging, so änderte sich seine Einstellung dazu mit dem Besuch Helmut Kohls in Latche, bei dem letzterer noch einmal bekräftigte, die Deutsche Einheit nur in Anbindung an den Westen und parallel zum Ausbau der Europäischen Gemeinschaft zu vollziehen. Durch das Einbinden der Wiedervereinigung in die Europäische Integration trug Mitterrand maßgeblich zur Etablierung der Wirtschafts- und Währungsunion bei und veränderte die Gestalt Europas. Das Bild, dass Mitterrand die Wiedervereinigung um jeden Preis verhindern wollte, kann somit nicht mehr aufrechterhalten werden.
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Pour citer cette ressource :
Natalie Pohl, "François Mitterrand und die Wiedervereinigung", La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), juin 2010. Consulté le 06/10/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/civilisation/histoire/la-reunification/francois-mitterrand-und-die-wiedervereinigung