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Narrative Identität in dem Hörspiel «Die Panne» von Friedrich Dürrenmatt

Par Matthias Leimbach : Lektor - ENS de Lyon
Publié par mduran02 le 10/03/2014

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Dans ((Die Panne)) (1956), Friedrich Dürrenmatt aborde la question de la justice (((Gerechtigkeit))) et de la culpabilité qui traverse toute son œuvre. Une nuit, suite à une panne de voiture, Alfredo Traps trouve l’hospitalité chez un juge retraité. À la demande des amis présents, Traps participe à la mise en scène de son propre procès et finit même par en accepter le verdict, la condamnation à mort. Comment expliquer l’attitude de Traps face à un jugement qui est parfaitement injuste ? Comment en vient-il à endosser une culpabilité qu’il niait au début du procès ? Mathias Leimbach propose une explication qui met en avant l’image que le personnage se construit de lui-même et la façon dont cette image fait l’objet d’une négociation permanente à travers le discours de chacun des protagonistes. Le récit de soi et sa version reformulée par le tribunal montrent le pouvoir manipulateur des mots.

In der Panne steht das Gerichtsspiel der Alten im Vordergrund. Zu diesem gesellt sich das Spiel mit den Identitätsentwürfen, welches die Anwälte als eine Art mise en abyme betreiben und somit metatextuell auf Dürrenmatts Konzept der möglichen Erzählungen referieren. Dürrenmatt deckt die Macht der Erzählung auf. Die verschiedenen Erzählungen haben eine wichtige Bedeutung für Dürrenmatts Frage nach Schuld, denn sie zeigen, dass es in der modernen Welt keine eindeutigen Antworten mehr gibt. Die Bewertung von Schuld hat ihre objektiven Kriterien verloren. Um dies zu konkretisieren: Objektivität ist nicht mehr möglich, weil sie immer von einer Darstellung, einer Erzählung abhängig ist. Dürrenmatt zeigt auf, dass es immer verschiedene Versionen einer Wahrheit gibt. Somit ist die Erzählung an sich unbedeutend, da austauschbar.

 

1. Einleitung

In dem folgenden Aufsatz soll es um eine Analyse der Kurzgeschichte Die Panne von dem Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt gehen. Die Geschichte trägt den Untertitel Eine noch mögliche Geschichte und wurde 1956 veröffentlicht.

In seiner Erzählung greift Dürrenmatt ein für ihn typisches Thema auf, nämlich das der Gerechtigkeit. Eng verknüpft wird dieses mit der Frage nach Schuld. Was ist Schuld, wie kann man sie messen und wie übernimmt man die Verantwortung für seine Taten. Dass es sich hierbei um das zentrale Thema in Dürrenmatts Werk handelt, offenbart sich bei der Lektüre seiner anderen Werke.

Beispiele dafür sind seine Kriminalromane, Der Richter und sein Henker und dessen Nachfolgeromane Der Verdacht und Das Versprechen sowie diverse Theaterstücke – Der Besuch der alten Dame und Romulus der Große sind hier als populärste Beispiele zu nennen. Die Frage nach Gerechtigkeit und Schuld ist nicht nur das zentrale Thema Dürrenmatts, es dominiert auch die Sekundärliteratur. Es existieren zahlreiche Analysen, die sich umfassend damit beschäftigen. Dabei wird durch Figuren wie Kommissar Bärlach und seinem Assistenten Tschanz ins Visier genommen und somit ein konkreter, von Dürrenmatt in seinen theoretischen Schriften selbst hergestellter Bezug zur Wirklichkeit geschaffen. Dürrenmatt hat sich häufig in diesen Schriften zu seinen Werken geäußert und auch in der Panne hat er eine Einleitung geschrieben, die sich vor allem mit dem ebenso kommentierenden Untertitel Eine noch mögliche Geschichte beschäftigt. Dieser erste Teil wurde in der Sekundärliteratur mannigfaltig bearbeitet und soll in dieser Analyse nicht beachtet werden. Erstens würde es den Rahmen des Artikels sprengen, zweitens ist er für die hier vorgenommene Analyse nicht von absoluter Bedeutung.

In diesem Artikel soll eine narratologische Analyse der Geschichte erfolgen. Wie der Titel bereits verrät, geht es um die narrative Konstruktion von Identität. Es wird daher zuerst zu klären sein, was Identität ist, wie sie narrativ konstruiert wird, inwiefern diese narrative Identitätskonstruktion zu einem besseren Textverständnis verhelfen kann und wie sie sich auf das Verhalten der Figuren des Textes auswirkt. Es wird daher eine Analyse der Personen und der Gesprächssituation, in der sie sich befinden, erstellt. Die Begriffe der Selbsterzählung und der Fremderzählung werden erklärt und durch diese wird aufgezeigt werden, dass Figuren narrativ, also durch eine bestimmte Erzählweise, auf das Leben anderer Figuren Einfluss nehmen können. Dies kann in verschiedenen Abstufungen geschehen, von einer Manipulation bis hin zur völligen Übernahme des Lebensentwurfs des Anderen.

Alfredo Traps, der Protagonist der Panne, sieht sich im Laufe des erzählten Abends mit verschiedenen Fremderzählungen konfrontiert. Seine Reaktion auf diese wird genauer betrachtet und narrative Machtverhältnisse werden aufgezeigt werden. Dadurch werden der Nutzen und die Möglichkeiten von Selbstnarration aufgezeigt, ebenso wie mögliche Gefährdungen ebendieser durch Fremdnarrationen. Die Panne bietet hier ein komplexes Spektrum narrativer Finessen, die die Beziehungen zwischen den Personen charakterisieren.

Das Interessante an der Panne ist also, dass die Frage nach Gerechtigkeit doppelt behandelt wird. Zum einen am Beispiel des Alfredo Traps, dessen Geschichte erzählt und auf verschiedene Weise hinterfragt und gedeutet wird. Zum anderen wird die Frage nach Gerechtigkeit auf die narrative Ebene verlagert. Die Frage nach Schuld wird der eigentlichen Tat entrückt, sie wird ästhetisiert, also zu Kunst.

Zudem kann nicht nur danach gefragt werden, ob Traps als Mörder schuldig ist, sondern auch ob sich die Beteiligten des Justizspiels schuldig machen. Dies wird vor allem durch die Tatsache interessant, dass es für die Erzählung drei verschiedene Enden gibt. Der Untertitel Eine noch mögliche Geschichte rückt hier ins Blickfeld, denn wo eine Geschichte möglich ist, da sind es auch andere.

2. Inhaltsangabe

Der Handelsvertreter Alfredo Traps bleibt während der Heimreise mit seinem Studebaker in einem kleinen, namentlich nicht benannten Ort, liegen. Da die Reparatur seines Wagens bis zum Folgetag dauert, sucht er eine Übernachtungsmöglichkeit. Das gesamte Dorf ist aufgrund einer Tagung des Kleinviehzüchterverbands ausgebucht, doch er findet in der Villa eines pensionierten Richters eine Unterkunft. Dort verbringt er den Abend mit seinem Gastgeber und dessen Freunden. Wie sich herausstellt, handelt sich bei jenen ebenfalls um pensionierte Juristen – ein Richter, ein Staatsanwalt, ein Verteidiger und ein Henker.

Die vier alten Herren erzählen Traps, dass sie in ihrer Freizeit ihren alten Berufen nachgehen und berühmte Prozesse nachspielen. Wenn sich die Möglichkeit ergibt, spielen sie aber auch gerne mit Privatpersonen wie Traps. Um nicht unhöflich zu erscheinen und dem Abend vielleicht sogar etwas Gutes abgewinnen zu können, sagt Traps zu und übernimmt die Rolle des Angeklagten.

Da er sich jedoch keiner Schuld bewusst ist, die er gestehen könnte, will der Staatsanwalt sein Verbrechen suchen, schließlich sei jeder schuldig. Traps beginnt, aus seinem Leben zu plaudern. Er erzählt von seiner Kindheit, die von Armut und Durchschnittlichkeit geprägt war. Er konnte keine gute Schule besuchen und seine Eltern waren beruflich beide nicht erfolgreich. Er erzählt dann voller Stolz davon, wie er sich selbst hochgearbeitet hat. Als von Tür zu Tür wandernder Vertreter beginnend, irgendwann mit einem alten Citroen die Straßen befahrend, hat er es letztendlich zum Generalvertreter in der Textilbranche gebracht. Sein gesellschaftlicher Aufstieg wird vor allem durch die Entwicklung seiner Automobile deutlich, denn schließlich besitzt er einen Studebaker.

Seinen aktuellen Posten hat er bekommen, weil sein Vorgänger an einem Herzinfarkt gestorben ist. An dieser Stelle wird er vom Staatsanwalt unterbrochen, der freudig kundgibt, dass eine Leiche gefunden sei. Alfredo zeigt an dieser Stelle deutlich, dass er das Spiel nicht durschaut, wenn er die Frage stellt, wann das Verhör denn beginne, obwohl dieses längst im Gange ist.

Was sich dann entwickelt, ist vielschichtig und bizarr. Das Abendessen entpuppt sich als eine stundelange Völlerei, mit einer Anzahl von Gängen, mit Gerichten und dazu passenden, erlesenen Weinen, wie sie für das 20. Jahrhundert untypisch sind. Mit der Fressorgie einhergehend, steigt die Stimmung der Anwesenden. Nach einem anfänglichem Beschnuppern wird sich schnell geduzt (das Duzen beginnt ausgerechnet zwischen Traps und dem ihnen anklagenden Staatsanwalt), am Ende liegen sich alle verbrüdert in den Armen. Die Stimmung steigert sich soweit, dass die Szene einem Irrenhaus gleicht. Es wird gelacht, gekreischt und vor Freude gebrüllt und das Urteil wird von dem auf einem Stuhl stehenden betrunkenen Richter gelallt.

Zu Beginn des Essens nimmt der Verteidiger Traps auf einen kurzen Spaziergang mit nach draußen. Dort warnt er ihn vor der Gewieftheit des Staatsanwaltes und rät ihm, nicht zu viel zu erzählen. Dessen geschickter Rhetorik ist Traps jedoch nicht gewachsen und so stellt sich heraus, dass Traps eine Beziehung mit der Frau seines ehemaligen Chefs hatte. Er beneidete diesen und wollte ihm schaden – privat sowie beruflich, um seinen Posten zu bekommen. Somit schlussfolgert der Staatsanwalt durch geschicktes Verknüpfen und Arrangieren der Informationen, dass Traps seinen Chef umgebracht habe. Am Ende der Anklage bekennt Traps sich schuldig.

Danach beginnt der Verteidiger mit seiner Rede. Er zeigt die rhetorische Unfähigkeit seines Mandaten auf und reduziert ihn auf einen Durchschnittsmenschen, der zwar schuldig sei, den man aber nicht für seine Schuld zur Verantwortung ziehen könne, da er ein Opfer der Welt sei, in der er lebt – eine Welt der Pannen, in der keiner mehr wirklich schuldfähig ist. Traps beteuert währenddessen – wir werden in der Analyse genau betrachten, warum –, dass er doch schuldig sei.

Zuletzt verkündet der Richter den Schuldspruch. Er verurteilt Traps zum Tode, vor allem um dem Wunsch des Angeklagten nachzukommen. Dürrenmatt hat drei verschiedene Enden geschrieben, die hier kurz zusammengefasst werden sollen.

Das Ende der Erzählung:

Traps wird von Pilet, dem Henker, auf sein Zimmer gebracht, wo er sich, seiner Schuld gewiss, erhängt. Die Juristen finden die Leiche und der Staatsanwalt kommentiert: „Alfredo, mein guter Alfredo! Was hast du dir denn um Gottes Willen gedacht? Du verteufelst uns ja den schönsten Herrenabend!“ (Friedrich Dürrenmatt, Das Versprechen, Die Panne, S. 244)

Das Ende der Komödie:

Traps stirbt ebenfalls, allerdings erschießt er sich. Die anderen reagieren wie folgt: Justine, die Enkeltochter des Richters: „Der dumme Kerl nahm euch alte Knacker ernst.“ (Friedrich Dürrenmatt, Die Panne, Hörspiel und Komödie, S. 171). Der Rechtsanwalt:“ Für Humor scheint man in der heutigen Zeit keinen Sinn mehr zu haben.“ (Ebd. S. 171). Und der pensionierte Richter sagt: „Der gute Alfredo. Er verteufelte mir beinahe den schönsten Herrenabend.“ (Ebd. S. 173).

Das Ende der Hörspielfassung:

Traps: „muß komisches Zeug zusammengeredet haben letzte Nacht. [...] Bildete mir ein, einen Mord begangen zu haben. So ein Unsinn. [...] Na, vorbei. Habe andere Sorgen, wenn man mitten im Geschäftsleben steht. Dieser Wildholz! Rieche den Braten. Fünf Prozent will der abkippen, fünf Prozent. Junge, Junge. Rücksichtslos gehe ich nun vor, rücksichtslos. Dem drehe ich den Hals um. Unnachsichtlich!“ (Ebd. S 55f).

3. Narrative Identitätskonstruktion

In diesem Teil soll eine Definition von Identität gegeben, und der Begriff der narrativen Identitätskonstruktion erläutert werden. Diese Ausführungen sollen als Grundlage für die folgende Analyse dienen.

Stefan Glomb schreibt, „[...] daß Identität, anders als Begriffe wie ‚Selbst’, ‚Persönlichkeit’ oder ‚Charakter’, als relationaler Begriff (etwas kann nur identisch mit etwas sein) bereits impliziert, daß sich das Bezeichnete innerhalb eines Beziehungsgeflechts situiert“ (Stefan Glomb, S. 277):

Hieraus folgt, daß Identität weder als dinghafte, statische Größe (wie es die Vorstellung von einem Persönlichkeitskern nahelegt) noch als einfach gegeben zu verstehen ist, sondern als der von der oder dem einzelnen immer wieder zu bewerkstelligende, am Schnittpunkt von gesellschaftlicher Interaktion und individueller Biographie stattfindende Prozeß der Konstruktion und Revision von Selbstbildern. (Ebd. S. 277)

Es wird deutlich, dass Identität nicht passiv entsteht, sondern die aktive Beschäftigung eines Individuums mit sich selbst fordert. Diese Beschäftigung mit den Selbstbildern ist keineswegs abschließbar, sondern muss lebenslänglich und prozessual geschehen. Besonders deutlich stellt dies Birgit Neumann heraus, wenn sie schreibt:

An die Stelle statischer, essentialistischer Identitätsmodelle rücken zunehmend prozessuale Modelle, die Identitäten als dynamische, wandelbare und sozialkulturell fundierte Konstrukte konzeptualisieren, als einen 'unabschließbare[n] Prozeß der immer neuen Selbst(er)findung'. (Birgit Neumann, S.19)

Zudem muss eine historische Entwicklung des Identitätsbegriffs berücksichtigt werden. Hierzu schreibt Kellner, dass Identität in der Vormoderne „eine Funktion von festgelegten Rollen und eines traditionalen Systems von Mythen, die Orientierung und religiöse Sanktionen boten [, war]... Identität war unproblematisch und nicht Gegenstand von Reflexion oder Diskussion. Individuen durchlebten keine Identitätskrisen, noch änderten sie radikal ihre Identität.“ (Douglas Kellner, S. 141-177). Die soziale Rolle war in diesem Sinne identitätsschaffend. Alfredo Traps entspricht auffallend genau dieser vormodernen Auffassung einer unreflektierten Identität.

An die Stelle dieses traditionellen Identitätsbildes, bei dem man davon ausging, dass man seine eigene Identität als Resultat erlangen kann, dass diese also abschließbar ist und einer Funktion gleichkommt, tritt die immer neue Selbst(er)findung, die das Leben selbst zum Identitätsprojekt werden lässt und die Frage in sich birgt, wie man Identität über die Erwachsenwerdung in die Zukunft hinaus verlängert:

Faßt man Identität in dieser Weise als variabel auf, so ergibt sich die Frage nach den Bedingungsfaktoren von Stabilität bzw. Instabilität von Identität [...], nach der Wirksamkeit der neben endogenen zu berücksichtigenden sozialen und kulturellen Einflüsse. (Stefan Glomb, S. 277)

Den hier angesprochenen Faktoren, den endogenen sowie den sozio-kulturellen kommt beiden eine große Bedeutung zu für die Entwicklung des Protagonisten Alfredo Traps, da sie bei der Beantwortung der Frage, warum Traps so empfänglich für die Rhetorik des Staatsanwaltes ist, behilflich sein werden.

Durch die höher werdende Komplexität des Identitätsbegriffs entstehen für die Individuen ganz neue Herausforderungen. Identität beansprucht Beschäftigung mit sich selbst, die über reine Autoreflexion hinausgeht. Das Leben selbst wird zum Projekt, dass eine nicht abschließbare Identität zum Resultat hat. Dies bringt die Frage mit, wie man einem solchen Identitätsprojekt begegnen kann. In der narrativen Psychologie ist daher das Modell einer narrativen Identität entstanden.

Doch was genau bedeutet narrative Identität?

Narrative Identität kann verstanden werden als ‚die Einheit des Lebens einer Person, so wie sie erfahren und artikuliert wird in den Geschichten, die diese Erfahrung ausdrücken. (Widdershoven, 1993, S.7, zitiert in: Wolfgang Kraus, S. 159)

In dieser Definition werden zwei wichtige Faktoren aufgezeigt. Narrative Identität ist immer gebunden an die Fähigkeit zur Artikulation. Zudem beschränkt die Definition das Erzählen der Geschichten nicht auf das Selbst. Fremd-Narrationen haben ebenso die Macht, die narrative Identität einer Figur zu bilden. Ich unterscheide zwei Formen der Fremdnarration:

1. Das völlige Ausgeliefertsein der eigenen Lebenserzählung durch eine andere Person
2. Die Vorgabe von bisher nicht bedachten Selbstbildern, die zu einer neuen Beschäftigung mit sich selbst führen

Es wird in der Analyse zu sehen sein, welche Form der Fremdnarration vorrangig auf Alfredo Traps einwirkt.

Durch die Prozesshaftigkeit des Erzählvorgangs wird die Identität „zu einer Metapher für ein Prozeßgeschehen. Das Individuum entwickelt Identitätsprojekte und versucht sodann, sich im Verhältnis zu ihnen zu realisieren.“ (Wolfgang Kraus, S. 163).

Dieses prozesshafte Erzählen führt weiterhin zur „Offenheit und Unabgeschlossenheit des Sich-Erzählens. Kohärenz und Kontinuität müssen immer wieder von neuem erkämpft werden.“ (Ebd. S. 163). Selbst-Narration ist also nicht stabil, sie ist einem ständigen Wandel unterworfen, der eine kontinuierliche Beschäftigung mit sich selbst einfordert.

Durch die Entwicklung des Identitätsbegriffs in der Postmoderne sind die Figuren verpflichtet, sich durch Selbst-Narration zu konstituieren. Wenn aber „andererseits die Postmoderne durch das Zusammenbrechen von kollektiven Sinnsystemen und Metaerzählungen […] charakterisiert ist, dann ist die Frage, wie in einer solchen gesellschaftlichen Situation dem Subjekt Identitätsprojekte überhaupt noch gelingen können. Indem dem Subjekt die Aufgabe zufällt, für sich selbst eine “Narration“, eine Erzählung, zu entwickeln, ist diese nicht auch schon gelöst.“  (Ebd. S. 8).

Zudem formuliert Kraus:

Die Ereignisse, die in die Narration verwoben sind, sind nicht nur die Handlungen eines einzelnen Individuums, sondern ebenso die Handlungen von anderen […]. Auf diese Weise kommen die Handlungen anderer als integraler Teil des eigenen Handelns ins Spiel. Narrative Konstruktionen benötigen deshalb typischerweise handlungsstützende Rollenbesetzungen. Eine Selbst-Narration kann nur dann erfolgreich aufrechterhalten und fortgeschrieben werden, wenn die – handlungsstützenden Rollenträger bereit sind, die Darstellungen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mitzutragen. Die Selbstdarstellung als netten Menschen bedarf der Validierung durch Dritte. – Dieses Austarieren macht komplexe Aushandlungsprozesse zwischen den Beteiligten nötig. (Ebd. S. 180)

Gerade letzteres ist für die Analyse extrem wichtig, denn es wird zu sehen sein, dass die Selbsterzählung Alfredo Traps durch die Juristen nicht einfach mitgetragen wird, sondern sie dieser andere Entwürfe entgegensetzen. Die Person des Alfredo Traps wird während des beschriebenen Abends ständig neu verhandelt.

4. Die vier Phasen der Verhandlung

Wie also können die bisherigen Erkenntnisse zu einem besseren Textverständnis führen, vor allem in Bezug auf die Frage, was Alfredo Traps dazu bewegt, sich schuldig zu bekennen. In der Forschung ist die vorherrschende Meinung, dass Traps durch die Ausführungen seine Schuld anerkennt und dass sein Schuldeingeständnis zu einer Reflexion über die Übernahme von Verantwortung für das eigene Handeln generell führt. Was dieses Schuldeingeständnis anbelangt, muss hier untersucht werden, ob es sich wirklich um ein solches handelt, oder ob es nicht andere Gründe für sein Handeln gibt.

Schauen wir uns genauer an, wie sich das Bild entwickelt, das von Traps gezeichnet wird, so erkennen wir vier Phasen. Die ersten Informationen, die der Leser bekommt, werden von dem Erzähler gegeben, der berichtet, wie Taps eine Autopanne erleidet und zu dem Haus des Richters kommt. Dort wird er zu Beginn des Prozesses sowohl vom Staatsanwalt, als auch von seinem Verteidiger nach seinem Verbrechen befragt. Da Traps seine Unschuld beteuert, ist er in dieser ersten Phase ein Angeklagter ohne Verbrechen (S. 11-19). Dann gibt es mit dem Verhör eine zweite Phase, in der Staatsanwalt Zorn auf der Suche nach Traps Verbrechen dessen Geschichte hinterfragt und deutet. In dieser Phase wird Traps zum Täter (S. 19-33). Die dritte Phase stellt die Anklagerede dar, in der Dr. Zorn aufzeigt, wie genial Traps gehandelt hat. Sein Mord wird weit mehr als ein Durchschnittsmord und Traps gesteht (S. 33‑46). In der vierten und letzten Phase versucht schließlich der Verteidiger Dr. Kummer Traps als Durchschnittsmenschen hinzustellen. Er sei ebenso schuldig wie jeder andere Mensch, nicht aber zu einer bewusst geplanten Tat in der Lage.

Es gilt nun, diese vier Phasen intensiv zu beleuchten und zu analysieren, was auf narrativer Ebene in ihnen passiert und wie sich Traps positioniert. In der Analyse der ersten Phase sollen zudem kurz die Rahmenbedingungen des Spiels dargestellt werden, damit Traps Ausgangsposition besser verständlich wird.

Erste Phase – Angeklagter ohne Verbrechen

In der ersten Phase erfährt der Leser noch recht wenig über Traps. In einem einleitenden Monolog, auf den am Ende zurückgegriffen wird, zeigt er seine berufliche Motivation und eine extreme Rücksichtslosigkeit: „Dieser Wildholz […]. Dem drehe ich den Hals um. […] Unnachsichtlich! Kein Pardon, keine Gnade“ (S. 11). Zudem wird durch sein Studebaker gezeigt, dass er vermögend ist. Ein letzter Charakterzug wird in dem kurzen Dialog mit dem Richter Werge offenbar. Dieser verlangt von Traps kein Geld für die Übernachtung und das Abendessen. Eine solche Gastfreundschaft ist Traps völlig fremd. Er zeigt hierdurch offen, dass er altruistische Gefälligkeiten geringschätzt und in der Erwartung lebt, für sämtliche Gefälligkeiten bezahlen zu müssen. Man kann also eine recht starke materielle Fokussierung seitens Traps konstatieren. Ihm wird im Hause des Richters in groben Zügen das Spiel vorgestellt, zu dessen Teilnahme er sich bereit erklärt.

Das Spiel und seine Bedingungen

Das Spiel, um das es sich handelt, ist für Traps verständlicherweise schwer zu durschauen. Vor allem die Tatsache, dass es sich bei den Beteiligten um Juristen handelt, erweckt bei ihm den Eindruck eines standardisierten Prozesses. Er fühlt sich daher in Sicherheit, wenn er sich einverstanden erklärt, die Rolle des Angeklagten zu übernehmen, ist er sich doch seiner Unschuld gewiss.

Daher fragt er denn auch den Staatsanwalt, was er begangen haben soll. „Ein unwichtiger Punkt, mein Freund. Ein Verbrechen lässt sich immer finden“, antwortet dieser (S. 17). Hier gibt es zwei Auffälligkeiten. Erstens nennt er Traps Freund, was für die eigentliche Beziehung zwischen Ankläger und Angeklagtem mehr als untypisch ist. Zudem eröffnet er Traps, dass sich ein Verbrechen finden lässt, also auch dann, wenn man keins vermutet. Dies impliziert also die Möglichkeit, eines zu finden, von dem Traps selbst nicht weiß – einfach weil er es nicht als solches einschätzt. Ein weiterer Warnhinweis kommt von seinem Verteidiger. Dieser nimmt ihn beiseite und bittet ihn, ihm direkt sein Verbrechen zu gestehen. Traps, der noch nicht weiß, wie das Spiel funktioniert, erklärt sich natürlich für unschuldig. Er beurteilt Schuld, vor allem durch den, wie er glaubt, formellen Rahmen der Gerichtssitzung, gänzlich juristisch.

Dies ist die Ausgangssituation des Prozesses. Traps wird zur Spielfigur in einem Spiel, dessen Regeln er nicht kennt. Es wird im Folgenden zu sehen sein, wie weit sein mangelndes Verständnis geht und welche Nachteile ihm daraus erwachsen.

Zweite Phase – Traps als Täter

Die zweite Phase wird durch das Verhör eingeleitet und ist narrativ gesehen eine Selbsterzählung von Traps. Es beginnt, obwohl Traps es nicht mitbekommt, in dem Augenblick, als er sich auf das Spiel einlässt. In dem Glauben, sich ganz privat mit den anderen zu unterhalten, gibt er bereits einige Informationen zu seinem Leben preis, die dem Staatsanwalt dazu verhelfen, das Wichtigste für einen Mord zu finden, nämlich eine Leiche. Traps Nachteil besteht darin, dass er die Spielregeln erst nach und nach aufgezeigt bekommt. Daher seine unbeholfene Reaktion: „Keine Bange, […] wenn erst einmal das Verhör beginnt, werde ich auf der Hut sein.“ (S. 24).

Somit helfen ihm auch die häufigen Ermahnungen seines Verteidigers, nicht so viel zu erzählen, nicht weiter. Traps Selbsterzählung ist geprägt von seinem Stolz, es in seinem Leben ganz allein so weit gebracht zu haben. Dieser Stolz als Resultat seiner jahrelangen harten Arbeit ist die Triebfeder für seine Erzählung, um ihn dreht sich sein Leben. In diesem Sinne ist Traps ein Paradebeispiel für ein traditionell geprägtes Identitätsbild. Er ist der self-made-man schlechthin und sieht sich selbst in seiner Identität gefestigt. Er ist derjenige geworden, der er werden wollte, hat also seine eigene Vorstellung von sich selbst erreicht (dies vor allem durch den beruflichen Erfolg) und damit seine Identität abgeschlossen. Durch den weiteren Verlauf des Abends mit den Alten gerät diese gefestigte Identität und das damit verbundene Selbstbild jedoch ins Wanken – denn der Staatsanwalt beginnt, ihm Denk- und Sichtweisen aufzuzeigen und auf sein Leben anzuwenden, die bisher außerhalb seiner Erfahrungswelt lagen.

Mit dem Geständnis, dass er nicht nur die Position seines ehemaligen Chefs hat, sondern dieser auch tot ist, ist die Grundlage für Traps Rolle als Täter geschaffen. Von nun an gilt es, diesen Tod als direktes Resultat von Traps Handeln zu erzählen. An dieser Stelle endet die Selbsterzählung. Traps hat sein Selbstbild präsentiert und der Staatsanwalt nimmt die Macht über die Erzählung an sich.

Dritte Phase – Traps als genialer Verbrecher

Dies tut er in Form der Anklagerede. Die Behauptung, Traps sei für den Tod seines Chefs verantwortlich, ist zu Beginn für Traps wie für den Leser in hohem Maße absurd. Es gibt jedoch einige Kernpunkte in Traps Erzählung, die genutzt werden, um Traps Handeln mit dem Tod seines Chefs zu verknüpfen und glaubwürdig zu machen. Und indem Dr. Zorn das Geniale am Verbrechen aufzeigt, bietet er Traps eine Identifikationsmöglichkeit. Denn die Anklagerede soll „nicht eine Schreckensrede sein, […] sondern eine Würdigung […]“ (S. 34). Diese Würdigung erreicht er, indem er den ‚Mord‘ zum Kunstwerk stilisiert. Er spricht von einem „virtuosen Mord“ und davon, „das Gewöhnliche als das Außergewöhnliche zu erkennen […]“ (S. 34f). Vor allem die zweite Aussage ist deutlich metanarrativ, offenbart sie doch den Charakter der Anklagerede als Fremderzählung.

Inhaltlich macht der Anwalt vor allem eins: Er erzählt Traps Geschichte weiter. Er erzählt auch die Dinge, die Traps bislang verschwiegen hat. Dass er dies tut, bedeutet für Traps eine Würdigung seiner Erzählung. Und sein Stolz bringt ihn dazu, jede noch so kleine Abweichung von den wirklichen Begebenheiten richtig zu stellen, wobei er die Geschichte komplettiert und selbst dazu beiträgt, Kausalzusammenhänge zwischen seinem Handeln und dem Tod seines Chefs herzustellen. Insofern unterstützt er die Fremderzählung, ohne zu verstehen, zu welchem Ende sie führt. Erst, als der Staatsanwalt resümiert und das Schuldeingeständnis näher rückt, beginnt Traps zu resignieren. Dies wird vor allem dadurch deutlich, dass er nicht mehr kommentiert, sondern hilflose Fragen stellt und Ausflüchte sucht. Zudem stellt der Anwalt am Ende seiner Rede viele Suggestivfragen, die Traps systematisch dazu führen, seine Schuld anzuerkennen.

Doch warum lässt sich Traps derart manipulieren? Es ist die Verführung, die eigene Geschichte von jemand anderem erzählt zu bekommen und die Faszination, mit welcher Präzision und Bildlichkeit dies geschieht. Traps Niederlage ist darin begründet, dass er das Ende nicht kommen sieht. Er versinkt in Zorns Fremderzählung, identifiziert sich mit seinem erzählten Selbst und verliert die Distanz des neutralen Zuhörers – dies bedeutet im Endeffekt, dass er das Selbstbild, das er in seiner Erzählung entworfen hat, durch das fremd erzählte Selbstbild austauscht. Dieser Austausch begründet sein Schuldeingeständnis. Um es auf den Punkt zu bringen: Nicht Traps hat gemordet, sondern die Figur Traps in der Geschichte des Staatsanwalts. Jedoch verschwimmen die Grenzen der Erzählungen und Traps kann nicht mehr zwischen ihnen unterscheiden. Dies zeigt deutlich, in welch hohem Maße eine gelungene Narration als Machtmittel gebraucht werden kann.

Zusätzlich interessant ist der Anfang der dritten Phase. Hier bietet Traps dem Staatsanwalt zwischen dem Vorwurf des Mordes und dem Beginn der Anklagerede das Du an. Man kann hierin Traps Versuch sehen, sich kurzfristig aus dem Spiel herauszuziehen. Er versucht seine Rolle als Angeklagter zu verlassen, indem er sich auf eine persönliche Ebene begibt. Da das Justiz-Spiel selbst zu einer eigenen Erzählung innerhalb der Rahmenerzählung geworden ist, bedeutet dies, dass Traps versucht, sich aus der sich nun anbahnenden Fremderzählung in die Rahmenhandlung zu flüchten – ein Indiz dafür, dass er das Spiel durchaus mehr versteht und ernster nimmt, als es seine Worte ausdrücken. Dies zeigt sich auch durch seine Aussage: „Wie im Märchen, einfach wie im Märchen (S. 34). Er stellt, ohne es zu wissen, einen metatextuellen Bezug zu dem her, was mit ihm passiert, dass er nämlich Teil einer bzw. mehrerer Fremderzählungen wird. Er merkt, dass etwas mit ihm passiert, worüber er keine Kontrolle hat und diesen Umstand nennt er märchenhaft. Zudem gilt es zu konstatieren, dass es sich bei der Erzählung durch Dr. Zorn nicht um eine komplette Neuerzählung handelt (er hätte Traps Erzählung auch auf sich beruhen lassen und Fragen nach ganz anderen Lebensabschnitten stellen können). Der Anwalt erzählt Traps eigene Geschichte vielmehr um, er bemächtigt sich dieser und dringt in sie ein. Er schafft auf inhaltlicher Ebene Bezugspunkte und auf narrativer Ebene eine Identifikationsmöglichkeit für Traps. Dadurch gewinnt seine Fremderzählung an Glaubwürdigkeit.

Die Selbsterzählung von Traps und die Fremderzählung von Dr. Zorn unterscheiden sich nicht nur auf narrativer Ebene, sondern auch textquantitativ. In der ersten Phase redet vor allem Traps, wobei der Anwalt nachhakt und Fragen stellt. In der zweiten Phase ist der Anwalt der dominante Sprecher und Traps ist auf die Funktion des Kommentierens und Ergänzens beschränkt.

Vierte Phase – Traps als Opfer

Nach Traps Schuldbekenntnis, beginnt der Verteidiger seine Rede. Schon zu Beginn stellt er fest, dass „Traps eben nicht als ein Verbrecher, sondern als ein Opfer unserer Zeit anzusehen ist“ (S. 48). Wenn der Verteidiger Traps als Opfer beschreibt, so kann er dabei nur auf dessen Widerwillen stoßen. Denn wenn er davon spricht, dass Traps lediglich ein Durchschnittsmensch sei, so begeht er – was den narrativen Einfluss auf Traps anbelangt –zwei Fehler. Zum einen entwirft er ein schlichtes opponierendes Bild zu dem genialen Traps des Dr. Zorn. Zum anderen klingt durch die Opferrolle, die er Traps zuteilt, dessen Vergangenheit an. Traps muss unweigerlich an die Zeit denken, als er wirklich ein Opfer war und als Hausierer von Haus zu Haus streifte. Wenn Traps’ Stolz zuvor als Triebfeder für die Geschichte diente, so dient er hier als Verteidigung. Dadurch, dass der Verteidiger seine Geschichte gegen Traps’ Stolz richtet, sorgt er dafür, dass dieser sich umso mehr mit der Täterrolle identifiziert. Denn das Problem ist, dass er nur noch diese beiden Erzählungen sieht, er beschränkt sich auf diese und muss demzufolge eine von ihnen als die seine auswählen.

Dabei deckt der Verteidiger deutlich auf, was sein Gegenspieler mit seiner Erzählung bezweckt hat. Da Traps sich davon unbeeindruckt zeigt, resümiert er, dass Traps neben der Autopanne eine zweite, geistige Panne erlitten habe – er ist der Erzählung des Staatsanwalts verfallen. Dem Verteidiger zufolge ist der Tod von Gygax ein Zufall und keine Berechnung. Traps sei zwar schuldig, aber nur weil er in seinem Leben die gleichen kleinen Sünden wie jeder andere Durchschnittsmensch begeht. Daraus lasse sich jedoch keine wirkliche Tat herleiten.

Es ist auffällig, dass sich Traps Selbsterzählung und diejenige des Verteidigers in mancherlei Hinsicht ähneln. Beide argumentieren damit, dass Traps sich den Tücken und Regeln des harten Geschäftslebens unterworfen sieht und als Opfer unter dem Chef gelitten hat. Zudem analysiert der Verteidiger, wie anfangs Traps, sehr juristisch und nicht wie Zorn auf moralischer Ebene. Dadurch, und durch die Tatsache, dass die Reihenfolge der Erzählungen dem Staatsanwalt in die Karten spielen, hat der Verteidiger kein leichtes Spiel.

Die wichtigste Frage aber ist: Wie soll man einen Mandanten verteidigen, der voller Überzeugung seine Schuld eingesteht?

5. Analyse

Durch die Analyse der vier vorgestellten Phasen ergeben sich drei Leitfragen, deren Beantwortung hier als Resümee dienen soll.

1. Wie sieht Alfredo Traps sich selbst, was ist sein Weltbild und wie gestaltet er seine Selbsterzählung?

Traps zeigt in seiner Selbsterzählung deutlich, wie er sein Leben und seine Werte einschätzt. Er ist gierig nach Anerkennung, er ist stolz darauf, aus eigener Kraft so viel erreicht zu haben und er ist geschäftlich wie privat rücksichtslos. All dies prägt seine Erzählung. Er sieht sich als Opfer von Gygax, gleichwohl bedient er sich derselben Mittel, um dessen Posten zu bekommen. Wie bereits gesehen, ist sein Identitätsbild ein sehr traditionelles, was ihn zu einer abgeschlossenen Identität führt. Dies liegt vor allem darin begründet, dass er so viel Wert auf beruflichen Erfolg legt. Er hat es an die Spitze geschafft und sieht keine Entwicklungsmöglichkeiten in anderen Lebensbereichen.

2. Wie wird während der Verhandlung sein Selbstbild verändert, nimmt er diese Veränderung war und wie reagiert er darauf?

Während der Fremderzählungen, vor allem der von Staatsanwalt Zorn, wird sein Selbstbild verändert. Bis zu dieser hat er nur sein Handeln gesehen, nicht aber dessen Auswirkungen. Indem Zorn Kausalketten zwischen seinem Tun und dem Tod des Gygax herstellt, zeigt er Traps eine neue Sichtweise der Dinge.

Traps geht unterschiedlich mit der Fremderzählung um. Zu Beginn wirkt für ihn alles absurd, er beurteilt das Gesagte noch sehr stark nach seinen Maßstäben. Nach und nach beginnt er aber, die Sichtweise Zorns zu verstehen. Dieses Verständnis liegt vor allem darin begründet, dass Traps sich von der Erzählung einnehmen lässt. Wie in der Analyse gezeigt wurde, fasziniert sie ihn und er verliert die objektive Distanz eines Zuhörers. Zuerst bekommt er eine neue Sichtweise aufgezeigt, danach bekommt er die Möglichkeit, diese Sichtweise zu verstehen. Zorn erzählt die Figur des Traps so, dass sich der wahre Traps mit ihr identifizieren kann. Zum einen wegen inhaltlicher Kohärenz zu Traps’ Selbsterzählung, zum anderen weil er ihm ein neues Selbstbild anbietet – eben jenes des genialen Verbrechers, der ohne Waffen und ohne Gift einen solch klugen Mord verübt hat, der ohne die abendliche Gerichtshandlung für immer unbemerkt und ungesühnt bliebe. In der Fremderzählung von Dr. Kummer wird, wie aufgezeigt, ein radikaler Gegenentwurf erzählt. Traps wird in noch höherem Maße als in seiner Selbsterzählung zum Opfer stilisiert. Er ist machtlos in einer Welt der Pannen, in der der Zufall regiert und kein Mensch wirklich schuldfähig ist, da niemand für die Konsequenzen seines Handelns verantwortlich gemacht werden kann.

Wenn Traps nun neue Selbstbilder angeboten werden, bedeutet dies für ihn den Anfang eines neuen Identitätsprojekts. Erst durch diese Bilder ist er in der Lage, sich auf eine Art und Weise mit sich selbst zu beschäftigen, die er so zuvor nicht kannte. Er kann aus seiner abgeschlossenen Identität (zwar guter Job, aber trotzdem Alltag, Durchschnitt, Frau und Kinder, keine Abwechslung) ausbrechen. Diese neue Art der Selbstreflexion kann jedoch nicht nur in die Zukunft gerichtet sein. Sie bringt zwangsweise die Projektion auf die eigene Vergangenheit mit sich. Sein Leben, das er bis zu diesem Zeitpunkt geführt hat, bekommt neue Deutungsweisen. Im Teil über die narrative Identität wurde gezeigt, dass Selbsterzählungen immer von anderen mitgetragen werden müssen. In diesem Bewusstsein steuert der Staatsanwalt seine Ausführungen. Der Verlauf der Handlung zeigt jedoch, dass Traps dieser neuen Herausforderung der Selbsterzählung nicht gewachsen ist. Er kann sich lediglich an den Bildern orientieren, die ihm vorgegeben werden und diese akzeptieren oder ablehnen – er geht also rein selektiv mit diesen Bildern um. Daher scheint die Bevorzugung des genialen Verbrechers gegenüber dem eines einflusslosen Durchschnittsmenschen, selbstverständlich.

3. Welche Konsequenzen ergeben sich aus den Fremderzählungen vor allem der Zorns und wie lässt sich der Selbstmord in der Erzählung und in der Komödie erklären?

Die Konsequenzen der Fremderzählungen für Traps sind mannigfaltig. Unverständnis, Wut, Spaß, Entrüstung, Furcht, sogar Panik. All dies durchlebt er an diesem Abend. Und zuletzt begeht er in zwei von drei möglichen Geschichten Selbstmord. Der Untertitel Eine noch mögliche Geschichte wirkt hier auf verschiedenen Ebenen. Zum einen wird gezeigt, dass man Traps’ Leben unterschiedlich erzählen kann. Es ist also eine Frage der Herangehensweise und des Standpunkts, wie erzählt wird. Zum anderen zeigt Dürrenmatt mit seinen verschiedenen Fassungen desselben Texts, dass unterschiedliche Erzählungen für ein und dieselbe Geschichte möglich sind.

Warum also der Selbstmord? Wenn Traps am Ende des Abends seine Schuld gesteht, hat er sie wirklich eingesehen oder gibt es einen anderen Grund? Die Möglichkeit des Schuldverständnisses ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen. Schließlich verbalisiert er selbst, dass er gemordet habe. Doch gibt es auch eine andere Interpretationsmöglichkeit. Denn schließlich könnte Traps die neuen Selbstbilder, die ihm angeboten werden, nutzen, um eine neue Selbsterzählung zu entwickeln. Er könnte also die Lernerfahrung machen, dass es noch andere Möglichkeiten der Selbsterzählung gibt und dieses Moment nutzen, um gestärkt mit einem neuen Identitätsprojekt aus dem Abend herauszugehen. Stattdessen beschränkt er sich darauf, sich für eine Fremderzählung zu entscheiden. Wichtig ist dabei, dass diese Fremderzählung nicht ihn zeigt. Ihm wird ein Fremdbildnis seiner selbst gezeigt, jemand der er sein könnte oder gerne wäre. Es befriedigt seine Sehnsucht, aus seiner Alltäglichkeit auszubrechen. Der Selbstmord resultiert nicht etwas daraus, dass er sich mit diesem Bild identifiziert, sondern daraus, dass die Übernahme der Schuld und der Selbstmord als Konsequenz die einzige Möglichkeit der Annäherung an die Identifikation mit seinem Fremdbildnis darstellen. Denn ebenso wie er von den Fremderzählungen abhängig ist, ist er von fremd konstruierten Identifikationsmöglichkeiten abhängig; in diesem Fall der des Todesurteils.

Alle drei Enden zeigen, dass Alfredo Traps die neu gewonnenen Möglichkeiten der Selbsterzählung nicht alleine nutzen kann. Egal, ob er sich in einem Wahn von Schuldempfinden selbst hinrichtet oder am nächsten Tag alles Geschehene als irren Traum abtut und in sein normales Leben zurückkehrt, er bestätigt das Urteil des Verteidigers: Er ist Gefangener in einer Welt der Unfälle, ohne eine mögliche Einflussnahme.

6. Schlussfolgerung

Mit Die Panne ist Dürrenmatt eine der wichtigsten deutschen Erzählungen des 20. Jahrhunderts gelungen, deren besondere Finesse durch die Verbindung von Inhalt und Form entsteht.

Inhaltlich steht das Gerichtsspiel der Alten im Vordergrund. Zu diesem gesellt sich das Spiel mit den Identitätsentwürfen, welches die Anwälte als eine Art mise en abyme betreiben und somit metatextuell auf Dürrenmatts Konzept der möglichen Erzählungen referieren. Es ist eine experimentelle Erzählung, in der der Autor Möglichkeiten der Erzählung testet, indem er seine eigenen Figuren diese ausprobieren lässt.

Dürrenmatt deckt die Macht der Erzählung auf, indem er sie am Beispiel des Alfredo Traps durchexerziert. Dies erscheint so bedeutend, weil er nicht nur seinen Figuren unterschiedliche Entwürfe an die Hand gibt, sondern weil er selbst drei verschiedene Enden verfasst hat. Diese Alternativen haben eine wichtige Bedeutung für Dürrenmatts Frage nach Schuld, denn sie zeigen, dass es in der modernen Welt keine eindeutigen Antworten mehr gibt. Die Bewertung von Schuld hat ihre objektiven Kriterien verloren.

Um dies zu konkretisieren: Objektivität ist nicht mehr möglich, weil sie immer von einer Darstellung, einer Erzählung abhängig ist. Dürrenmatt zeigt auf, dass es immer verschiedene Versionen einer Wahrheit gibt. Somit ist die Erzählung an sich unbedeutend, da austauschbar. Ihre eigentliche Macht gewinnt sie erst durch die Art wie erzählt wird. Denn unterschiedliche Erzählungen werden auch verschieden gedeutet. Eine Erzählung am überzeugendsten zu gestalten bedeutet Anspruch auf die eine wahre Geschichte zu haben – Wahrheit, und Traps Fall die Schuld, ist nicht existent, bis sie glaubwürdig erzählt wird. Dies wird in Die Panne in einem komplexen Erzähl-Gefüge auf eindrucksvolle Weise dargestellt.

Bibliografie

I. Primärliteratur

Dürrenmatt, Friedrich: Das Versprechen, Die Panne. Europäischer Buchklub 1965.

Dürrenmatt, Friedrich: Die Panne, Hörspiel und Komödie. Diogenes 1980.

II. Sekundärliteratur

Monographien

Neumann, Birgit: Erinnerung, Identität, Narration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischerFictions of memory“. Berlin: de Gruyter 2005.

Kraus, Wolfgang: Das Erzählte Selbst. Die narrative Konstruktion von Identität in der Spätmoderne. Pfaffenweiler: Centaurus-Verlagsgesellschaft 1996.

Holdheim, Wolfgang: Der Justizirrtum als literarische Problematik. Berlin: de Gruyter 1969.

Aufsätze

Kellner, Douglas: „Popular culture and the construction of postmodern identities“. In: Modernity & identity. Hrsg. S. Lash & J. Friedman. Oxford UK: Blackwell. S. 141-177.

Lexika

Glomb, Stefan: „Identität, persönliche“. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Hrsg. Ansgar Nünning. 3., akt. u. erw. Aufl. Stuttgart: Metzler 2005.

Pour citer cette ressource :

Matthias Leimbach, "Narrative Identität in dem Hörspiel «Die Panne» von Friedrich Dürrenmatt", La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), mars 2014. Consulté le 19/04/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/arts/theatre/narrative-identitat-in-dem-horspiel-die-panne-von-friedrich-dyrrenmatt