Vous êtes ici : Accueil / Littérature / RDA et RFA / Wendeliteratur / Julia Schoch: «Mit der Geschwindigkeit des Sommers»

Julia Schoch: «Mit der Geschwindigkeit des Sommers»

Par Teresa Hiergeist : Lectrice d'allemand - ENS de Lyon
Publié par mduran02 le 06/02/2010

Activer le mode zen

Analyse littéraire du roman de Julia Schoch ((Mit der Geschwindigkeit des Sommers)).

Julia Schochs Cover.jpgJulia Schoch. Mit der Geschwindigkeit des Sommers. München, Piper Verlag GmbH, 2009, 150 S. ISBN 978-3-492-05252-8

Julia Schochs Mit der Geschwindigkeit des Sommers ist der melancholische, gefühlvolle Nachruf einer namenlosen Ich-Erzählerin auf ihre Schwester, welche sich in einem Hotelzimmer in New York das Leben genommen hat. Rückblickend werden die Erlebnisse heraufbeschworen, die zu ihrer Daseinsmüdigkeit geführt haben könnten. Es handelt sich dabei um einzelne Episoden, die um eine Liebesgeschichte herum angeordnet sind. Der Roman ist der Versuch einer Rekonstruktion der Gefühlswelt einer Schwester, die aufgrund der familiären Bande ganz nah, in ihrem Handeln jedoch unverständlich und fremd wirkt. Die Erzählung wird zum verzweifelten Versuch, das Unverständliche zu verstehen, das Ungreifbare fassbar zu machen.

Eingesperrt im eigenen Leben

Der Leser bekommt sehr schnell einen Eindruck von der komplexen Persönlichkeit der Schwester, deren Leben eine ständige Gratwanderung zwischen Normalität und Psychopathologie, leerer Monotonie und Erlebnishunger, Passivität und Bewegungsdrang zu sein scheint. Ein unaufhörliches Verlangen nach mehr, die Sehnsucht nach einem unerfüllbaren Glück und der Trieb, den trostlosen Alltag und sich selbst zu überwinden, um zu einem absoluten Leben zu gelangen - diese Spannungen sind es, die die Schwester kennzeichnen und ,die sie innerlich zu zerreißen scheinen. Ausgedrückt findet sich das auch in ihrer Beziehung zum männlichen Geschlecht. Nichts hält sie in den engen Schranken der Ehe, immer wieder zwingt sie ihre innere Unruhe auszubrechen. Sie sucht das Stück, das ihr zu ihrem Glück fehlt, in einem Seitensprung mit einem Soldaten. Doch als die Schwester einsieht, dass ihre unausgewogene Persönlichkeit auch hier keinen Ausgleich finden kann, beendet sie die Beziehung und zieht auf ihrer Reise nach New York die letzten Konsequenzen eines unbefriedigten Lebens.

Hinter den Mauern der Geschichte

Interessant wird diese stereotype Darstellung einer unzufriedenen Frau, der die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung fehlt, erst insofern, als sie sich mit der Geschichte Deutschlands aufs Engste verwoben findet. Die persönliche Erinnerung des Individuums überlagert sich mit der "Großen Geschichte" des Staates. Der Mauerfall deckt sich nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich mit der Affäre. In beiden Fällen handelt es sich um die Auflösung einer (politischen und moralischen) Grenze, die die Schwester zunächst als befreiend empfindet. Das Ende der DDR erscheint für das gesamte weibliche Geschlecht wie eine seit langem erwartete Chance, aus der Passivität ihres Daseins herauszutreten.

Wie die Frauen in den Wohnblöcken aufatmeten. Vor allem die Frauen. Zum ersten Mal saßen sie nicht nur dabei, sondern sahen konzentriert hin. Der gebannte Blick auf den Fernseher, aus dem verkündet wurde, dass der Staat alle Grenzen öffnete. Dass Vorschriften, Verbot plötzlich hinfällig geworden waren, dass nichts mehr zu fürchten war. Während die Männer, alarmiert, mit der Kommandozentrale telefonierten, während sie noch rätselten und unruhig fragten, wie diese Bilder zu deuten seien, zogen sich die Frauen schon ihre Mäntel über und rasten die Treppe hinunter. (S. 50)

Der Mauerfall wird als Befreiung der Frau gezeichnet, der einen weiblichen Aktionismus hervorruft. Die Männer hingegen bleiben passiv. Selbst als ihre Frauen sie verlassen, um in den Westen ziehen, bleiben sie "still starrend auf dem Sofa" (S. 51), unflexibel, die Dekonstruktion politischer und patriarchalischer Ordnungen hinzunehmen. Der Mauerfall führt so zu einer Inversion fixierter Geschlechtsmuster und damit zur Auflösung der binären Oppositionsstruktur zwischen Mann und Frau. Auch der Chronotopos spiegelt die Aufhebung fester politischer und privater Grenzstrukturen wider.

Inzwischen war sie mit Ehemann und erstem Kind (mit dem zweiten war sie schwanger) in ein Haus gezogen, am anderen Ende, schon beinah außerhalb der Ortschaft, aber es gab ja kein "außerhalb" und "innerhalb" mehr. Auf einen Feld waren Einfamilienhäuser aus Fertigteilen errichtet worden. Als man noch gehofft hatte, der Ort würde nun, nach der Vereinigung der deutschen Staaten, zu einem großen europäischen Stützpunkt. (S. 55)

Die klaren örtlichen Strukturen des Innerhalb und Außerhalb lösen sich auf wie die Unterscheidung von Ost und West. Doch ebenso wenig wie die Seitensprünge der Schwester eine reale Möglichkeit darstellen, den festgeschriebenen Alltag zu überwinden, führt die Auflösung der binären Oppositionen auf politischer Ebene zu einer dauerhaften Befreiung. Die Sehnsucht nach einem "Dritten Raum", der Ost und West in einer neuen, übergreifenden Idee vereinen würde, scheitert. Die Neuordnung politischer Strukturen geht nicht in einer europäischen Weltsicht auf, die die einzelnen Komponenten gleichwertig nebeneinander stellen würde. Die Hoffnung auf eine politische Sinngebung über die Europaidee scheitert.

Die Hürden der Erinnerung

Mit der Geschwindigkeit des Sommers behandelt also nicht nur die Auseinandersetzung mit den persönlichen, enttäuschten amourösen Erwartungen, sondern auch die unterschwellige Beschäftigung mit der Frustration politischer Perspektiven infolge der Wiedervereinigung. Damit liefert der Roman einen Beitrag zur Erinnerungskultur. Er setzt sich mit der ambivalenten Beziehung der Deutschen zur Geschichte ihres Landes auseinander und zeigt sich dabei durchaus kritisch gegenüber der offiziellen Vergangenheitsbewältigung. Schließlich ist es auch der Zwiespalt der Schwester zwischen der negativen Darstellung der DDR in der öffentlichen Darstellung und der Erinnerung an die persönliche Vergangenheit, der zu ihrer Unzufriedenheit und schließlich zu ihrem Selbstmord beiträgt. Dabei wird mehrmals auf die Vermitteltheit jeglicher Erinnerung aufmerksam gemacht. Sie ist keine Reproduktion der Wirklichkeit, sondern Teil eines gesellschaftlichen Diskurses, der bestimmte Machtstrukturen transportiert. So dient die distanzierende Abgrenzung von Ostdeutschland der Politik als Legitimation einer besseren Gegenwart:

Plötzlich kommt es ihr vor, als erwiesen die Geschichten, die sie über all die Jahre begleiteten, der Gegenwart einen Dienst. Diese Beschwörungen des Vergangenen, diese Wachträume von einer schlechteren Welt! Angesichts solcher Erinnerung musst die jetzige Welt ja nur besser erscheinen. Sie wirkte doppelt hell, doppelt leuchtend. (S. 114)

Dieser offizielle Geschichtsdiskurs hat allerdings negative Auswirkungen auf die Individuen. Für sie kommt die Überzeichnung und Standardisierung der persönlichen Erinnerung durch die Historiographie einem Identitätsverlust gleich, der verheerende Folgen mit sich bringt.

Seltsam - sie merkt es -, dass sie inzwischen so davon spricht, als wären es die Geschichte aller. Als hätte es sie selbst gar nicht darin gegeben. Versatzstücke eines Lebens, das allen gehörte, gleichmacherisch bis ins Blut der Erinnerung hinein. (S. 88)

Für persönliche Versionen der Vergangenheit bleibt hier kaum Platz. Sie werden verdrängt, so dass sie "plötzlich abgeschmackt wirken wie eine Standardsituation aus einem Film". Die Schwester selbst verliert im Laufe des Romans die Kraft, sich gegen diese Prozesse der Fixierung und Zementierung der Erinnerung zu wehren. Ihre Vergangenheit bedeutet persönlich nichts mehr für sie, "nicht mehr als ein Freiluftmuseum" (S. 86). Die deutliche Lücke, die zwischen offizieller und individueller Erinnerung, zwischen kulturellem und kommunikativem Gedächtnis, klafft, scheint nicht aufgefüllt werden zu können. Die Schwester resigniert, sie tauscht ihre lebendige, persönliche Erinnerung gegen eine tote, offizielle. Sie nimmt sich selbst als gescheitert, wankelmütig und charakterlos wahr, weil ihr die Identität einer eigenen Geschichte fehlt. Als letzte Konsequenz bleibt ihr nur der Selbstmord. Sie stirbt mit ihrem Gedächtnis. 

Aus dieser Perspektive betrachtet kann Mit der Geschwindigkeit des Sommers als Manifest gegen die fest geschriebene, standardisierte Version der Geschichte gelesen werden. Das Buch stellt die Erinnerungsunfähigkeit und die Blockade der Vergangenheitsverarbeitung  als psychische Krankheit dar, von der die Schwester nicht rechtzeitig geheilt werden konnte. Stellvertretend für sie schafft die Erzählerin nun durch die individuelle, familiäre und orale Betrachtung der Vergangenheit das ausgleichende Stück, nach dem deren rastlose Persönlichkeit zeitlebens auf der Suche war: einen Erinnerungsort, der ihr als Individuum Identität stiften kann. Damit fungiert der Roman selbst als eine Art Gegen-Erinnerung, die den aus dem offiziellen Diskurs ausgegrenzten Subjekten eine Stimme gibt. Er stilisiert sich zum Retter des kommunikativen Gedächtnisses, der dabei helfen soll, eine ehrlichere Beziehung zur Vergangenheit einzugehen. Ganz nach aristotelischer Manier proklamiert er, dass allein die Literatur die Geschichte angemessen darstellen könne: "Die Angst, dass das Falsche sichtbar bleibt, kann nur die Phantasie zersetzen." (S. 70).

 

Pour citer cette ressource :

Teresa Hiergeist, "Julia Schoch: «Mit der Geschwindigkeit des Sommers»", La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), février 2010. Consulté le 25/04/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/litterature/rda-et-rfa/wendeliteratur/julia-schoch-mit-der-geschwindigkeit-des-sommers-