Christoph Hein : "Weibliches Schreiben"
Aufgewachsen in Bad Düben bei Leipzig, Christoph Hein (geboren 1944), dem als Sohn eines evangelischen Pfarrers der Besuch der weiterführenden Schule in der DDR verwehrt wurde, wurde 1958 Internatsschüler eines humanistischen Gymnasiums in Westberlin. Wegen des Mauerbaus musste er 1961 die Schule ohne Abitur verlassen, das er drei Jahre später auf einer Abendschule nachholen konnte. Nach einem Studium der Philosophie und der Logik arbeitete er als Dramaturg unter der Leitung von Benno Besson an der Berliner Volksbühne.
Seit 1979 ist er als freier Schriftsteller tätig. Den literarischen Durchbruch erlebte Hein in beiden deutschen Staaten mit der Novelle Der fremde Freund (1982), die in Westdeutschland ein Jahr später unter dem Titel Drachenblut veröffentlicht wurde. Christoph Hein wurde mehrmals ausgezeichnet (u. a. Erich Fried-Preis, 1990, Schiller-Gedächtnis-Preis, 2004).
Unterscheidet sich ein „weibliches Schreiben“ von einem „männlichen Schreiben“? Der Standpunkt eines männlichen Autors, Christoph Hein, der in Der fremde Freund (1982) oder in Frau Paula Trousseau (2007) in die Haut einer Erzählerin schlüpft.
Les éditions Christian Bourgois publieront en novembre 2012 un recueil en français des textes écrits à l'occasion des Assises du roman.
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Schreiben Frauen anders? Gibt es ein „weibliches Schreiben“?
Welche Themen hatten Männer nicht beschrieben, bevor sich Frauen, deutlicher als es ihnen zuvor gestattet war, zu Wort meldeten?
Was ist den männlichen Autoren von unserer Welt entgangen? Für welche Formen des Schreibens und der Kunst sind Männer ungeeignet oder nicht ausreichend sensibilisiert? Wo und wann und woran erkennen wir, dass Bilder, Texte, Musik einen weiblichen Urheber haben? Äußern sich Frauen gefühlvoller als Männer, vielleicht gar sentimentaler? Haben sie ein anderes Verhältnis zur Natur und können sie die Natur anders auffassen und darstellen? Wird der Mensch, das Kind, die Liebe von ihnen anders gesehen und künstlerisch gestaltet?
Das sind Fragen, die in meiner Jugend heftig diskutiert wurden, und ich habe die Einlassungen, Reden und Diskussionen aufmerksam wahrgenommen und bedacht, da es bedeutende, wichtige Autorinnen waren, die sich, zustimmend oder vehement widersprechend, dazu äußerten, Christa Wolf und Natalia Ginzburg, Simone de Beauvoir und Sarah Kirsch, Susan Sontag und später Toni Morrison. Ich habe die ein „weibliches Schreiben“ behauptenden Essais und Traktate mit Zuneigung und intellektuellem Wohlwollen gelesen. Ich sagte mir, Frauen verhalten sich in der Welt anders als Männer, unterscheiden sich im Ton und Stimme, in der Freundlichkeit und ihrer Gesprächsführung deutlich von ihnen. Naturgegeben und notwendigerweise ist ihr Verhalten zu Kindern und der Umgang mit ihnen anders. Sie pflegen die Freundschaften mit ihren Geschlechtsgenossinnen offener, sprechen mehr miteinander als die verschlossenen Männer, sind vielleicht sogar herzlicher, auf jeden Fall aufmerksamer füreinander. Mit dem Herzen in der Hand gehen sie auf die Welt und die anderen zu, ungeschützter dadurch, empfindsamer, aber auch gefährdeter. Warum sollten da nicht auch ihre Äußerungen in der Kunst anders sein, sollte es da nicht ein „weibliches Schreiben“ geben?
Ich gestehe, dass ich trotz einer grundsätzlichen Zustimmung eine dem Mann unzugängliche, unerreichbare Form der schriftlichen Äußerung oder der Ästhetik bisher nicht entdecken konnte, eine Region, die erst durch das „weibliche Schreiben“ gesehen und benannt wurde.
Gewiss, es gibt einen männlichen Ton in der Literatur oder auch die Sprache der Machos, aber darauf ist das Schreiben der männlichen Autoren nicht zu reduzieren.
Anders gesagt, wo und wie könnte ein „weibliches Schreiben“ mehr erreichen, weiter und tiefer gehen als bei einem Autor wie Proust oder Kafka oder Flaubert? Gibt es in ihren Texten typisch männliche Auslassungen, die einer Frau nicht unterlaufen wären?
Wo könnte eine Frau, und sei es die begabteste, etwas hinzufügen, was diesen Autoren unerreichbar war? Welche Fügung, welche Satzmelodie, welcher Stil, welche Wahrnehmung, Fantasie oder welchen Traum?
Und noch anders betrachtet: Wenn es ein „weibliches und ein männliches Schreiben“ gibt, müsste da nicht der Leser und die Leserin entsprechend darauf reagieren? Also die Texte des eigenen Geschlechts bevorzugen, oder umgekehrt nur an Texten des anderen interessiert sein, um eben dieses Andere besser kennenzulernen?
Gelegentlich schreibe ich Romane in der Figurensprache, in der Ich-Perspektive, und ab und zu war es eine Frau, die ich erzählen ließ. Ich wusste immer, wie gefährlich ein solcher Seitenwechsel ist, wie schnell das falsch und peinlich und lächerlich werden kann, und ich war nach Abschluss einer solchen Arbeit ganz besonders und eigentlich nur an dem Urteil von Frauen interessiert. Mein erster Roman (Der fremde Freund) war ein solcher Text, und ich
war als Autor in Deutschland damals völlig unbekannt. In der Charité, dem großen Berliner Krankenhaus, gab es eine Diskussion um diesen Roman über eine Ärztin in Ostberlin, und im Nachhinein erfuhr ich, dass alle an der literarischen Gesprächsrunde beteiligten Ärzte dieses Klinikums, und das waren vor allem weibliche Ärzte, der Ansicht waren, dieser Roman sei von einer Ärztin geschrieben und unter Pseudonym veröffentlich worden.
Natürlich, ich weiß, das ist kein Beweis dafür, dass es kein „weibliches Schreiben“ gebe oder geben könne. Aber noch warte ich auf dieses unverwechselbare „weibliche Schreiben“.
Christoph Hein
Pour citer cette ressource :
Christoph Hein, "Christoph Hein : "Weibliches Schreiben"", La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), juin 2012. Consulté le 05/11/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/litterature/litterature-contemporaine/textes-inedits/christoph-hein-weibliches-schreiben-