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Der soziale Wohnungsbau in Florianópolis (Brasilien) : low cost gated communities ?

Par Alice Moret
Publié par Cécilia Fernandez le 26/04/2022

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Während man häufig die geschlossenen und gesicherten Wohnanlagen einer wohlhabenden Bevölkerung zuordnet und man ihr Bestehen damit erklärt, dass diese sich von der ärmeren Bevölkerung abgrenzen wolle, so kann man seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts beobachten, in Brasilien wie auch in anderen Ländern, wie sich die unteren Schichten diesen Lebensraum angeeignet haben : wie ist es zu verstehen, dass diese sozialen Gruppen gerade dieses Wohnmodell angenommen und verwandelt haben ?

Voir l'original en français : « Le logement social à Florianópolis : des gated communities low cost ? ».

Publication en partenariat avec le site Géoconfluences

Dies ist die deutsche Übersetzung eines Artikels auf Französisch von 2019 : "Le logement social à Florianópolis : des gated communities low cost ?".

Bibliografie | den Artikel zitieren | français | Deutsch

Die untersuchten Wohneinheiten befinden sich im Ballungsraum von Florianópolis, in den Gemeinden Biguaçu, Sao José, Palhoça et Florianópolis, im Bundesstaat Santa Catarina, Brasilien.

Kasten 1. Der Bundesstaat Santa Catarina 

carte de localisation de Florianopolis, Etat de Santa Catarina au BrésilDer Bundesstaat Santa Catarina ist ein kleiner Staat im Süden Brasiliens, er zählt etwas über 6 Mio. Einwohner, von denen fast ein Drittel im Ballungsraum der Hauptstadt Florianópolis lebt. In der Mitte des 16. Jahrhunderts auf der Insel Santa Catarina gegründet, wurde der Staat nacheinander mit Menschen aus mehreren Immigrationsbewegungen bevölkert, hauptsächlich von den Azoren kommend, auch aus Deutschland (vom 19. Jahrhundert an), aus Italien, Polen, Russland und Japan (Mitte des 20. Jahrhunderts). Es besteht ein starker Kontrast zwischen dem eher ländlichen Inland, dessen Einnahmen hauptsächlich auf Land- und Forstwirtschaft beruhen, auch auf Bergbau (Kohle), und dem Küstengebiet, welches dichter besiedelt und stärker urbanisiert ist und von Industrie, Dienstleistungen und Tourismus lebt. Der Lebensstandard und die Löhne sind dort besser als anderswo in Brasilien, aber die Arbeitslosigkeit ist hoch und auch die Preise liegen über dem Durchschnitt.

Abb. 1. Karte zur Lage von Florianópolis

Diese Region im Süden Brasiliens gilt als weniger gewalttätig als die anderen Landesteile; laut Statistik liegt die Kriminalitätsrate (26  Todesfälle durch Gewalt auf 100 000 Einwohner im Jahr 2015) im Mittelbereich (22 pro 100 000), aber hier gilt der Ruf mindestens ebenso viel wie die Fakten. Die Vorherrschaft von geschlossenen und gesicherten Wohnanlagen steht damit im Gegensatz zum Image eines « ruhigen » Bundesstaats. Der relativ wohlhabende und dynamische Ballungsraum bietet ein kontrastreiches Bild und beherbergt eine Menge von gutsituierten Personen, von Touristen, aber auch Menschen aus den unteren Schichten. Mit « unteren Schichten » ist « eine Vielzahl von sozialen Gruppen gemeint, die durch eine materiell und kulturell dominierte Stellung im sozialen Raum gekennzeichnet sind und deren Lebenschancen und -bedingungen durch die relative Begrenzung der Möglichkeiten geprägt sind » (Schwartz, 2002), also im Landesdurchschnitt ärmere soziale Gruppen mit weniger Ressourcen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Um den geschlossenen Lebensraum dieser unteren Schichten zu erfassen, habe ich die 77 Wohnanlagen des Ballungsraums untersucht, die im « Programm Mein Haus Mein Leben » (Programa Minha Casa Minha Vida) eingetragen sind, ein 2007 gestartetes und sehr umfassendes Programm zum sozialen Wohnungsbau auf Bundesebene (vgl. Kasten 2). 2015 gehörte ein Viertel aller Wohnungsneubauten im Staat Santa Catarina zu diesem Programm. 

Kasten 2. Das Programm Mein Haus Mein Leben (Programa Minha Casa Minha Vida)

Während der Regierungszeit von Lula 2007 vom Städteministerium (Ministério das Cidades) gestartet, zielt dieses bundesweite Programm auf den Bau von sehr vielen Wohnungsneubauten, die sich an die unteren Schichten richten. Diese Politik versteht sich als Antwort auf die massive Wohnungsnot in den Jahren 2000, die bis 2010 andauerte, insbesondere für die ärmsten Haushalte. Die Inspiration dazu stammt anfangs von den Überlegungen zum « Recht auf Stadt », Henri Lefebvre hatte in Brasilien viele Nachfolger (Pereira und Perrin, 2011). Mit dem Recht auf Stadt meint der Autor nicht nur den Zugang zum städtischen Leben und das Vorhandensein von öffentlichen Orten, sondern ein « Recht zum Tun », d.h. die Möglichkeit, an der Schaffung und Verwandlung des eigenen Lebensraums teilhaben zu können, und auch ein « Recht auf Sich-zu-eigen-machen » des städtischen Raums (Lefebvre, 1968).

Das PMCPV verfolgt dabei zwei Ziele: Das erste ist ein soziales Ziel, an das Wohnungsangebot für die unteren Schichten gerichtet, welche oft nicht genug zum Wohnen und Essen verdienen. Es existiert tatsächlich ein gesetzlicher Mindestlohn in Brasilien, er ist jedoch extrem niedrig und deckt nicht die Grundbedürfnisse einer Person, geschweige denn einer Familie : 500 Reais (147 EUR) zu Beginn des PMCPV und 880 Reais (259 EUR) im Jahr 2016. Zum Vergleich beläuft sich 2016 die Monatsmiete einer kleinen Wohnung in einem Arbeiterviertel von Florianópolis auf etwa 800 Reais. Das zweite Ziel ist ein wirtschaftliches : durch Investitionen der öffentlichen Hand die Wirtschaft anzukurbeln, insbesondere in der Baubranche, durch Schaffung von Arbeitsplätzen im Baugewerbe, und auch die Nachfrage zu fördern, ein besonders wichtiges Ziel für die brasilianische Wirtschaft nach der Krise von 2008. Die privaten Unternehmen haben so von den Investitionen und Subventionen des brasilianischen Staats profitiert.

Der Staat subventioniert mit der Bundessparkasse (Caixe Econômica Federal) den Erwerb eines Hauses oder einer Wohnung für die berechtigten Haushalte. Bis 2017 gab es drei Unterstützungsstufen : Haushalte mit einem Einkommen unter 1500 Reais ; Haushalte mit bis zu 3000 Reais im Monat ; solche mit bis zu 5000 Reais. Ich habe nur die beiden ersten Kategorien in Betracht gezogen, da die dritte eher den Haushalten der Mittelschicht entspricht, die ihre Wohnung ohne staatliche Hilfe finanzieren können, und die Existenz dieser Kategorie eher mit einer Gegenleistung an die Baufirmen in Verbindung steht. Die öffentliche Hand fördert also den Bau (Darlehen, Sicherheiten, Infrastruktur, Bereitstellung von Bauland, Netzwerkanschluss, Bau von Einrichtungen ...) und finanziert von 10 % bis 90 % den Wohnungserwerb der Haushalte, was auf ein Wohnkonzept hinweist, das auf Privateigentum fokussiert.

Darauf folgten mehrere Phasen : die erste führte zum Bau von einer Million Wohnungen, die zweite zum Bau von zwei weiteren Millionen, die dritte von mehreren Millionen … Als  ich vor Ort nachgeforscht habe, war die Phase 3 im Gang, diese Beobachtungen gelten also nur bis dahin, auch wenn zwischenzeitlich eine vierte Phase begonnen hat, und zwar trotz der politischen Umwälzungen in Brasilien im Jahr 2016.  Viele akademische (in Soziologie, Städtebau, Gestaltung, Sozialgeografie), aber auch technische und Werbeveröffentlichungen haben den Ablauf der verschiedenen Phasen des PMCMV begleitet, um etwa das quantitative Ausmaß des Programms oder auch die Qualität der gebauten Wohnungen und geschaffenen städtischen Räume zu unterstreichen (Marchi, 2015), einem bei vielen brasilianischen Wissenschaftler*innen kritisierten Punkt (Fiori Arantes und Fix, 2014).

Diese für die Unter- und Mittelschicht bestimmten Wohnanlagen kommen als geschlossene und gesicherte Einheiten, von hohen Mauern umgeben, mit Elektrozäunen, mitunter sogar Stacheldraht ((Zur Geschichte und die Bedeutungen des Stacheldrahts, siehe Razac, 2013.)), von bewaffnetem Personal bewacht und mit Videokameras ausgerüstet. Diese Art Lebensraum ist eingehend in den Sozialwissenschaften untersucht worden und bildet eine zentrale Fragestellung in der angelsächsischen radikalen Geografie und im weiteren Sinne in der Sozialgeografie Frankreichs (Dorier und Dario, 2018; Charmes, 2011 ; Madoré und Vuaillat, 2011), aber auch in den Ländern Lateinamerikas, wo es eine umfangreiche wissenschaftliche Literatur zu dieser Frage gibt (Beltrao Esposito und Goes, 2014 ; Pires do Rio Caldeira, 2000). Besonders anzumerken ist, dass viele Studien in jüngerer Zeit dazu in den sog. Ländern des « Südens » unternommen worden sind, in denen tiefgreifende Ungleichheiten vorherrschen : Südafrika, Brasilien, Argentinien, Mexiko … (Suteau, 2010 ; Csefalvay, 2010). Jedoch untersuchen fast alle diese Arbeiten den geschlossenen und gesicherten Lebensraum einer wohlhabenden Bevölkerung, in einigen wenigen Fällen den der mittleren Schichten; und es geht in den allermeisten Fällen, unabhängig von der Region und der jeweiligen Optik, um privilegierte Teile der Bevölkerung (Doktorarbeit von Ricardo Lopes Batista, 2010 ; Blandy, 2015 ; Madoré und Vuaillat, 2011). Hingegen hat sich diese Art von geschlossener und gesicherter Wohnanlage in Brasilien immer mehr auch bei den unteren Schichten verbreitet, mit Gebäuden, die direkt so gebaut worden sind oder solchen, bei denen die Vorrichtungen erst hinterher angebracht worden sind (Sicherung ex post). Unsere Untersuchung mit ihrem Fokus auf den sozialen Wohnungsbau spricht also einen originellen Fall, einen Grenzfall an.

Meistens wird die Wahl des geschlossenen und gesicherten Lebensraumes als von der Angst vor Unsicherheit motiviert vorgestellt, und, bei den Wohlhabenden, als Ausdruck ihres Status und ihres Wunschs nach Distanzierung und Abgrenzung von den Ärmeren. Im Fall Brasiliens entstehen sofort Bilder eines luxuriösen condominio fechado, umgeben von armseligen favelas, wie auf dem berühmten Foto von Tuca Vieira, wo man die räumliche Nähe und den sozialen Kontrast zwischen einer Favela und einem Luxushotel mit seinen Swimmingpools sieht ((Zum Hintergrund für dieses Bild, siehe Théry, 2015.))Dabei existieren die Kontraste auf viel subtileren Ebenen, und man kann seit den 2000er Jahren beobachten, dass die unteren Schichten, nach der Mittelschicht, sich diese Art  Lebensraum angeeignet haben. Was hat sie zu dieser Wahl veranlasst ? A priori, im Hinblick auf die Motivationen der wohlhabenden Schichten, blieben nur die reale Drohung und die Angst. Demgegenüber kommen andere Mechanismen zum Tragen, beispielsweise die Angleichung an ein Modell, das die unteren Schichten für sich übernommen haben wie auch der Wunsch, sich zu unterscheiden, zumal die Grenzen zwischen den sozialen Gruppierungen, die das PMCMV nutzen und denen, die als abschreckendes Beispiel gelten, recht fließend sind. Wir werden hier versuchen, die Faktoren auszumachen, welche die drei Akteure dieses Modell wählen ließen : die öffentliche Hand, der private Bau- und Immobiliensektor und die Bewohner aus einfachen Verhältnissen.

Kasten 3. Methodik und Arbeit vor Ort

Dieser Artikel beruht auf einer Feldstudie im Ballungsraum von Florianópolis (Santa Catarina, Brasilien), während der ich die Wohnanlagen eines Bundesprogramms für sozialen Wohnungsbau besucht habe : das Programm Mein Haus Mein Leben (Programa Minha Casa Minha Vida, abgekürzt PMCMV). Um dieses Studienobjekt einzugrenzen, habe ich Exkursionen zu Fuß unternommen; Passanten, Nachbarn, Gewerbetreibende und Busfahrer befragt ; vor Ort etwa vierzig Wohnanlagen des PMCMV in Augenschein genommen, habe dabei Notizen, Skizzen, Fotos, Unterhaltungen mit den Bewohnern, einem Verwalter und mehreren Wachleuten aufgezeichnet. Ich habe die Werbung zu diesen PMCMV-Wohnanlagen und ihre Namensgebung analysiert. Ich habe mit Angestellten der Rathäuser der vier Gemeinden gesprochen (Referate für Städtebau, Wohnung und Sozialarbeit), mit einer Bundesangestellten der Caixa Econômica und mit Architekten. Diese Untersuchung hat ermöglicht, herauszufinden, wer diese geschlossene und gesicherte Wohnform, die zum Kriterienkatalog des Städteministeriums gehört, gewählt hat und wie es dazu kam. Außerdem konnten die Gründe für die starke Nachfrage nach derartigen geschlossenen und gesicherten Wohnformen für die unteren Schichten ausgearbeitet werden, sowie auch die Beweggründe der öffentlichen Hand und des privaten Baugewerbes, diese Art von Lebensraum vorzuschlagen.

 

1. Low cost gated communities : der an die unteren Schichten angepasste, geschlossene und gesicherte Lebensraum

Die Stadtviertel mit geschlossenen und gesicherten Wohnanlagen, die sich an die unteren Schichten richten, befinden sich eher in den städtischen Randgebieten und sind in der Regel weitläufig, dabei aber auch unterschiedlich groß. Anhand einiger Beispiele von Vierteln können wir ihre groβe Vielfalt illustrieren, auch im Hinblick auf den Grad ihrer Absicherung.

1.1. Die Serienfertigung von Wohnungen, eher in Randgebieten

Das PMCMV ist ein äußerst umfangreiches Programm. Im Jahr 2016 waren im Ballungsraum Florianópolis 77 Wohnanlagen im Bau oder gerade fertig. Sie entsprechen überwiegend der Kategorie 2 (für Haushalte mit einem Monatseinkommen von 1600 bis 3000 Reais), aus verschiedenen Gründen, insbesondere wegen der hohen Bodenpreise in Küstennähe und mehr noch auf der Insel Santa Catarina, dabei waren doch die Haushalte der Kategorie 1 weit mehr von der Wohnungsnot betroffen (Hildebrandt Vera, 2013). Die PMCMV-Wohnanlagen liegen, bis auf einige Ausnahmen, hauptsächlich in den Randgebieten und in den städtischen Zwischenräumen.

Abb. 2. Karte der untersuchten Standorte 

carte de localisation des ensembles résidentiels du programme "Minha Casa Minha Vida" dans l'agglomération de Florianopolis au Brésil

1.2. Großflächige Wohnanlagen

Um die Zielsetzungen (welche realen Bedürfnissen entsprechen) des Programms zu erfüllen, dabei beträchtliche Einsparungen zu erstreben und Produktionskosten zu verringern, sind die PMCMV Wohnanlagen großflächig. Durchschnittlich bieten sie 165 Wohnungen pro Einheit, aber diese Zahl verdeckt große Unterschiede, die kleinsten mit etwa zehn Wohnungen (13 in Jardim Italia, 12 in Firenze), und die größten mit bis zu 470 (Morades de Palhoça II) oder 480 Wohnungen (Alexandre Coelho). Diese Dimensionen haben Konsequenzen für die Praxis der Bewohner, für den sozialen Umgang innerhalb der Anlage wie auch für die Beziehungen der Bewohner zum restlichen Viertel, wie aus den Berichten mehrerer Bewohner hervorgeht, die ich befragt habe. Meistens bestehen solche Wohnanlagen aus im Schnitt etwa einem Dutzend Gebäude, um eine Privatstraße gruppiert, innerhalb eines eingeschlossenen Geländes, zu denen man durch ein großes, von einem Wächter bewachtes Portal gelangt. Alle Behausungen sind Wohnungen in Wohnblocks, mit meist drei oder vier Stockwerken über einer Garage (bei mehr Stockwerken ist ein Aufzug vorgeschrieben), mit Ausnahme der Einheiten Morades de Palhoça II und Morades de Palhoça III, welche aus 380 bzw. 470 Häusern bestehen.

Fotos 1 und 2. Die Baustelle der Wohnanlage Flores da Estação

Ecriteau à l'entrée du chantier de construction de la résidence Flores da Estação annonçant l’édification de pas moins de 736 appartements et d’autant de places de parking. Photographie prise à São José, en mars 2016 par Alice Moret. Chantier de construction de la résidence Flores da Estação. Photographie prise à São José, en mars 2016 par Alice Moret.

Die Baustelle befindet sich am Stadtrand von São José. Das Schild kündigt den Bau von nicht weniger als 736 Wohnungen und ebenso vielen Parkplätzen an. Das zweite Foto lässt die Ausdehnung der Baustelle erahnen. Fotos in São José, März 2016, alle von Alice Moret.

Video 1. Das Video des Bauträgers : 360°-Ansicht der Wohnanlagen

Tour 360º Parque Flores da Estação, São José/SC

1.3. Drei repräsentative Fälle dieser geschlossenen Architektur : Portal do Sol, Campo Bello und Moradas de Palhoça

Die Einheit Portal do Sol repräsentiert eines der Wohnmodelle des PMCMV, in einer einfachen, eher kleinen Ausführung, die sich an die unteren Schichten der Kategorie 2 richtet. Also eher klein, mit nur zwei dreistöckigen Gebäuden über je einer Garage. Sie befindet sich in einem Arbeiterviertel im Norden von Biguaçu, gut erkennbar (es ist der einzige Wohnblock in der Straße), ohne jedoch weiter in seiner Umgebung aufzufallen. Die Umzäunung besteht aus einer Betonwand auf beiden Seiten in vorgeschriebener Höhe (1,80 m) und einem Gitterzaun auf den beiden Straßenseiten für optische Kontinuität. Die Grenze zwischen Innen- und Außenräumen ist deutlich, ohne brutal und monumental zu sein, wie es auf dem Bild unten zu sehen ist, wo man den Kindergarten von der Straße aus einsehen kann. Der Eingang, ein Gittertor für die Autos und eines für die Fußgänger, wird mit Ausweis oder Digicode samt Sprechanlage betätigt. An jedem Gebäudeeingang ist eine zweite Sprechanlage zu finden. Ein Pfortengebäude steht am Eingang, ist aber nie besetzt oder benutzt worden; es ist kein Wachpersonal vor Ort, und es gibt auch keine Videoüberwachung. Die Sicherheitsvorkehrungen erscheinen demnach aus wirtschaftlichen Gründen verringert worden zu sein; die Wohnanlagen für die unteren Schichten, gleichgültig, in welchem Viertel und seiner realen oder gefühlten Kriminalität, besitzen weniger Schließ- und Sicherheitsvorrichtungen als diejenigen, die für die wohlhabenderen Gruppen bestimmt sind. Vor den zwei Gebäuden sind Spielplätze für Kinder und ein Barbecue eingerichtet worden; dieser kleine Gartenbereich wird von den Bewohnern angenommen und täglich genutzt.

Fotos 3 und 4. Zwei Ansichten der Wohnanlage Portal do Sol, von der Straße aus

Vue de la résidence Portal do Sol, depuis la rue. La résidence correspond à deux immeubles verts et blancs. Photographie prise à Ponta de Baixo, Biguaçu, en mars 2016 par Alice Moret.. Vue de la résidence Portal do Sol, depuis la rue. La résidence correspond à deux immeubles verts et blancs. Les jeux pour enfants visibles sur la pelouse au centre de la photo sont très utilisés. Photographie prise à Ponta de Baixo, Biguaçu, en mars 2016 par Alice Moret.

Die Wohnanlage besteht aus den beiden grünweißen Gebäuden. Der Kinderspielplatz mit Rasen wird viel genutzt. Fotos aus Ponta de Baixo, Biguaçu, März 2016.

Die Wohnanlage von Campo Bello ist charakteristisch für das PMCMV im Ballungsgebiet Florianópolis : sie besteht aus einem Dutzend Gebäuden, entlang einer Privatstraße gebaut, man betritt sie durch ein Portal in einer Nebenstraße am Rand des Stadtgebiets. Dort gibt es 513 Wohnungen, die Einfassungsmauer umschließt demnach ein ganzes Viertel mit seiner Hauptstraße samt Nebenstraßen. Für die Geschäfte und kollektiven Einrichtungen sind eigene Bereiche vorgesehen, von denen aber keines bei meinem Besuch im April 2016 geöffnet war. Die Schließ- und Sicherheitsvorrichtungen sind etwas besser zu sehen, zu bemerken ist auch die Anwesenheit des Wachpersonals, das entweder zur Wohnanlage oder zu einem Sicherheitsdienst gehört. Das Ganze ist von 1,80 m hohen Mauern umgeben, der gesetzlich vorgeschriebenen Mindesthöhe.

Fotos 5 und 6. Die Wohnanlage Villagio Campo Bello

Vue d'ensemble de la résidence Villagio Campo Bello depuis un détour de la rue qui y mène. Photographie prise à Fundos, Biguaçu, en mars 2016 par Alice Moret.  Aperçu de la résidence Villagio Campo Bello depuis l’entrée du quartier. Photographie prise à Fundos, Biguaçu en mars 2016 par Alice Moret.
Gesamtansicht der Wohnanlage Villagio Campo Bello, von einer der Zufahrtstraßen aus, und ein Ausblick auf den Eingang zum Viertel. Fotos aus Fundos, Biguaçu, März 2016.

Die beiden Wohnanlagen Moradas de Palhoça unterscheiden sich sehr von diesem klassischen Modell. Man muss erst einmal lange Busfahrten hinter sich bringen (mindestens drei verschiedene Buslinien vom zentralen Busbahnhof von Florianópolis aus), denn sie liegen am Ende des Viertels Terra Nova, in einer nicht urbanisierten Zone, ohne andere Gebäude im Herbst 2016. Diese beiden Einheiten Moradas de Palhoça II und Moradas de Palhoça III beherbergen 470 bzw. 380 Häuser. Zugang haben nur die Bewohner und ihre Gäste, und der Eintritt wird von zwei bewaffneten Sicherheitspersonen in den Pfortenhäusern an den Eingängen überwacht : ein Portal für die Autos der Bewohner, eines für die der Gäste und eines für Fußgänger, welche alle mit einem Ausweis betätigt werden. Jedes dieser Viertel ist von einer Mauer umgeben (2 m Beton auf den Seiten, 1 m Beton mit 0,80 m Sichtglas darüber nach vorn), und über das Ganze ein 1 m hoher Elektrozaun. Alles mit Videoüberwachung. Innen zwei vollständige Viertel, ausschließlich zum Wohnen, mit dem gleichen, hunderte von Malen wiederholten Hausmodell (Zwei-Zimmer-Häuser in Moradas de Palhoça II und Drei-Zimmer-Häuser in Moradas de Palhoça III).

Fotos 7, 8 und 9. Die Wohnanlagen Moradas de Palhoça

Les ensembles résidentiels Moradas de Palhoça: L’entrée des résidences Moradas de Palhoça II et Moradas de Palhoça III (chacune correspond à un portique), où l’on peut distinguer les guérites des vigiles, les différents portails et, derrière, les toits en tuile des centaines de maisons qui s’alignent à l’intérieur. Un petit écriteau bleu signale l’arrêt de bus. Photographie prise aux confins de Palhoça, en avril 2016, par Alice Moret.L’entrée des résidences Moradas de Palhoça II et Moradas de Palhoça III, où l’on peut distinguer les guérites des vigiles, les différents portails et, derrière, les toits en tuile des centaines de maisons qui s’alignent à l’intérieur. Photographie prise aux confins de Palhoça, en avril 2016, par Alice Moret. L’entrée des résidences Moradas de Palhoça II et Moradas de Palhoça III (chacune correspond à un portique), où l’on peut distinguer les guérites des vigiles, les différents portails et, derrière, les toits en tuile des centaines de maisons qui s’alignent à l’intérieur. Photographie prise aux confins de Palhoça, en avril 2016, par Alice Moret.

Der Eingang zu den Wohnanlagen  Moradas de Palhoça II und Moradas de Palhoça III (jede mit ihrem eigenen Portal) ; man erkennt die Pfortenhäuser (unter dem weißen Dach, mit getöntem Glas) der Wachleute, die verschiedenen Portale und dahinter die Ziegeldächer  der mehreren hundert Wohnhäuser, die sich innen aneinanderreihen. Ein kleines blaues Schild markiert die Bushaltestelle. Fotos in Palhoça, April 2016.

Das Programm brachte sehr standardisierte architektonische und städtebauliche Formen hervor, die sogar außerhalb des PMCMV vom privaten Bausektor für einfache Wohnungen übernommen worden sind ((Lopes Batista, 2014 ; Beobachtungen in São José April 2016.)), da dieses Modell sehr rentabel und dabei auch bei den Zielgruppen sehr beliebt ist.

2. Die Beweggründe für die Wahl dieser Wohnform : geschlossener und gesicherter Lebensraum für die unteren Schichten

Bei der öffentlichen Hand und der Baubranche hat sich heute der Bau von geschlossenen und gesicherten Wohnanlagen durchgesetzt, nachdem er anfangs als Antwort auf die soziale Nachfrage präsentiert worden war. Von Seiten der Bewohner besteht diese Nachfrage wirklich, und sie entspricht dem Bedürfnis, sich mit den besser gestellten Schichten zu identifizieren und sich auch von den weniger begünstigten Schichten abzugrenzen.

2.1. Von Seiten der öffentlichen Hand

Normalerweise werden die Pläne von der Baufirma vorgelegt, die  die Auflagen des Stadtministeriums zu erfüllen hat. Der Fall der Projekte im Rahmen der Kategorie 1 der Stadtgemeinde von Florianópolis ist ein Sonderfall insofern, als die Pläne von einer Architektin des Rathauses angefertigt wurden. Sie sind bedingt durch die Grundstückgröße, durch die Notwendigkeit, billig zu bauen und durch die Auflagen. Es war die öffentliche Hand, welche die Entscheidung traf, im Rahmen des PMCMV Wohnungen im Stil der condominios fechados zu bauen, da das Stadtministerium für die ersten drei Phasen des Programms Verordnungen in diesem Sinne erlassen hatte (vorgeschriebene Einrichtung einer Videoüberwachung, mindestens 1,80 m hohe Mauer, elektrisches Eingangsportal mit Wechselsprechanlage …). Die Auflagen für die vierte Phase des Projekts (Ende 2016 begonnen) haben diese Bestimmungen überholt und dagegen eine bessere Integration der Wohnanlage in Straße und Viertel gefordert ((Quelle: Interviews mit dem Architekten des Rathauses von Florianópolis und mit einer Angestellten des Referats für Stadtplanung im Rathaus.)). Mehrere Abteilungen des Rathauses, zumal die für den Städtebau zuständigen und die Bundessparkasse kommen ebenfalls ins Spiel. Der Fall Florianópolis hebt sich da ab : der Architekt des Rathauses hatte zunächst offene Wohnanlagen für beide Kategorien 1 und 2 entworfen, bevor er den Auflagen folgen und seine Entwürfe überarbeiten musste.

Für die öffentliche Hand deckt die Wahl dieser geschlossenen und gesicherten Wohnanlage mehrere Aspekte ab : erstens einmal den Willen, der Unsicherheit der Bewohner zu begegnen, zumal, statistisch gesehen, die unteren Schichten am ehesten Opfer von Diebstahl und Einbruch sind (Pires do Rio Caldeira, 2000). Sie möchte ebenfalls die Nachfrage befriedigen und den Zugang zu einer Dienstleistung demokratisieren (Beltrao Esposito und Goes, 2014), dies dabei paradoxerweise dem Privatsektor überlassend (die Wachleute sind manchmal Angestellte der Wohnanlage, aber in den meisten Fällen Angestellte von Sicherheitsfirmen, oft sehr großen). Einige brasilianische Forscher (Ricardo Lopez Batista, 2015) haben die Hypothese aufgestellt, dass es sich hier um ein Mittel handelt, die unteren Schichten zu überwachen und kontrollieren, dass die Mauern eher zum Schutz der Auβenwelt da seien. Diese Hypothese hat keinen Bestand im Ballungsgebiet Florianópolis, dort beläuft sich das Hauptargument darauf, das Recht auf Schutz auszudehnen, bisher ein Privileg der Reichen in ihren condominios fechados, wo man die Bewohner vor den Armen drauβen zu schützen habe (Pires do Rio Caldeira, 2000). Vor allem besteht der Hauptgrund für die öffentliche Hand darin, diese Einrichtungen zu banalisieren und sozusagen einzubürgern (Pires do Rio Caldeira, 1996) : die geschlossene und gesicherte Wohnanlage wird so oft wiederholt und ist so allgegenwärtig, dass sie zur Normalform für die Beteiligten geworden ist, die sich nichts anderes mehr vorstellen können, dass es quasi eine natürliche Gegebenheit ist, so dass niemand sich die Frage stellt, ob man zwischen einem geschlossenen oder einem etwas offeneren Lebensraum wählen könnte, ja, dass die Schließ- und Sicherungseinrichtungen selbstverständlich geworden sind.                                                                              

Foto 10. Die Banalisierung der Mauern

L’enceinte, bien plus haute que la norme, en béton nu, de la résidence Villas do Arvoredo et l’enceinte d’une maison particulière voisine. Photographie prise à São José, en mars 2016.

Ein Bild zur Banalisierung der Mauern im brasilianischen Stadtbild. Die Umfassungsmauer aus nacktem Beton, weit höher als die Norm, der Villas do Arvoredo und die Umfassungsmauer eines benachbarten Einzelhauses. Foto aus São José, März 2016.
 

2.2. Von Seiten der privaten Bau- und Immobilienbranche

Die Bauträger und Architekten betonen, dass es um die Erfüllung einer Nachfrage der unteren Schichten gehe, sowie um die Demokratisierung eines Privilegs. Die Untersuchung der Werbung für diese Wohnungen des PMCMV (siehe Auszug unten) erhellt die Werte, die die Diskussion bestimmen : Privateigentum, Sicherheit, Schutz der Privatsphäre (im Sinne der Rückeroberung eines abgeschirmten Privatlebens, vgl. Kasten 4). Hinzukommt, dass die Ausarbeitung der Pläne den vorherrschenden Gewohnheiten und Modellen folgen kann, die auf Miteigentum (condominio) und Schließ- und Sicherheitsvorrichtungen (Elektrozäune, Mauern und Videoüberwachung, bewaffnetes Wachpersonal …) basieren. Wie bei der öffentlichen Hand beobachtet man die allgemeine Übernahme des geschlossenen und gesicherten Modells als gültige Standardform der Architektur. Andererseits sind Kompensationsstrategien zu bemerken : der Status der Miteigentümerschaft ermöglicht es, städtische und bundesweite Gesetzesvorschriften zur Mindestfläche eines Immobilienprojekts zu umgehen, da man die  Gemeinschaftsflächen miteinrechnen kann (Marchi, 2015 ; Interviews). Das Unternehmen kann dann mehr Wohneinheiten auf der gleichen Fläche bauen und damit mehr Profit machen. Die Baufirmen sind umso mehr an solchen Mechanismen interessiert, als der Verkaufspreis dieser Wohnungen im PMCMV festgeschrieben ist und ihre Profitmarge oft unter ihren Erwartungen liegt, trotz der Wahl von Randlagen, vereinfachten Formen, Standardisierung und industrieller Fertigung der Wohneinheiten. Die Immobilienfirmen können ein condominio fechado auch als Entschädigung für die Nachteile wie nicht sehr widerstandsfähige Materialien, enge oder vereinfachte architektonische Formen und eine vom Zentrum entfernte Wohnlage vorschlagen.

Video 2. Werbeclip der Baufirma Sandford für die Wohnanlage Privilege Tower

Privilege Tower Residence 

Zum Original

>>> Von derselben Autorin ist ein weiterer Artikel zu lesen : «  Une "gated community low cost" au Brésil : le logement social, du droit à la ville à la distinction sociale ? », in « image à la une » von Géoconfluences, April 2018 (auf Französisch). 

 

2.3. Von Seiten der Bewohner

Im Fall des PMCMV haben die Bewohner nicht ausdrücklich die Abgeschlossenheit verlangt, welche vom Städteministerium und den Architekten eines jeden Projekts beschlossen worden war. Trotzdem kann man davon ausgehen, dass diese Wahl von einem Großteil der Bewohner befürwortet worden ist : alle Befragten haben ihre Zufriedenheit und Stolz erklärt und man kann in ganz Brasilien eine starke Nachfrage der unteren Schichten nach dieser Art Lebensraum beobachten, wie es aus der Studie von Ricardo Lopes Batista (2015) hervorgeht. In der Übernahme von  für die wohlhabenderen Schichten erfundenen Wohnmodellen kann man eine Reproduktion ihrer Verhaltensweisen oder einen imitierenden Dominoeffekt mit dem Umweg über die mittleren Schichten erkennen (Pires do Rio Caldeira, 1996), mit der Absicht, sich mit einem Image sozial abzusetzen, das in der kollektiven Vorstellungswelt immer noch den Eliten vorbehalten ist. Die Werbung spricht diese Saiten an, indem sie eine Höherstufung vorschlägt und dies mit einem gewissen wirtschaftlichen und sozialen Erfolg verbindet, mit einer sozialen Differenzierung (Bourdieu, 1979).  Zum Beispiel greift die Anlage Max Village genau die Eigenschaften der Luxuseigentumswohnungen (condominio) auf (Außenverglasung, Sicherheitspersonal am Ort, Swimmingpool). Die Bewohner, die diese Wohnanlagen für ihren Lebensraum aussuchen oder ihre Zufriedenheit damit ausdrücken, verinnerlichen damit auch eine Art zu wohnen und zu leben und sogar Gefühle und Reflexe, die von diesen wohlhabenderen Kategorien stammen. In der Tat sind Status- und Unsicherheitsfragen aufs engste miteinander verquickt, sodass die Angst eine Erscheinung von sozialem Status sein kann (Pires do Rio Caldeira und Holston, 1999 ; Damer und Hartshorne, 1991). Die Vereinigung Reichtum – Angst vor Unsicherheit unterstützt die verbreitete Vorstellung, nach der die wohlhabenden Gruppen eher Opfer von zumal gewalttätiger Verletzung des Eigentumsrechts seien (was statistisch gesehen falsch ist) (Zaluar,1998) ; sie geht zurück auf die historischen und ökonomischen Entstehungsbedingungen des geschlossenen Wohnmodells (Peralva, 1998; Pires do Rio Caldeira, 2000). Dessen Übernahme kann eine Art und Weise sein, sich durch die Angst zu unterscheiden, Gefühle von Reichen zu haben. Diese Mechanismen kommen zu den rein sicherheitsbezogenen Anliegen.

Foto 11. Die Wohnanlage Max Village

Photographie de la résidence Max Village, parée de tous les codes du condominio de luxe : piscine, palmiers, climatisation, vitres plutôt que murs, grand nombre d’étages permis par la présence d’ascenseurs, personnel de sécurité embauché directement par la résidence, parking, proximité d’un centre commercial immense et réputé… Photographie prise depuis la rue, à São José, en avril 2016.

Die Architekten der Wohnanlage Max Village haben sie mit allen Codes der Luxusresidenz ausgestattet : Swimmingpool, Palmen, Klimaanlage, Glasfronten statt Mauern, mehr Stockwerke durch den Einbau von Aufzügen, von der Wohnanlage direkt eingestelltes Sicherheitspersonal, Parkplätze, Nähe zu einem riesigen und bekannten Einkaufszentrum … Foto von der Straße aus in São José, April 2016.

Die Wohngewohnheiten der wohlhabenden Schichten gelten als die Norm, als anzustrebendes Idealmodell ebenso wie als Regelfall. Da dieses Modell von allen sozialen Schichten und der öffentlichen Hand angenommen worden ist, ist die geschlossene und gesicherte Form durch die Wiederholung und Banalisierung in der Stadtlandschaft « natürlich » geworden. Diese Art zu wohnen verbindet sich mit der vorherrschenden Kultur, und ein Teil der unteren Schichten mag sich dies auf der Suche nach Anerkennung angeeignet haben, gemäß der Analyse dieser Mechanismen von Pierre Bourdieu (1979). Nach Marcio Marchi impliziert die Wahl dieses Wohnmodells « eine Verbreitung der Modelle und kulturellen Wertsysteme, welche von allen sozialen Schichten mit den Privaträumen assoziiert werden » (Marchi, 2015). Wird solch ein Modell erst einmal naturalisiert, dh. als gegeben angesehen, ist es nicht mehr nur das der Wohlhabenden, dem man nachzustreben hätte, sondern das einzig mögliche und legitime.

Es geht nicht nur darum, sich abzusetzen, indem man sich den Reichen annähert, sondern auch darum, im Raum, in der Diskussion und in der Praxis des Wohnens seine soziale Distanz zu den Ärmeren zu zeigen. Zwei Ziele werden dabei verfolgt : sich einerseits vor einer als Bedrohung wahrgenommenen Bevölkerung zu schützen, da in Brasilien oft Armut mit Kriminalität in Verbindung gebracht wird, wobei die Kriminalität in Florianópolis als weit weniger stark empfunden wird als anderswo im Land, und andererseits die Trennung und damit Distanz zwischen « ihnen » und « uns » zu zeigen. Diese Botschaft der Ablehnung richtet sich an die ärmeren, aber auch an die mittleren und wohlhabenden Schichten: die Abgeschlossenheit beweist, dass man kein « Bandit » ist, weil man sich ja vor diesem schützen muss. Je geringer der soziale Abstand zwischen « ihnen » und « uns » ist, desto nötiger ist es, die Grenze zu markieren und öffentlich zur Schau zu stellen, daher ein verstärktes Schließsystem an sehr einfachen Wohnungen, wobei dieser Posten proportional stark erhöhte Kosten verursacht. Das Schließsystem ist auch eine Frage sichtbarer, sensorischer Trennwände, ein Punkt, auf den die brasilianischen Unterschichten und besonders die Bewohner des PMCMV sehr empfindlich reagieren, da sie in der Regel aus Armenvierteln mit hoher Bevölkerungsdichte kommen. Der Einzug in eine PMCMV-Wohnung führt zu einem Bruch mit dieser Erfahrung (die mit dem Haus in Verbindung gebracht wird) ; die « Privatheit » wird zur Hauptsache, paradoxerweise wird sie mit dem Wohnblock assoziiert, zu dem man nur über den Immobilienmarkt Zugang erhält. So entkommt man einer sozialen Kontrolle – indem man sie gegen eine andere eintauscht – und gewissen praktischen Belästigungen. Es entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem Verborgenen, dem Sichtbaren, dem Gezeigten; ein Thema, das die sehr positive Wahrnehmung der Schließvorrichtungen durch die Bewohner erklärt. Die Abschirmung erlaubt es, ein wertgeschätztes Privatleben hinter der Abgrenzung zu signalisieren, streng von der Straße und dem abgewerteten öffentlichen Raum getrennt, und ist damit auch Demonstration von sozialem Status.

Foto 12. Die Wohnanlage Luci Berkembrock

La résidence Luci Berkembrock telle qu’on la perçoit depuis la rue : un grand mur aveugle pour manifester que la vie privée est cachée derrière. Photographie prise à hauteur de vue, à São José, en mars 2016.

Die Wohnanlage Luci Berkembrock, wie man sie von der Straße aus wahrnimmt : eine hohe, geschlossene Mauer, welche demonstriert, dass das Privatleben sich dahinter verbirgt. Foto auf Sichthöhe in São José, März 2016.

Kasten 4. « Privatheit » gegen dichtes Zusammenleben

« Weißt du, ich wohne auf den Morros : alle kennen mein Leben in- und auswendig, und ich weiß alles über alle. » Mit diesen Worten hat eine junge Frau im Bus von Caeira do Saco dos Limoes im Gespräch mit ihrer Sitznachbarin lachend das dichte Zusammenleben beschrieben, das den Alltag in den meisten Armenvierteln Brasiliens charakterisiert. Der morro bezeichnet ursprünglich einen steilen Hügel, ähnlich den von Erosion geschliffenen karibischen Vulkankegeln, heute in übertragener Bedeutung die mit oder ohne Regeln selbstgebauten Armenviertel. Die Bewohner des Ballungsgebiets Florianópolis bevorzugen den Euphemismus morro vor dem stark geprägten Ausdruck favela. Die von den Bewohnern dieser Viertel erwähnte hohe Bevölkerungsdichte kann aus der häufigen Belegung eines Hauses durch mehrere Paare oder Generationen resultieren, kann auch an den verwendeten Baumaterialien dort (Holz und Wellblech) liegen, an der Anordnung der Behausungen und der Grundstücksfläche, an den unterdimensionierten Wohnungen, an der Topografie der Hügel, die wie Amphitheater den Lärm verstärken ; die Beengtheit des Wohnens wird nicht nur sensorisch empfunden, sondern entspringt auch einer spezifischen Sozialisation, wo die Nachbarschaft eine große Rolle spielt, Hilfestellung leistet und Solidarität bietet, aber auch eine soziale Kontrolle auferlegt.

Der Einzug in eine Wohnung des PMCMV bricht mit dieser Erfahrung der Beengtheit, in einem Kontext, wo die Trennung zwischen dem aufgewerteten privatem (casa, das Haus) und abgewertetem öffentlichem (rua, die Straße) Raum sehr wichtig ist (Pires do Rio Caldeira, 2000). Gegenüber den morros unterstreichen Werbeanzeigen, Immobilienfirmen und die Bevölkerung mit Zugang zu (wenn auch nur etwas) gehobeneren Wohnungen alle die « Privatheit » (privacidade, privacy) für die Besitzer dieser Wohnanlagen, besonders in den condominios fechados. Der englischsprachige Ausdruck für « Privatheit » (privacy) hat zuerst in der Soziologie Fuß gefasst ; er bezeichnet die Forderung nach Intimität und die Bedeutung des Privatlebens, im privaten Raum. Einige Bewohner, oft schon mit dem Leben in einem Wohnblock und der Abtrennung der Privatsphäre vertraut, beschweren sich manchmal über das Verhalten derer, die nicht daran gewöhnt sind und dementsprechend « zu lernen haben » (Gespräche mit Bewohnern in Biguaçu). In einer Wohnung leben wird so mit der Existenz einer Privatsphäre in Verbindung gebracht, die man sich erstens einmal leisten kann, denn man erhält sie nur über den Immobilienmarkt (im Gegensatz zu den selbstgebauten Häusern), und für die man zweitens die Mittel zu Instandhaltung und Abgrenzung möglichst weit weg von der öffentlichen Sphäre besitzt. Dieses Element kann auch teilweise die sehr positive Einschätzung der Schließvorrichtungen durch die Bewohner erklären ; sie fühlen sich vor den Blicken der Passanten und dem Lärm der anderen Bewohner geschützt ; die Mauern garantieren materiell die Trennung zwischen privatem und öffentlichem Raum.

 

Schlussfolgerung

Zu den Motiven, welche die unteren Schichten dazu führen, die geschlossene und gesicherte Wohnform anzunehmen – und sie dabei anzupassen und zu verändern – gehört ganz gewiss die Demonstration eines sozialen Status, gegenüber den Wohlhabenderen (Legitimitätssuche und Nachahmung) ebenso wie gegenüber den Ärmeren (Abstandhalten, um sich zu beruhigen) ; die gleiche Logik wiederholt sich mit Dominoeffekt. Häufig werden die Angst vor Unsicherheit und die Abgrenzung als zwei sich gegenseitig ausschließende Aspekte bei der Wahl dieser Wohnform angesehen. Dahingegen zeigt der Fall von Florianópolis einerseits, dass die Angst auch der Ausdruck eines gewissen Status und Zeichen einer sozialen Zugehörigkeit ist, und andererseits kann die Berücksichtigung der Abgrenzung Ausdruck einer Angst sein, diesmal Angst vor wirtschaftlicher Unsicherheit, Angst vor Herabstufung (Roche, 1998), Angst, in einer zutiefst ungleichen Gesellschaft auf der falschen Seite zu stehen. Für alle Akteure, die die Wohnungen im Rahmen des PMCMV entwerfen und verwirklichen, und auch alle vor Ort Angesprochenen steht als entscheidender Faktor ganz klar die Banalisierung dieser Form, ihre « Naturgegebenheit » innerhalb der gesamten brasilianischen Gesellschaft.

Fußnoten

Bibliografie

 

 

Alice MORET,
Studentin der Geographie, ENS de Lyon.

aus dem Französischen übersetzt von Charlotte MUSSELWHITE-SCHWEITZER
Korrektur gelesen von Anne-Claire BOURON

 

Webbearbeitung : Cécilia Fernandez

Pour citer cette ressource :

Alice Moret, Der soziale Wohnungsbau in Florianópolis (Brasilien) : low cost gated communities ?, La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), avril 2022. Consulté le 08/12/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/civilisation/civilisation/la-ville/der-soziale-wohnungsbau-in-florianopolis-brasilien-low-cost-gated-communities