"Schein ist mein Lebensthema": der Maler Gerhard Richter
Gerhard Richter. Er gilt heute als der gefragteste und bekannteste deutsche Künstler. Für den britischen Guardian ist Gerhard Richter der "Picasso des 21. Jahrhunderts", für die Frankfurter Allgemeine Zeitung der "Meister aller Klassen" (Wild, "Stil ist Gewalttat", in: Spiegel am 19.01.2008). Gerhard Richter ist aber genauso ein zurückhaltender, öffentlichkeitsscheuer und schweigsamer Weltstar.
Richter sind in den letzten Jahren parallel etliche Ausstellungen gewidmet worden: 2002 die größte je einem lebenden Künstler gewidmete Retrospektive im Museum of Modern Art in New York, 2004 im Kunstmuseum Bonn, 2008 im National Art Museum of China in Peking, 2009 in der National Portrait Gallery in London und zeitgleich im Haus der Kunst in München.
Auch in Frankreich konnte man 2009 den deutschen Maler in einer Einzelausstellung bewundern: Das Musée de Grenoble hat die sich in Frankreich befindenden Werke des Künstlers zusammengetragen und somit eine Ausstellung mit dem Titel "Richter en France" präsentiert.
Bekannt wurde Gerhard Richter in den 1960er Jahren vor allem mit fotorealistischen Gemälden, doch gehören zu seinem komplexen und vielgestaltigem Oeuvre auch monochrome und abstrakte Bilder, Druckgraphik, Glasarbeiten und Skulpturen. 2004 hat Gerhard Richter aufgrund seiner Gestaltung des Domfensters im Kölner Dom in öffentlichen Diskussionen auf sich aufmerksam gemacht.
Begreift man mit Ernst H. Gombrich die Kunstgeschichte als eine Künstlergeschichte (Gombrich, 2001, S. 15), so weckt die Nennung einiger markanter Namen dennoch die Erinnerung an bestimme Kunstwerke: Was für Leonardo die Mona Lisa oder für Vincent van Gogh die Sonnenblumen sind, entspricht in diesem Sinne der Marylin bei Andy Warhol. Bei der Nennung des Namens Gerhard Richter sind es - bei allen individuellen Unterschieden - sicherlich Betty, Ema, 48 Porträts, die Kerzen und nicht zuletzt die Oktober-Bilder, die vor dem imaginären Auge erscheinen (Gronert, 2006, S. 41). Was an dieser Aufzählung populärer Bilder auffällig ist, ist die große Anzahl von Figurendarstellungen, die sich im kollektiven Gedächtnis abgespeichert hat. Zwar sind diese Bilder bekannt, doch weiß man meist wenig über ihre Entstehung und ihren Kontext.
Dieser Artikel möchte einige Werke Gerhard Richters seiner mittlerweile fast 50 Jahre währenden Karriere vorstellen. Obwohl er in verschiedenen Medien arbeitet, steht doch die Malerei im Mittelpunkt seines Werkes. Schon allein in diesem Medium hat er eine gewaltige Produktion und Bandbreite geschaffen, dass jede Beschäftigung mit seinem Oeuvre selektiv und partiell sein muss. Die vorliegende Arbeit wird sich hauptsächlich auf Richters Malerei beschränken und sich innerhalb dieser auf die Figurendarstellungen bzw. Porträts des Künstlers konzentrieren.
1. Zum Porträt
Die traditionelle Porträtkonzeption ging über Jahrhunderte hinweg davon aus, dass ein Porträt als Abbild nicht nur eine äußere Ähnlichkeit und den gesellschaftlichen Stand eines Individuums zu repräsentieren hat, sondern auch die Seele oder den Charakter des zu Porträtierenden zum Ausdruck bringen soll, um somit eine Deutung seiner Persönlichkeit vorzunehmen. Gottfried Boehm sieht dementsprechend die historische Aufgabe dieser bildnerischen Gattung darin, "im Äußeren der menschlichen Figur etwas von ihrem Inneren, den personalen Kern zu verbildlichen" (Boehm, 1985, S. 25).
Um diese "klassische" Definition eines Porträts zu veranschaulichen, sei hier das berühmte Bildnis von Johann Joachim Winckelmann angeführt, das Anton von Maron 1768 gemalt hat. Hubertus Butin beschreibt das Gemälde folgendermaßen: Winckelmann sitzt arbeitend an seinem Schreibtisch und hat sich uns zugewandt. Das hoheitsvolle Rot seines seidigen Mantels und der wertvolle Pelz können als Zeichen des ökonomischen und gesellschaftlichen Erfolgs gelesen werden. Dass sich der Gelehrte der Erschließung und Kategorisierung der antiken Kunst gewidmet hat, zeigen die vor ihm liegende grafische Darstellung einer antiken Skulptur und die Homer-Büste am rechten Bildrand. Um neben dieser gesellschaftlichen Position auch das Innere der Person anschaulich zu machen, erscheint das Gesicht Winckelmanns besonders sensibel und seine Augen klar, um ein seinem Beruf entsprechend großes Einfühlungsvermögen zu suggerieren (Butin, 2007, S. 19).
Diese Selbstgewissheit der künstlerischen Aufgabe hat sich spätestens in den 1960er Jahren des 20. Jahrhunderts aufgelöst. Künstler und Künstlerinnen zielen seither auf die Darstellung ausdrücklich konstruierter, manipulierter oder gar wechselnder Identitäten. Von daher kommt es nicht von ungefähr, wenn Gerhard Richter bei der notwendigen Reflexion der bildnerischen Gattung des Porträts, seiner Funktion und seiner Geschichte 1966 eine antagonistische Auffassung zur traditionellen Porträtkonzeption formulierte:
Ich glaube, dass ein Maler das Modell gar nicht sehen und kennen muss, dass nichts von der Seele, dem Wesen, dem Charakter des Modells zum Ausdruck gebracht werden soll. Ein Maler soll ein Modell auch nicht in einer bestimmten persönlichen Weise sehen [...]. (Obrist, 1993, S. 52)
Diese Bemerkung aus dem Jahr 1966 verdeutlicht Richters Überzeugung, dass ein Porträt lediglich und bestenfalls eine Ähnlichkeit sein kann: eine Aufzeichnung einer äußeren Erscheinung. Aus seiner Sicht ist das Innenleben eines Modells - seine Gedanken, Gefühle, Persönlichkeit und Erfahrungen - verborgen, unerreichbar und jenseits der Darstellbarkeit, selbst wenn die Person dem Künstler bekannt ist. Aus diesem Grund genügt eine Fotografie als Dokument der äußeren Erscheinung eines Individuums für den Zweck des Porträtierens. Diese Überzeugung klärt darüber auf, warum Richter bis 1966 ebenso auf Fotos ihm bekannter Personen wie auf in den Medien verbreitete Bilder ihm nicht vertrauter Einzelner zurückgriff.
1.1 Das Porträt im Werk von Gerhard Richter
Gerhard Richters Porträts laden ein zur kritischen Betrachtung sowohl des Genres Porträt als auch der Malerei. Wie Paul Moorhouse treffend formuliert, ist Richters Beschäftigung mit dem Genre Porträt alles andere als "konventionell". Im übertragenen Sinn lässt sich Richters gesamtes Werk als Porträt betrachten. Moorhouse behauptet weiterhin, er halte die Reaktionen Richters auf so gut wie jede denkbare Facette des Lebens und Daseins für eine bemerkenswerte Darstellung des Antlitzes der Welt. Seine Gemälde, ob gegenständlich oder abstrakt, machen uns bekannt mit einer Erscheinungsoberfläche, deren Verhältnis zu einer darunter liegenden Wirklichkeit wir ständig zu erwägen aufgefordert sind (Moorhouse, 2009, S. 9).
Im Werk Richters sind mit "Porträts" all jene Gemälde gemeint, die eine potenziell identifizierbare Figur (oder mehrere) in den Mittelpunkt der Darstellung rücken. Ob die Figuren nun jeweils wirklich im Sinne einer Identifikation erkennbar sind, dies ist schon eine weitergehende Frage, welche die Zuordnung zu dieser Gattung zunächst nicht beeinträchtigen soll.
Richter hat beinahe keine Kategorie der Gattung des Porträts ausgelassen. So finden sich in seinem Werk Ganzfiguren (zum Beispiel Ema), Dreiviertel-, wie auch Halbfiguren-Ansichten bzw. Brustbilder oder die Konzentration auf den Kopf. Man kann zwischen Einzel- und Mehrfiguren- bzw. Gruppenporträts sowie Selbstbildnissen unterscheiden. Gerhard Richter zeigt das Gesicht der Portraitierten in einigen Gemälden in der Frontal-, ein anderes Mal in Dreiviertelansicht, im Profil (Lesende) oder vom Betrachter abgewandt von hinten (Betty). Außerdem deckt Richter auch systematisch alle Kategorien von Porträtbildern ab. Mit dem Bildnis des Kurfürsten Philipp Wilhelm zitiert er ein Historienporträt aus dem 18. Jahrhundert, mit 48 Porträts Foto-Porträts aus dem Lexikon, mit Familie Schmidt ein typisches Familienporträt fürs private Album, mit Onkel Rudi ein ebensolches, das dann aber mit spezifisch deutscher Nazi-Geschichte aufgeladen ist und damit um eine wichtige Porträt-Facette bereichert wird (Spieler/Gelshorn, 2005, S. 14).
Hubertus Butin hat festgestellt, dass Richter sowohl die zentralen modernen Paradigmen bildlicher Darstellung wie auch die Möglichkeit der traditionellen Gattungen in seinem Werk auf künstlerische Weise reflektiert (Gronert, 2006, S. 69).
Laut Gronert darf man diese Feststellung aufgrund der im Resultat nahezu enzyklopädischen Vorgehensweise Richters entsprechend, auf die einzelne Gattung, in diesem Fall also die Porträtdarstellung, übertragen.
Da die meisten im Folgenden vorgestellten Porträts eine Fotografie als Vorlage haben, wird im nächsten Kapitel genauer auf dieses Verfahren eingegangen.
1.2 Die Fotobilder
Richter hat den Moment beschrieben, als er erstmals eine Fotografie als Bildquelle benutzte:
Mein erstes Fotobild? Ich malte damals von [Winfred] Gaul beeinflusste großflächige Lackbilder. Eines Tages kam mir ein Foto von Brigitte Bardot zwischen die Finger, und ich malte sie in Grau in eines dieser Bilder hinein. (Obrist, 1993, S. 18).
Aus diesem Bericht wird deutlich, welche große Rolle der Zufall für die Verwendung von Fotos spielte. Richter erkannte schnell, welche Möglichkeiten ihm die Einführung der Fotografie in den Bereich der Malerei bot.
Die Nutzung von Bildern aus den Medien hat deutliche Affinitäten zur Pop Art. In den USA und Großbritannien eigneten sich Künstler wie Andy Warhol, Roy Lichtenstein, Richard Hamilton und andere ebenfalls fotografische Bilder aus den Massenmedien an.
Doch im Unterschied zu dieser Imitation der massenmedialen Welt erscheint Richters Beschäftigung mit den Medien verhaltener und eher dem privaten Alltag zugewandt. Die Vorlagen aus den Massenmedien bei Richter sind höchst selten auf populäre Figuren fokussiert. Es handelt sich hier eher um das Gegenteil einer Form der Pop Art, bei der Andy Warhol seine Aktivitäten in großer Radikalität bis zur Aufhebung der Kunst ins High Society-Leben führt.
Doch bei Fotografien als Vorlage stellt sich die Frage, wo die für Richter typische Unschärfe in seinen Bildern herkommt. Auf die Frage, ob die meisten Fotos nicht meist scharf konturiert waren, antwortet Richter:
Jein, die Amateurfotos waren früher viel unperfekter als heute, viel häufiger verwackelt und unscharf. Das gab den Fotos etwas Authentisches und Typisches, das ich dann sehr gerne für die gemalten Bilder übernahm. Das Ergebnis waren Bilder, die Realität auf andere als die gewohnte Weise zeigten.... (Karcher, 2009, "Ach so, das war die sexuelle Befreiung", in: SZ am 15.03.2009)
Die Unschärfe als spezifischer Darstellungsmodus kann in seinen Bildern allgemein als Paradigma eines fundamentalen Erkenntniszweifels aufgefasst werden. Denn darstellbar ist für Richter nur der bloße "Schein der Realität" (Storr, 2009, S. 297), wie er es selbst nennt. 1972 meinte er in einem Interview:
Ich misstraue nicht der Realität, von der ich ja so gut wie gar nichts weiß, sondern dem Bild von Realität, das uns unsere Sinne vermitteln und das unvollkommen ist, beschränkt. (Obrist, 1993, S. 69)
Hier umreißt Richter ein zentrales philosophisches Problem, das der Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) analytisch ausgiebig ergründet hat. Im Wesentlichen besteht das Problem, auf das Richter hinweist, darin, dass die Realität indirekt erfahren wird. Dieses Phänomen, nämlich die Beziehung des Individuums zur Realität, ist ein Kernpunkt in Richters Kunst. Die Beschäftigung mit der Dichotomie zwischen der Welt, wie sie ist und wie sie wahrgenommen wird, zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk (Moorhouse, 2009, S. 34). Eine spätere Äußerung verdeutlicht dies:
Illusion - besser Anschein ist mein Lebensthema [...]. Alles, was ist, scheint und ist für uns sichtbar, weil wir den Schein, den es reflektiert, wahrnehmen, nichts anderes ist sichtbar. (Obrist, 1993, S. 171)
Das volle Spektrum von Richters Porträtarbeit entfaltete sich zunächst zwischen 1962 und 1966, der Zeit, in der er sich ausschließlich auf Gemälde konzentrierte, die auf Fotografien aus den Medien wie auch aus persönlichen Beständen beruhten. Aus diesem Grund werden zwei Porträts aus eben dieser Zeit an den Anfang gestellt.
1.2.1 "Ema (Akt auf einer Treppe)", 1966
das Gemälde sehen: blogspot.com
Das 1966 entstandene, 200x130 cm messende Gemälde, das sich heute im Museum Ludwig in Köln befindet, zeigt in Lebensgröße seine erste Frau Marianne. Sie geht völlig unbekleidet und mit gesenktem Blick, aber frontal die Treppe seines damaligen Ateliers hinunter. Ema strahlt eine ganz besondere Faszination aus. Der Körper des Modells scheint von innen heraus zu leuchten, was die kantige Treppe mit ihrer grün-bräunlichen Färbung noch betont. Obwohl Ema frontal dargestellt ist, wirkt sie in ihrer Nacktheit nicht bloßgestellt. Durch die Unschärfe wirkt sie wie ein klassischer Akt und zeigt auf jeden Fall mehr als eine gewöhnliche Alltagssituation. Zum Teil entsteht der Eindruck einer zarten Transparenz aus Richters fortgesetzter Verwendung der Verwischung, die die Konturen der Figur aufweicht.
Seine eigene Erläuterung seiner Motive beschränkt sich fast völlig auf ein sachlich-technisches Interesse:
Ich verwische, um alles gleich zu machen, alles gleich wichtig und gleich unwichtig. Ich verwische, damit es nicht künstlerisch-handwerklich aussieht, sondern technisch, glatt und perfekt. Ich verwische, damit alle Teile etwas ineinander rücken. Ich wische vielleicht auch das Zuviel an unwichtiger Information aus. (Elger, 2002, S. 113)
Es ist eines von Richters ersten Gemälden, das mit Hilfe seiner eigenen Fotos entstanden ist. Die in doppelter Hinsicht verblüffende Intimität wird durch den kunsthistorisch anmutenden Untertitel Akt auf einer Treppe wieder gebrochen.
Interessant ist der motivische Bezug, den dieses ikonografisch zweifellos komplexe Bild aufweist, da es mit dem ein Jahr zuvor entstandenen Frau, die Treppe herabgehend einen beinahe gleich großen Vorgänger besitzt.
1.2.2 "Frau, die Treppe herabgehend", 1965
das Gemälde sehen: gerhard-richter.com
Auch hier wird die Frau lebensgroß gezeigt, doch während es im Gemälde Ema eine namentlich spezifizierte Ehefrau ist, ist hier eine anonyme, immerhin gut gekleidete Frau zu sehen. Sie ist nicht frontal präsentiert, sondern in Dreiviertelansicht. Durch ihre Armhaltung und den schrägen Verlauf der Treppenstufen ist die Bewegung intensiviert, was dem Gemälde eine große Dynamik verleiht.
Anders als bei Ema diente diesem Gemälde nicht ein privates Foto als Vorlage. Richter ließ sich hier von einem Foto aus einer Illustrierten inspirieren, auf dem die französische Tänzerin Ludmilla Tscherina abgebildet war. Die Bildunterschrift zu diesem Foto war folgende:
Mit 40 noch so jung und schön. Ein Filmstar, dreimal verheiratet, der immer weniger Erfolg hat, je älter er wird. Vom Publikum im Stich gelassen, nimmt sich der Star das Leben. (Elger, 2007, S. 42)
Der Vollständigkeit halber soll hier auf den Vergleich mit Marcel Duchamps Nu descendant un escalier, 1911/12 angeführt werden, der in der Literatur immer wieder vorgenommen wurde. Richter hat wohl tatsächlich eine Version des vermeintlichen Vorbildes in einer Duchamp-Ausstellung gesehen. Dennoch ändert diese Tatsache nichts daran, dass in diesem Gemälde die Beschäftigung mit Duchamp nicht im Vordergrund steht. An diesem Beispiel erkennt man sehr anschaulich, dass diese "Fotobildern" zwar ganz Malerei sind, im Sinne von einer Leinwand als Bildträger und darauf aufgetragener Ölfarbe, doch sind sie, wie Richter selbst sagt "dem Foto derart gleich, dass das, was das Foto von allen anderen Bildern unterscheidet, ganz erhalten bleibt" (Obrist, 1993, S. 28). Weiter erklärt Richter, dass er die Fotografie benutze "wie Rembrandt die Zeichnung oder Vermeer die Camera obscura zu einem Bild" (Obrist, 1993, S. 29).
Die Oberflächeneigenschaft ("Weichzeichnung") wird nach Auskunft Richters erreicht, nachdem das gemalte Bild feststeht und man dann mit einem trockenen Pinsel über die noch feuchte Farbfläche wischt oder schleift, sodass die Konturen der Formen aufgeweicht werden. Dieses Verfahren erzeugt eine sanfte, geglättete Oberflächenwirkung, die nicht nur die Hand des Künstlers auslöscht, sondern auch ein Bild hervorbringt, das keine buchstäbliche Kopie des fotografischen Originals ist (Moorhouse, 2009, S. 68f).
1.2.3 "Betty", 1988
das Gemälde sehen: gerhard-richter.com
Zu sehen ist eine sich vom Betrachter abkehrende Mädchenfigur, die in seitlicher Ansicht und im abgewandten Profil erscheint. Eine Individualisierung ist nicht gegeben, denn ihr Gesicht ist nicht zu sehen. Nur die Kombination von Kleidung, Frisur und offenbar junger Haut erzeugt den Eindruck, es handle sich um eine junge Frau. Über ihr Aussehen kann man allerdings nur spekulieren.
Das rosafarbene Oberteil und die rot-weiß gemusterte Jacke, die Betty darüber trägt, heben sich dabei deutlich vom dunklen Hintergrund ab. Diesem gilt der Blick der Dargestellten in Ignoranz des Bildbetrachters. Der Hintergrund ist für den Betrachter von keinem großen Interesse, und so bleibt sein Blick an der Figur selbst hängen. Trotz des monotonen Hintergrundes hat diese Rückenansicht die Funktion einer romantischen Bildfigur, die als Projektionsfigur oder gar Stellvertreter des Betrachters im Bild den Blick in die scheinbar unendliche Ferne lenkt. Im Unterschied zu einer romantischen Rückenfigur erscheint die Figur hingegen sehr nah, da sie vom unteren Rand und auch von den Seiten beschnitten ist. Anders ist auch die Belanglosigkeit des Hintergrundes, der eben nicht in die Ferne blicken lässt, wie man das von romantischen Gemälden kennt. An dieser Stelle sei auf das Gemälde Frau am Fenster von Caspar David Friedrich verwiesen.
Stefan Gronert macht darauf aufmerksam, dass man im Hintergrund durch die rechte untere Bildkante eines der grauen Bilder von Richter erahnen kann (Gronert, 2006, S. 58). In diesem Fall wäre zusätzlich die Betrachtung eines anderen Gemäldes des Künstlers thematisiert. Und diese These beinhaltet auch die vermeintlichen Gegensätze von Abstraktion und Realismus, die in ein und demselben Gemälde vor Augen geführt werden.
Eine weitere Ambivalenz ist in der Haltung der Porträtierten zu erkennen. Einerseits wird dem Betrachter durch die im Bildrechteck verankerte Figur Stabilität vermittelt; andererseits wirkt die manieristisch anmutenden Torsionsfigur, als ob sie sich jeden Moment umdrehen könnte. Bei aller Romantik enttäuscht Betty die Erwartungen des Betrachters, insofern die Dargestellte sich seinem Anblick dezidiert entzieht, durch die Drehung aber gleichzeitig auch eine Identifikation verspricht, von dem er weiß, dass sie im Medium des Bildes nicht möglich ist (Gronert, 2006, S. 59).
Richter selbst sagt, dass "der abgewendete Kopf zwar etwas plakativ Geheimnisvolles in das Porträt bringt, aber das Eigentliche, was da zur Wirkung kommt, sei doch vielmehr eine schmerzliche Wehmut über Verlust und Trennung und was da so in die Richtung gehe." (Beyer/Knöfel, 2005). In dem selben Interview 2005 spricht Richter über die späten 1960er Jahre und behauptet, dass die "ganze Gesellschaft wenig Sinn für Familie und für Väter schon gar keinen hatte". Im Nachhinein kann er das Verhalten der Progressiven nur als lächerlich empfinden. Man hätte sich "fahrlässig" verhalten; die Kinder sich selbst überlassen. Richter macht darauf aufmerksam, dass in dem Porträt seiner Tochter Betty etwas von der Trauer darüber anklinge (Beyer/Knöfel, 2005, "Mich interessiert der Wahn", in: Spiegel am 15.08.2005).
Auf die Aussage, dass es sich bei der Rückenansicht seiner Tochter um eine weltberühmte Ikone handle, antwortete Richter, dass es "ja auch sehr attraktiv sei, delikat gemalt, es hat eine schöne Farbigkeit und einen interessanten Kontrast von dem einfarbigen dunklen Hintergrund zu einer leuchtenden Pracht des Blumenmusters auf dem Bademantel, den meine Tochter trägt". (Beyer/Knöfel, 2005, "Mich interessiert der Wahn", in: Spiegel am 15.08.2005). Anfangs habe er wegen dieser Komposition Bedenken gehabt, gestand Richter vor ein paar Jahren: "Es schien mir zu filmisch, so in Richtung Hitchcocks Psycho" (Beyer/Knöfel, 2005, "Mich interessiert der Wahn", in: Spiegel am 15.08.2005).
Entsprechend seiner Popularität zählt dieses Porträt zu den auch in der Literatur am meisten besprochenen Werken des Künstlers. Dies liegt sicher auch daran, dass Richter hier der Vorstellung entgegentritt, dass ein identifizierbares Subjekt eine notwendige Bedingung für ein Porträt sei. Es kommt nicht von ungefähr, dass Richter in den Fragebogen (nach Marcel Proust) auf die Frage nach seinem Hauptcharakterzug "Skeptizismus" eingetragen hat (Elger, 2007, S. 44).
1.2.4 "Lesende", 1994
das Gemälde sehen: gerhard-richter.com
Das Porträt Lesende zeigt eines von Richters Porträts im Profil. Der Betrachter sieht eine von ihm aus nach links gewandte Frauenfigur, deren Gesicht gut zu erkennen ist, da sie ihre blonden Haare in einem Zopf gebunden trägt. In ihrem beiden Händen hält sie eine Zeitung oder vielmehr eine Zeitschrift. Die Lesende vermittelt eine gewisse Ruhe, die durch ihren gesenkten Blick und durch die in sich geschlossenen Form ihrer Haltung erzeugt wird.
Bemerkenswert ist auch die ungewöhnliche Beleuchtung in diesem Gemälde. Da der Hintergrund in einem abgedunkelten Rot relativ ruhig wirkt, lenkt nichts von der Hauptperson der Lesenden ab. Die hellste Stelle im Gemälde ist der beleuchtete Nacken der blonden Frau. Somit ist die Lesende deutlich in den Mittelpunkt gerückt. Die Blickrichtung des Betrachters ist durch diese spotlichtartige Beleuchtung vorgegeben.
Es kommt zu einer Art Kreisbewegung: Man nimmt zuerst die hellste Stelle im Bild - den Nacken der Leserin - wahr, blickt dann weiter zu ihrem Gesicht, lässt dann die Augen weiter zur Zeitschrift wandern und wieder zurück zum konzentrierten Gesichtsausdruck der Leserin.
Dargestellt ist Sabine Moritz, die Richter 1995 heiratete.
1.2.5 "Onkel Rudi", 1965
das Gemälde sehen: gerhard-richter.com
Auf dem Gemälde Onkel Rudi erkennt man einen Mann, der frontal dargestellt ist und der als deutscher Soldat in der Zeit der Nazi-Diktatur gekleidet ist - er trägt die Wehrmachtsuniform. Das Bild selbst ist zwar insofern unprovokant, als es einfach einen jungen Mann vorstellt, der stolz in seiner Uniform dasteht. Eben diese weckt aber beim Betrachten unweigerlich Nazi-Assoziationen. Das Gemälde positioniert sich also auf strittigem Gebiet, auf dem die Betrachter zwangsläufig Vermutungen anstellen und doch einräumen müssen, dass über das abgebildete Individuum nichts wirklich in Erfahrung zu bringen ist. Man erkennt hier, was für ein Verzerrungspotenzial in der Deutung von äußeren Erscheinungen liegt.
Der Titel suggeriert eine Vertrautheit und Intimität, die die Darstellung selbst nicht besitzt.
Es handelt sich auch hier, wie bei Ema um ein Gemälde, das anhand eines privaten Fotos gemalt wurde. Bis vor ein paar Jahren hatte Richter gar kein Interesse daran, dass über die autobiographischen Bezüge in solchen Gemälden wie Onkel Rudi gesprochen wird. Diese Einstellung hat sich geändert und Richter sagt in einem Interview im Jahr 2005:
Ich wollte doch, dass man die Bilder sieht und nicht den Maler und seine Verwandten, da wäre ich doch irgendwie abgestempelt, vorschnell erklärt gewesen. Tatsächlich hat mich das Faktische - Namen oder Daten - auch gar nicht so interessiert. Das alles ist wie eine andere Sprache, die die Sprache des Bildes eher stört oder sogar verhindert [...]. (Beyer/Knöfel, 2005, "Mich interessiert der Wahn", in: Spiegel am 15.08.2005)
Erst mit der notwendigen historischen Distanz konnte er 1992 gegenüber Doris von Drathen schließlich eingestehen, diese Neutralität gegenüber den Inhalten seiner Bilder als eine Ausrede vorgeschoben zu haben:
Das ist mehr eine Schutzbehauptung gewesen, dass ich indifferent sei, dass mir alles egal ist usw. Damals hatte ich Angst, dass die Bilder dann zu sentimental wirken könnten. Inzwischen macht mir das nichts mehr aus zuzugeben, dass das was mit mir zu tun hatte, dass ich also all die tragischen Typen, die Mörder und Selbstmörder, Gescheiterte und so weiter nicht nur zufällig abgemalt hatte. (Obrist, 1993, S. 222)
1.2.6 "48 Porträts" (1971/72)
das Gemälde sehen: gerhard-richter.com
Geplant und gemalt wurde diese Serie von 48 Porträts in Verbindung mit Richters Ernennung zum Repräsentanten Deutschlands auf der Biennale in Venedig 1972, und konzipiert wurde sie als Installation im Zentralraum des deutschen Pavillons.
Es handelt sich um gemalte Nachbilder von Reproduktionen, die Richter Lexika entnommen hat. Die Porträts - alles Kopfansichten - konzentrieren sich hauptsächlich auf im 19. Jahrhundert wirkende Personen. Zu sehen sind Gelehrte, Naturwissenschaftler, Musiker, Literaten, Mathematiker und teilweise Nobelpreisträger.
Gerhard Richter selbst gab zu, nicht alle gekannt zu haben, woraus man auf die Indifferenz seiner Auswahl schließen kann. Es ist bemerkenswert, dass weder Politiker noch bildende Künstler, noch Würdenträger aus der Religion, Repräsentanten aus Wirtschaft und Gewerbe vertreten sind; Frauen auch nicht.
Alle gezeigten Männer sind schwarz-weiß und im gleichen Bildausschnitt dargestellt.
Diese Porträts irritieren den Betrachter, was vor allem an ihrer Zusammenstellung und an ihrem Kunstcharakter liegt. Die serielle Hängung und die spezifisch auf den Ort bezogene Blickrichtung der Dargestellten, welche auf einen idealen Betrachter in der Mitte der einen Reihe der gleichartigen Bilder ausgerichtet war, legte die Annahme eines logischen Prinzips nahe, das aber de facto gar nicht existierte. Auf Anhieb erkannte man Franz Kafka, der im Zentrum aufgehängt wurde und an das sich zu beiden Seiten die graduell nach links oder rechts gedrehten Kopfpositionen der anderen Dargestellten anschlossen.
Beim längeren Betrachten identifizierte man weitere bekannte Persönlichkeiten wie Albert Einstein, Oscar Wilde oder Thomas Mann, las aber auf den unter den Porträts angebrachten Schildern auch unbekannte Namen wie beispielsweise den des rumänischen Schriftstellers Mihail Sadoveanu.
Die Serie nimmt laut Moorhouse einen markanten Platz in Richters Oeuvre ein, und dies nicht nur wegen ihrer Größenordnung. Als einzelnes zeichnet jedes Porträt die Eigenschaften eines angesehenen Repräsentanten für ein bestimmtes Teilgebiet des Wissens oder der Kultur. Als Ensemble gehängt, nimmt eine Vorstellung von Kultur und kulturellen Leitfiguren Gestalt an, die von den dargestellten Individuen abstrahiert wird. Zusammen gehängt, laden die Porträts zum Spekulieren über ein ganzes Spektrum an Bedeutsamkeiten und Folgewirkungen ein. Sie werfen Fragen darüber auf, wer aufgenommen und wer ausgeschlossen wurde und welche Beziehungen möglicherweise zwischen den Modellen bestehen (Moorhouse, 2009, S. 90).
1.3 Zusammenfassung (Porträts)
Wie aufgezeigt wurde, handelt es sich bei Richters Porträts um Darstellungen von Bildern, welche ihrerseits vorgeben, klassische Porträts zu sein, die jedoch die gewöhnliche Erwartung des Einblicks in ein Inneres des Dargestellten verweigern.
Umgekehrt zur konventionellen Sichtweise, bei der zuerst der Dargestellte erkannt wird, geht es bei diesen Porträts des Abbilds nicht hauptsächlich um Individuen, sondern um die Entdeckung von etwas Bildlichem, das aus dem Abbildlichen selbst gewonnen wird. In eben dieser Hinsicht erscheint Richters Haltung als wirklich modernistisch; er hält - bei aller Skepsis an der Erkenntnisfähigkeit des Bildes - an diesem fest und verlängert die Kette der Bilder.
Richter unterminiert das konventionelle Verständnis des Porträts, indem seine Bilder in künstlerischer Form Abbilder von Porträtvorstellungen zeigen.
Man kann bei Richters Bildern nur von "Porträts" sprechen und nicht von "Bildnissen", denn selbst wenn die Darstellung individualisierte Züge gewinnt, so gelingt dies aber in der Regel vor dem Hintergrund einer Entindividualisierung des Dargestellten: Die Bilder sind als solche individueller als jene Abbilder, denen sie folgen, während sich der Glaube an das Bildnis zugleich als eine romantische Farce enthüllt.
In sehr unterschiedlicher Weise hat Richter sich durch sein gesamtes Werk mit der Gattung des Porträts auseinandergesetzt und verschiedene Formen einer Fortführung gefunden. Das reicht von der großen Fotoähnlichkeit in den 48 Porträts bis zur Negation des Abbildlichen in abstrahierenden oder gar abstrakten Bildern, die nur noch den Namen des Porträts im Titel tragen.
2. Landschaft: "Abendstimmung", 1969
das Gemälde sehen: gerhard-richter.com
Seit 1968 distanzierte sich Richter immer mehr von Porträts, besonders Familienszenen und malte nun Landschaften sowie Wolken und Seestücke. Auch hierbei dienten ihm Fotos, Amateurfotografien und selbstfotografierte Eindrücke von Reisen und Ausflügen.
Schaut man aus einigen Metern Entfernung auf das Gemälde Abendstimmung, nimmt man eine weite, im Abendlicht schimmernde Wattlandschaft wahr, über die sich ein leichter Nebel legt. Während die untergegangene Sonne dem Himmel noch einen goldgelben Schimmer verleiht, liegt die Erde bereits in tiefster Dunkelheit. Wie eine Fata Morgana öffnet sich das flimmernde Bild vor den Augen des Betrachters. Versucht dieser, das Dargestellte zu fokussieren, muss er feststellen, dass der Schleier sich nicht entfernen lässt, da er bereits im Gemälde angelegt ist. Aus der Nähe erkennt der Beobachter einen feinen Farbbelag, der sich gleichmäßig über das Bild zieht und durch den sich die raue Leinwandstruktur abzeichnet. Lediglich im Bereich des Lichteinbruchs ist die Farbe etwas dicker aufgetragen. Eine zarte Verwischung legt einen Schleier über die gesamte Darstellung. Weich gehen die Farben ineinander über, ohne dass die Vertreiberspuren sichtbar werden. Die angewandte Technik ist nicht mehr nachvollziehbar (Kasper, 2003, S. 41).
Die Horizontlinie trennt als harte Begrenzung die Erde vom Himmel, wogegen es innerhalb der Himmelszone nur weiche Farbübergänge gibt. Der Betrachterblick wird vom tiefliegenden Horizont angezogen und bleibt dort in der Mitte hängen, wo sich gleich einem Brennpunkt das Licht auf der Wasserfläche sammelt.
Die Oberflächenstruktur von Abendstimmung entspricht der des Gemäldes Lesende von 1994. Auch in diesem Gemälde hat Richter den weichen Vertreiber großflächig eingesetzt. Leicht hat er die noch feuchte Farbe verzogen, doch seine Spur hat sich verflüchtigt. Er hinterlässt einen hauchdünnen, glatten Wahrnehmungsschleier, der sich vor die Darstellung legt.
Bei der Besprechung der Landschaftsgemälde Richters konzentriert sich die Sekundärliteratur vor allem auf einen Vergleich mit Caspar David Friedrich. Richter wird in Friedrichs Nachfolge und damit in der Tradition der deutschen Romantik gesehen (siehe "Document d'accompagnement").
3. Stillleben
3.1 "Kerze", 1983
das Gemälde sehen: artinfo24.com
Mit den Stillleben widmete sich Richter neben den Porträts und Landschaften einer weiteren traditionellen Bildgattung der Malerei.
Im Gemälde Kerze von 1983 ist, wie der Titel verrät, eine vom unteren Bildrand abgeschnittene, brennende Kerze zu sehen. Die Kerze selbst ist weiß und befindet sich nicht in der Bildmitte, sondern nach rechts versetzt. Da am unteren Bildrand eine graue Fläche zu sehen ist, liegt die Vermutung nahe, dass sie auf einem Tisch steht.
Der ebenfalls graue, belanglose Hintergrund ist in zwei Flächen aufgeteilt. Die größere Fläche, vor der die Kerze platziert ist, ist in einem hellen Grauton gemalt. Etwa ein Viertel der Fläche links ist in einem sehr dunklen Anthrazit wiedergegeben.
Dieses Gemälde ist eines der teuersten zeitgenössischen Gemälde und wurde 2008 bei Sotheby's in London zu dem Auktionsspitzenpreis von 10,5 Millionen Dollar versteigert ("Ach so, das war die sexuelle Befreiung", in: SZ vom 19.3.09).
3.2 "Schädel mit Kerze", 1983
das Gemälde sehen: artinfo24.com
In Schädel mit Kerze variierte Richter seine brennende Kerze. Hinzu kam das Motiv des Schädels, das zusammen mit der Kerze zu den klassischen Vanitas-Symbolen gehört.
4. Das Kölner Domfenster
das Kölner Domfenster sehen: gerhard-richter.com
Der Kölner Dom mit seiner überwältigenden doppelturmigen Silhouette ist Deutschlands größte Kathedrale und Teil des UNESCO-Weltkulturerbes. Er bekam 2007 ein neues Fenster im südlichen Querhaus. Als die gigantische Kathedrale im Oktober 1880 endlich fertiggestellt wurde, erhielt sie Fenster, die dem Geschmack des 19. Jahrhunderts entsprachen: symbolisch aufgeladene Bibelszenen, häufig garniert mit lokalen Kirchenfürsten und Potentaten.
Einige dieser Fenster wurden im Krieg zerstört; darunter auch das große Fenster im südlichen Obergaden des Querhauses, das 1863 König Wilhelm I. von Preußen gestiftet hatte.
2002 erhielt die Dombaumeisterin des Kölner Doms Barbara Schock-Werner den Auftrag, einen Künstler zu finden, der das Maßwerk rund 20 Meter oberhalb des Südportals füllen könnte. Das Domkapitel hatte sich moderne Märtyrer und Heilige der Neuzeit gewünscht.
Bei einer Feier traf Schock-Werner dann Gerhard Richter und nutzte die Gelegenheit, ihn zu fragen, ob er sich der Aufgabe stellen wolle. Man hatte Richter bis dahin nicht mit Glasfenstern in Verbindung gebracht. Nur wenige wussten, dass er für ein privates Wohnhaus schon ein Fenster gestaltet hatte. Nach zunächst figürlicher Darstellung kam Richter dann zu einer Idee, die sich dem Zufall verdanken soll. Er legte die Schablonen, die er von Fenster und Maßwerk erhalten hatte, auf eine Reproduktion seines 1974 entstandenen Bildes 4096 Farben, einem in seiner Abfolge zufällig ausgelosten Rasters aus Farbquadraten. Für Richter bedeutete diese Aufgabe eine lange und intensive Auseinandersetzung, eine Aufgabe, die ihn gleichzeitig begeisterte und erschrocken machte. Dennoch machte der Künstler eine nüchterne Bestandsaufnahme zum Entwurf des Domfensters: 72 Farbtöne, jeder 72 mal im Stock vorhanden, "aus dem Computer per Zufallsgenerator die Anordnung der Töne bestimmte, mit denen eine Hälfte des Domfensters gefüllt wurde; die andere Hälfte ist die Spiegelung davon" (Richter; Diederich, 2007, S. 7). Danach stellte er fest, dass er überrascht gewesen sei, "wie gut das aussieht" (Koldehoff, "Ein Fest des Lichts", in: SZ am 23.08.2007).
Das Domfenster besteht aus einem System von 11 250 farbigen Glasquadraten mit einer Kantenlänge von 9,7 Zentimetern. Diese Quadrate sind mit Silikongel auf ein Trägerglas geklebt und füllen die eine Hälfte des 22 Meter hohen und 113 Quadratmeter großen Fensters und spiegeln sich an ihrer Mittelsenkrechten. Die Felder bestehen aus 72 Farben, die zwar auch aus größtmöglicher Sichtdistanz noch als Quadrate erkennt, aber dennoch verdichten sie sich zu einem dynamisch flirrenden Feld.
Trotz aller Kritik, vor allem von Seiten des Kölner Kardinals Joachim Meisner, das "bunte Mosaik passe besser in ein islamisches Gotteshaus, als in eine Kirche" (Meisner, "Ein Fest des Lichts", in: SZ am 23.08.2007), überwältigt das Domfenster mit seiner metaphysischen Lichtwirkung. Es nimmt auf höchst sensible Weise die Farbigkeit der historischen Verglasungen auf und ist doch ein eigenständiges Kunstwerk des 21. Jahrhunderts. Die gläserne Farbwand mit ihrem betörenden Licht hat alles Ornament vertrieben und scheint alles zu enthalten, was über Spiritualität, Licht und Farbe je gesagt wurde. Alle Gedanken, alle Bilder, alle Heiligen sind in diesem Fenster vereint (Schock-Werner, in: Richter/Diederich, 2007, S. 31).
Zusammenfassung
Richters Oeuvre hat sich über einen Zeitraum von mehr als fünf Jahrzehnten kontinuierlich entwickelt. Trotz der Vielfalt seiner malerischen Motive und Stile gibt es ein Thema, das sein Werk von Anfang an begleitet: "Alles sehen, nichts begreifen" (Interview in der SZ vom 15.03.2009). Mit diesem Satz hat Richter aufgezeigt, wie weit der Weg vom Sehen zum Begreifen ist. Diese Entfernung hat Richter vor allem mit seinen gegenständlichen Gemälden, wie den vorgestellten Porträts, versucht darzustellen.
In einem Interview im Jahr 2001 betonte Richter bereits, sich der unüberwindlichen Diskrepanz zwischen dem Sichtbaren und dem Zeigbaren, dem Vorstellbaren und dem Darstellbaren schmerzhaft bewusst zu sein.
Ich habe zwar die ständige Verzweiflung über mein Unvermögen, die Unmöglichkeit, etwas vollbringen zu können, ein gültiges, richtiges Bild zu malen, vor allem zu wissen, wie so ein Bild auszusehen hätte; aber ich habe gleichzeitig immer die Hoffnung, dass genau das gelingen könnte, dass sich das aus diesem Weitermachen einmal ergibt, und diese Hoffnung wird ja auch oft genährt, indem stellenweise, ansatzweise, tatsächlich etwas entsteht, was an das Ersehnte erinnert oder es ahnen lässt, wenngleich ich ja oft genug nur genarrt wurde, also dass das, was ich momenthaft dann sah, verschwand und nicht übrigblieb als das Übliche. Ich habe kein Motiv, nur Motivation. (Storr, 2002, S. 88)
Der große Erfolg Richters spiegelt sich nicht zuletzt in seinen zahlreichen Ausstellungen wieder. Seit 1964 hatte Richter mehr als 100 Einzelausstellungen in wichtigen Galerien und bedeutenden internationalen Museen. Zwischen 1972 und 1997 war insgesamt an sechs Documenta-Ausstellungen in Kassel beteiligt. Und auch in der jüngsten Vergangenheit beschäftigt man sich ausführlich mit Richter: 2005 wurde in Dresden, der Heimatstadt Richters, das Gerhard Richter Archiv als ein Institut der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden gegründet. Die Einrichtung entstand mit großzügiger Unterstützung von Gerhard Richter und arbeitet eng mit dem Kölner Atelier des Künstlers zusammen. Gemeinsam mit den vielen Leihgaben, die Richter den Kunstsammlungen in Dresden überlassen hat, verfügt die Galerie Neue Meister über mehr als vierzig Gemälde des Künstlers. Somit kann es einen der umfangsreichsten Werkkomplexe Richters präsentieren.
Das Archiv soll zu einem Zentrum der Forschung und Kommunikation über das Werk des in Dresden geborenen Künstlers ausgebaut werden. Es sammelt und dokumentiert alle Bücher, Kataloge, Zeitschriften- und Zeitungsartikel, Fotografien, Videos und CDs, die über Richter publiziert wurden.
Bibliografie
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Elger, Dietmar: Gerhard Richter, Maler, DuMont, Köln, 2002.
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Gombrich, Ernst H.: Die Geschichte der Kunst, Phaidon, London, 2001. Gronert, Stefan: Das Portrait des Abbilds, Hatje Cantz, Ostfildern-Ruit, 2006.
Karcher, Eva: "Gerhard Richter: 'Ach so, das war die sexuelle Befreiung'; Interview mit Gerhard Richter", in: Süddeutsche Zeitung vom 15.03.2009.
Kasper, Astrid: Gerhard Richter. Malerei als Thema der Malerei, Reimer, Berlin, 2003.
Koldehoff, Stefan: "Ein Fest des Lichts. Kölner Domfenster wird enthüllt", in: Süddeutsche Zeitung vom 23.08.2007.
Moorhouse, Paul: Die Porträts von Gerhard Richter, DuMont, Köln, 2009.
Obrist, Hans-Ulrich: Gerhard Richter. Text - Schriften - Interviews, Inselverlag, Frankfurt a.M. / Leipzig, 1993.
Richter, Gerhard; Diederich, Stephan: Gerhard Richter - Zufall, das Kölner Domfenster und 4900 Farben, König, Köln, 2007.
Schneede, Uwe M.: Die Geschichte der Kunst im 20.Jahrhundert. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Beck, München, 2001.
Spieler, Reinhard. Gelshorn, Julia: Gerhard Richter. Ohne Farbe, Hatje Cantz, Ostfildern-Ruit, 2005.
Storr, Robert: Gerhard Richter. Malerei, (Kat.), The Museum of Modern Art, New York, Hatje Cantz, Ostfildern-Ruit, 2002.
Wild, Stefanie: "Stil ist Gewalttat, zur Gerard-Richter-Ausstellung", in: Der Spiegel vom 19.01.2008.
Pour citer cette ressource :
Julia Klarmann, "Schein ist mein Lebensthema": der Maler Gerhard Richter, La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), avril 2010. Consulté le 20/11/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/arts/peinture-et-sculpture/schein-ist-mein-lebensthema-der-maler-gerhard-richter