Zeitgenössisches wiedervereinigtes Kino
Bis in die späten 90er Jahre präsentieren sich die Zahlen des deutschen Filmmarktes als durchaus erschütternd. Waren 1991 noch immerhin 13,6% deutscher Filme auf den Kinoleinwänden der Nation zu sehen - entgegen der überwältigenden Zahl von 80,2 % aus Amerika -, so geht selbst dieser geringe Prozentsatz 1998 auf 9,5% zurück. Die Situation der Amerikanisierung, der globalen Tendenzen entgegen der regionalen nationalen Produktionen und die komplexen Auswirkungen werden vortrefflich von Volker Schlöndorff in seinem Artikel Der Verlust der Liebe dargestellt:
Spielfilme, die wir Europäer im Kino oder Fernsehen sehen, kommen zu drei Vierteln aus den USA. Ziehen wir ein paar Independents und Außenseiter ab, können wir diese Mainstream-Ware das Globale nennen. Auf dem amerikanischen Markt dagegen machen ausländische Filme insgesamt etwa zwei Prozent aus. Unbestreitbar können wir also den Rest der Weltproduktion als das Regionale bezeichnen. [...] Das ist kein Werturteil, nur eine Feststellung von Marktanteilen. [...] Eine von so vielen geprägte Kultur schleift das allzu Spezifische einer Kultur ab und ist so leicht rückexportierbar (Schlöndorff, Der Verlust der Liebe, in: Der Spiegel, Ausgabe 7/1999, 196).
1. Die Jahrhundertwende: ein drittes goldenes Zeitalter?
Während nun Eisenschitz am Ende der Neunziger nur die Filme des Deutschland der Einwanderer als nennenswerte Innovation darstellt, insbesondere mit Fatih Akins Kurz und schmerzlos (1998) oder Yüksel Yavuz Aprilkinder (1998), welche aber durchaus schon früher, etwa mit 40m² Deutschland (schon 1986) von Tevfik Baser anzutreffen sind, ist seit ein paar Jahren eine deutliche Aufbruchstimmung im deutschen Film zu sehen, was sich in den Besucherzahlen und vor allem der Anerkennung der nationalen und internationalen Kritik zeigt. Erwähnt Wolfgang Jacobsen in Die Geschichte des deutschen Films (2004) als Beispiele dieses Elans etwa die Autoren und Schauspieler Caroline Link oder Katja Riemann und Filme wie Good Bye, Lenin (Wolfgang Becker, 2003) und Gegen die Wand (Fatih Akin, 2004), so kann man im Rückblick wahrscheinlich schon mit Tom Tykwers fulminanten Lola rennt (1998), einem Meilenstein der Filmästhetik, eine Wende sehen. Es scheint sich im angehenden 21. Jahrhundert so etwas wie ein drittes goldenes Zeitalter nach den 20ern und den 70ern anzukündigen.
Das meist junge deutsche Kino erweist sich als sehr dynamisch, versiert in den verschiedensten Themenbereichen und nicht nur die Präsenz, sondern auch die Preise auf kleinen und hochrangigen internationalen Filmfestivals scheinen ein solches Argument zu stützen.
An dieser Stelle soll nun abschließend eine Aufzählung erfolgreicher Filme dieser letzten Jahre gegeben, welche wiederum die These der Filmsoziologie unterstreichen, ein Film wäre der Spiegel gesellschaftlicher Zustände und Wunschvorstellungen, würde die Mentalität einer Nation reflektieren: Nirgendwo in Afrika von Caroline Link (2001 - Oskar für besten ausländischen Film, beachtenswert auch ihr Jenseits der Stille von 1996), Rosenstraße (2003) von Margarete von Trotta (Auszeichnung für Katja Riemann in Venedig), der Welterfolg Good-bye, Lenin (2003) von Wolfgang Becker und nicht zuletzt der Oskar für den besten ausländischen Film 2007 für Florian Henckel von Donnersmarck mit Das Leben der Anderen. Über diese prämierten Filme hinaus seien einige weitere erfolgreiche Produktionen genannt. Hierbei lassen sich einige Rubriken erstellen, welche auch zukunftsweisend für den deutschen Film scheinen, auch wenn einige der Filme diesen Kategorien nicht entsprechen, bzw. mehreren angehören.
2. Neu auftretende Tendenzen
So sieht die vom Deutschen Filminstitut (DIF) kreierte Seite www.filmportal.de in folgende aktuelle Tendenzen:
- Erstens, Filme über Popkultur und die Jugend mit Thematiken von Coming-of-age, Normenfragen, Musik, Sexualität.... Hierzu gehören Produktionen wie etwa Crazy (2000), Urban Guerillas (2003), Status Yo! (2004), Die fetten Jahre sind vorbei (2004) oder Sommersturm (2004).
- Zweitens, der für das ausländische Publikum weniger interessante Kinderfilm mit erfolgreichen nationalen Produktionen wie Die Sams (2001), Der kleine Eisbär (2001), Bibi Blocksberg (2002) oder Lauras Stern (2004). Der relativ große Erfolg und die gigantischen Besucherzahlen von Filmen dieser Art zeigen natürlich bedenkenswerte ökonomische Zwänge hinter dem Film- und Kinobetrieb.
- Drittens, die Filmkomödie, welche wiederum, wie national verankerte humoristische Elemente allzu oft, schwer exportierbar ist, in qualitativ hinterfragbaren Filmen wie Harte Jungs (2000) oder Der Schuh des Manitu (2001).
- In der vierten Filmkategorie sind Filme zu finden, die die jüngste Geschichte verarbeiten.
Einerseits der thematische Umgang mit Terrorismus im Rückblick und aktuell, wie etwa in Die innere Sicherheit (2000) und Black Box BDR (2001) über die RAF-Zeit, oder in September (2003) über den berühmten Frühherbsttag in New York.
Andererseits die Behandlung der DDR-Vergangenheit, also von Wende und Nachwende. In Anlehnung an die Überlegungen weiter oben, scheint nun genüg Zeit verstrichen zu sein, um sich konstruktiv, kritisch und künstlerisch mit diesem nicht immer unproblematischen Thema auseinanderzusetzen. Statt dem ultimativem Wendefilm, treffen wir eher auf kleine Bausteine. Nach einer gewissen, kaum wahrgenommenen anfänglichen Kritik, treffen wir schnell auf die sogenannte 'Ostalgie', der Film präsentiert sich oft als leicht genießbar, verklärt und klamottenhaft wie in Go Trabi Go! (1990), Sonnenallee (1999), Der rote Kakadu (2006) und natürlich im unumgänglichen Good Bye, Lenin! (2003 - wobei auch hier eine Menge sozial- und regimekritischer Aspekte zu finden sind, welche in der ostalgischen Rezeption generell untergingen). Nach auch grotesken und absurden Filmen wie Helden wie wir (1999), haben es wir nun 10 Jahre nach der Wende auch mit sehr kritischen Tendenzen, etwa über existenzielle Traumata, zu tun. Herausragende und sehr sehenswerte Beispiele hierfür sind Berlin is in Germany (2001), Lichter (2003) und natürlich Das Leben der Anderen (2006). Es ist sicherlich spannend, inwiefern in Zukunft mit solchen Themen umgegangen wird, ebenso ob die zahlreichen Filme, die der DDR-Zensur unterlagen, wie oben erwähnt, aufgearbeitet werden.
Ohne Anspruch auf Exhaustivität und wohlwissend, dass viele aktuelle Filme nicht in die Zwangsjacke der Kategorisierung passen, lassen sich in der Auflistung aktueller Tendenzen noch zwei Rubriken ergänzen.
- Erstens, die Fortsetzung der kritischen, nun meist subjektiven Annäherung über die NS-Zeit. Hierzu zählen Filme wie Comedian Harmonists (1997), Sass (2001), Rosenstraße (2003), Napola (2003), der umstrittene Film Der Untergang (2004) und die ausgezeichneten Der neunte Tag (2004) und Sophie Scholl (2005). Erwähnenswert auch die erstmals komische Auseinandersetzung mit dem Thema des Dritten Reiches in Mein Führer - Die wirklich wahrste Wahrheit über Adolf Hitler (2007) des jüdischen ((Die ethno-kulturelle Herkunft des Filmemachers ist sicherlich nicht unwesentlich für die Entstehung eines solchen Filmes. Er ist auch der erste deutsche Regisseur, der mit dem äußerst amüsanten und durchaus exportierbaren Alles auf Zucker! (2004) eine sehr gelungene Komödie über jüdische Klischees gepaart mit der innerdeutschen Ost-West Thematik dreht.)) Filmemachers Dani Levy.
- Einwandererfilme, Migrations- und Grenzgängerthematiken: Schließlich sei noch das bereits angesprochene Deutschland der Einwanderer im Film erwähnt. Während sich schon seit den 60ern vereinzelt sogenannte «Gastarbeiterfilme» finden lassen, in denen von Trauer, Heimweh, Resignation, oder Depression die Rede ist, oder die man auch als "Immigrantendramen" meist deutscher Regisseure der 70er und 80er bezeichnet - darunter 40m² Deutschland von Tevfik Baser (1986) - sind heute die Einwanderer(kinder) sowohl vor als auch hinter der Kamera. Ihre Filme sind geprägt von Vielfalt und Souveränität, die Identifikationsfiguren, die sie präsentieren, sind alles andere als konfliktfrei, jedoch durchaus positiv und dynamisch. Energie und Lebenslust, auch wenn sie weh tun und mit den Traditionen der Elterngeneration im Konflikt stehen ist angesagt, statt larmoyantes Heimweh. Hierzu zählen Yüksel Yavuz Aprilkinder (1998), Filme von Thomas Arslan, Romuald Karmakar, Mennan Yapu und natürlich Fatih Akin, dessen preisgekrönte Filmographie sehr bemerkend ist: Kurz und schmerzlos (1998), ein Gangster-Film über zweifelhaftes «Multi-Kulti» zwischen Griechen, Serben, Albanern und Türken in Hamburg-Altona, Im Juli (1999), ein charmantes Road-Movie zwischen Hamburg und Istanbul, Solino (2001), über italienische Gastarbeiter und dem Leben zwischen zwei Ländern in den 70er Jahren im Ruhrgebiet, der bekannte und prämierte Gegen die Wand (2004), die tragische Befreiungsgeschichte einer jungen deutsch-türkischen Frau und eine schmerzhafte «Rückkehr» an den Bosporus.
Wenn diese Produktion eine harte aber beeindruckend verfilmte Ankunft in der Wirklichkeit darstellt, gegen die deutschen Träume einer Leitkultur (Nicodemus Katja, Ankunft in der Wirklichkeit, in Die Zeit vom 19.02.2004), so folgt mit Kebab Connection (2004) ein etwas leichter Film, eine Art türkische Kung-Fu Klamotte. Schließlich mit Crossing the bridge: The sound of Istanbul (2005), eine Musikdokumentation wiederum zwischen Orient und Okzident, und dem 2007 in Cannes prämierten Auf der anderen Seite. Akin saß 2005 außerdem mit Emir Kusturica in der Jury von Cannes.
Denkt man außerhalb der genannten Kategorien, noch an weitere zukunftsweisende deutsche Cineasten, so sind unter anderen zu nennen: Hans-Christian Schmid mit folgenden Filmen: Nach fünf im Urwald (1995), Crazy (2000), 23 (2001), Lichter (2003) und Requiem (2006). Die letzten beiden hervorragenden Filme, einerseits ein sehr düsteres Einwanderungsdrama von Polen nach Deutschland, andererseits die Thematisierung kleinbürgerlichen, christlichen Fanatismus, liefen ebenfalls in den französischen Kinos.
Hinzu kommt etwa Hans Weingartner mit Das weiße Rauschen (2001) oder dem weltweit sehr erfolgreichen Die fetten Jahre sind vorbei (2004) und schließlich Tom Tykwer. Der Mitgründer der sehr erfolgreichen Produktionsfirma X-Filme (mit Wolfgang Becker, Dani Levy, Stefan Arndt), verwendet häufig die Hauptmotive von Zufall und Schicksal in seinen modernen, oft kosmopolitischen Tragödien und seinen bekannten heartbeat- Stil, vor allem in Verbindung mit sehr charakteristischer Filmmusik, den man besonders aus Lola rennt (1998) kennt. Seine restliche Filmographie beinhaltet neben kleineren Produktionen Winterschläfer (1997), Der Krieger und die Kaiserin (2000), Heaven (2002) mit Cate Blanchett und nach dem Drehbuch von Krzysztof Kieslowski und schließlich der große Hollywood-Film Das Parfum (2006).
Es sei schließlich noch die sogenannte neue Berliner Schule mit Cineasten wie Christian Petzold, Thomas Arslan oder Angela Schanelec genannt.
Die Sterne stehen für den deutschen Film momentan also sehr günstig und die mageren 80er und 90er Jahre scheinen überwunden, sowohl in Bezug auf Quantität, als besonders auf Qualität. Betrachtet man auch überblickend die steigende Zahl deutscher Filme in französischen Kinosälen zusätzlich zu den schon genannten bekannteren Produktionen - Ich bin die Andere (2006) von Margarete von Trotta, Der neunte Tag (2004) von Altmeister Schlöndorff, nach später Premiere, Netto (2005) von Robert Thalheim, Sommer vorm Balkon (2005) von Andreas Dresen, Emmas Glück (2006) von Sven Taddicken , oder momentan Sehnsucht (2006) von Valeska Grisebach und natürlich Auf der anderen Seite (2007) von Fatih Akin - so scheinen spannende Tendenzen auf dem Programm zu stehen.
Note
Bibliographische Angaben
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Carpentier-Tanguy, Xavier, « Écrans de RDA : projections politiques et sociales au miroir de son cinéma de fiction. », EspacesTemps.net, Textuel, http://espacestemps.net/document372.html, 8. Januar 2003
Courtade, Francis, Jeune cinéma allemand; suivi de Le cinéma réaliste allemand, Serdoc, 1969
Eisenschitz, Bernard, Le cinéma allemand, Paris, Nathan, 1999 - Neuauflage 2004
Eisner, Lotte Henriette, L'écran démoniaque : les influences de Max Reinhardt et de l'expressionnisme, Paris, Eric Losfeld, 1985
Jacobsen, Wolfgang; Kaes, Anton (ed.), Geschichte des deutschen Films, Stuttgart, Metzler, 2004
Hake, Sabine, Film in Deutschland. Geschichte und Geschichten seit 1895, Reinbek, Rowohlt, 2004
Kracauer, Siegfried, De Caligari à Hitler, Lausanne, L'âge d'homme, 1973
Kreimeier, Klaus, Une histoire du cinéma allemand : la UFA, Paris, Flammarion, 1994
Midding, Gerhard, Geburtstag im Kabinett des Dr. Caligari auf: www.welt.de vom 22.11.2006
Nicodemus, Katja, Ankunft in der Wirklichkeit, in: Die Zeit vom 19.02.2004
Rother, Rainer, Als Laurel und Hardy Deutsch lernen mussten auf: www.welt.de vom 16.11.2005
Schaudig, Michael (ed.), Positionen deutscher Filmgeschichte - 100 Jahre Kinematographie: Strukturen, Diskurse, Kontexte, Diskurs Film Verlag, München, 1996
Schlöndorff, Volker, Der Verlust der Liebe in: Der Spiegel, Ausgabe 7/1999
De Voghelaer, Nathalie, Le Cinéma allemand sous Hitler : un âge d'or ruiné, Paris, L'Harmattan, 2003
http://www.cinegraph.de/ et http://www.deutsches-filminstitut.de/ - Daten, Fakten und Hintergründe zur Geschichte des deutschsprachigen Films
http://www.filmportal.de - Projekt «123 wichtigste deutsche Filme» mit detaillierten Informationen, auch für aktuelle und aktuellste Themen (Filmographien, ausführliche Künstlerprofile, Materialien, Bilder, Links...)
www.goethe.de/z/wwfilm/deindex.htm - Die sehr informative Seite des Goethe Instituts
http://www.ofaj.org/fr/media/dossier/cinema.htm - Deutsch-französisches Jugendwerk
Pour citer cette ressource :
Markus Arnold, "Zeitgenössisches wiedervereinigtes Kino", La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), décembre 2007. Consulté le 05/11/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/arts/cinema/zeitgenossisches-wiedervereinigtes-kino