Film im geteilten Deutschland
1. Die Wiederentstehung des Autorenkinos
Um sich nun dem bekannteren Westkino zu widmen, machen wir nun noch einmal einen Schritt zurück. Hier sind viele Inspirationen aus dem jungen französischen Kino, der Nouvelle Vague, zu verzeichnen und Organisationen wie die Münchner Kurzfilmvereinigung DOC 59 zeugen von diesem Einfluss.
Der entscheidende Schritt zur Emanzipierung des Kinos, zur Befreiung von Reaktionärem und dem Papafilm, zum Elan des sogenannten 'Jungen Deutschen Films' kommt vom Oberhausener Filmfest von 1962. Über das daraus entstandene, kurze und prägnante Oberhausener Manifest - Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen, werden Forderung nach institutioneller Unterstützung gestellt. In der Folge erhält der Film einen ersten kurzen Einzug in die geisterwissenschaftliche Forschung. Man bewirkt die Schaffung von Filminstituten in Ulm, Berlin und München und kreiert 1964 das Kuratorium Junger Deutscher Film.
Es entstehen Filme wie die Skandalproduktion Nicht versöhnt (1965) von Jean-Marie Straub, einem wegen des Algerienkriegs französischen Exilanten, in der die provokante These vertreten wird, die Zeit des Friedens und des Krieges stehe in Kontinuität zueinander. Ähnlich brisant Abschied von gestern (1966) von Alexander Kluge, einem Schüler von Theodor W. Adorno, der anhand von Anita G. (dies ist auch der frz. Titel), einer Leipziger Jüdin die in den Westen kommt und deren Konfrontation mit der Logik dieser Gesellschaft zu einem Außenseiterdasein führt, hinterfragt, inwiefern die Vergangenheit ihre Spuren in der Gegenwart hinterlässt. Man kann ab 1962 nun endlich vom Autorenkino sprechen. Die ökonomische und künstlerische Verantwortung sollen bei ein und derselben Person liegen und die Cineasten produzieren, so unabhängig wie möglich, ihre eigenen Werke, wobei sie sich auch von den Verkaufs- und Besucherzahlen loslösen.
Doch der Papafilm ist nicht tot: Große Verleihfirmen wie Constantin, Gloria oder Atlas unterstützen traditionelle Produktionen, Edgar Wallace Serien, Winnetou, Heimatfilme, und selbst Reaktionäres über den Krieg sind nicht von der Leinwand loszulösen und die staatlichen Subventionen für den Jungen Deutschen Film sind eher schwach, so dass es zwischen 1968 und 1973 sogar zu einem leichten Rückgang der Autorenfilme kommt.
2. Der Bruch der 70er Jahre
Trotzdem ist das Datum 1968, wie in vielen anderen gesellschaftlichen, akademischen und künstlerischen Bereichen auch, ein deutlicher Bruch. Nachdem das Kuratorium die Hilfe für den Revolutionsfilm Chronik der Anna Magdalena Bach von Jean-Marie Straub verweigert, der von namhaften Vertretern des Filmgeschäfts wie Godard, Schlöndorff, Kluge oder Maximilian Schell unterstützt wird und die Referenz schlechthin für die neue Generation der Studentenbewegung ist, wird das Kino, seine Funktion und Ästhetik radikal in Frage gestellt. Es kommt zu politischen Inhalten in Arbeiterfiktionen oder militanten Dokumentationen; Marxismus, Themen nach Brecht, Walter Benjamin und der Frankfurter Schule und Genrevermischung bestimmen den Filmbetrieb.
Die goldenen 70er: eine Reihe brillanter Filmemacher
In der Folge sei nun exemplarisch auf das Schaffen der bedeutendsten deutschen Filmemacher eingegangen und dem Übergang vom «Jungen deutschen Film» zum «Neuen deutschen Film».
Wim Wenders
Zu allererst ist hier Wim Wenders zu nennen. Nach einer kritischen Bestandaufnahme des Films in seinen ersten Produktionen thematisiert er den Konflikt zwischen bildloser europäischer Erinnerung und den Bildern des amerikanischen Traums - etwa über die Probleme journalistischer Inspiration in Alice in den Städten (1973). Er steht in enger Verbindung mit dem Schriftsteller Peter Handke, zeigt ein starkes Interesse für Metafiktion und die Quellen des Kinos. Das Leitmotiv des Road Movies zieht sich durch Teile seines Werks, wie Im Laufe der Zeit (1976) mit den Irrwegen zweier Männer an der deutsch-deutschen Grenze. Allgegenwärtig bis in seine aktuellen Produktionen ist auch seine Beziehung mit den USA, über die er in Der amerikanische Freund (1977) eine provisorische Bilanz zieht, insbesondere nach einem längeren Nordamerikaaufenthalt Ende der 70er auf Einladung Francis Ford Coppolas.
Diashow : Filme von Wim Wenders
Fotos aus Filmen von Wim Wenders, mit freundlicher Genehmigung der Wim Wenders Stiftung.
Für die Diashow bitte Foto anklicken.
Werner Herzog
Eine weitere Größe der 70er und 80er Jahre ist selbstverständlich Werner Herzog. Sein faszinierendes Werk, das zwischen dokumentarischem Realismus und teils extremer Stilisierung oszilliert, beginnt mit Lebenszeichen (1968) und wird gefolgt von seinem großen, bis heute zeitlos gebliebenen Erfolg Aguirre, der Zorn Gottes (1972) mit der meisterhaften Schauspielkunst des exzentrischen Klaus Kinski. Nach weiteren, weniger bekannten Filmen, in denen er regelmäßig Laienschauspieler oder sogar einfache Passanten bewusst vor die Linse bringt, folgt 1979 die auf die kleinsten Szenen treugebliebene Neuverfilmung von Murnaus Nosferatu und schießlich Fitzcarraldo (1982) in Peru.
Alexander Kluge
In diese Reihe illustrer Cineasten ist neben einer kurzen Erwähnung von Rudolf Thome und seinem großen Einfluss des amerikanischen Kinos (etwa Beschreibung einer Insel, 1979) und Werner Schröter, zweifelsohne Alexander Kluge zu nennen. Der Regisseur alterniert Fiktion und Theoretisches und praktiziert einen äußerst heterogenen Stil - Collage, Verschachtelungen, Aphorismen, welche eine Komplizenschaft mit einem perfekten «Über-Zuschauer» schaffen sollen. Sein Werk ist von unerwarteten Wendungen, Paradoxen und sogar wörtlich genommene Metaphern bestimmt. So spaziert die Heldin in Patriotin (1979) mit einem Spaten herum, um die Anfänge der deutschen Geschichte buchstäblich «aufzugraben» oder in Die Macht der Gefühle (1983) werden Emotionen etwa in der Oper wie Gegenstände in einer Fabrik hergestellt.
Volker Schlöndorff
Darüber hinaus ist natürlich der bis heute äußerst aktive Volker Schlöndorff zu nennen. Er sieht sich eher als Regisseur, denn als Autorenfilmer und die Liste seiner Verarbeitung klassischer Literatur aus zahlreichen Ländern, von Musil, Kleist, Brecht, Böll, Grass, Frisch, Proust,... scheint endlos. Herauszuheben sind hier Der junge Törless (1966), Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1975) und natürlich Die Blechtrommel (1979), welche den Oskar in Hollywood und die Goldene Palme in Cannes bekommt und den Höhepunkt des Neuen Kinos kennzeichnet. Schlöndorffs schon erwähntes politisches Engagement ist ebenfalls allgegenwärtig in seinem Werk, wie in Die Geschichte der Dienerin (1990), in Anlehnung an Margaret Atwoods Roman.
Rainer Werner Fassbinder
Für ein komplettes Panorama muss abschließend noch der herausragende Rainer Werner Fassbinder Erwähnung finden. Mit großem Einfluss seiner antikonformistischen Schauspielertruppe «Antitheater» lehnt er sich ebenfalls stark an die Nouvelle Vague an und seine Filme tragen zahlreiche Widmungen an Claude Chabrol, Eric Rohmer, Jean-Marie Straub und andere. Seine sehr reichhaltige Produktion wird manchmal als «industrielles» Kino betrachtet, zeigt jedoch eine fortlaufende Evolution und eine unglaubliche Diversität: von schwarzen Filmen zu Western, vom BRD-Milieu der 50er zu Amerikanismus. Sein filmisch, politisches und soziales Engagement setzt sich unter anderem für das Proletariat, die Arbeiterbewegung, Einwanderer und Homosexuelle ein. Als essentielle Auswahl seiner über 42 Filme in nur 13 Jahren (Fassbinder stirbt 1982) können folgende Titel betrachtet werden: Katzelmacher (1969), Angst essen Seele auf (1974), Fontane Effi Briest (1974), Faustrecht der Freiheit (1975), Die Ehe der Maria Braun (1978), Berlin Alexanderplatz (1980) mit einer Gesamtdauer Dauer von 14 (!) Stunden und Die Sehnsucht der Veronika Voss (1981), Teil seiner berühmten BRD-Trilogie.
Etwas mehr als zehn Jahre nach der ersten innovativen Strömung des Oberhausener Manifests, kann man um 1975 vom «Neuen Deutschen Film» sprechen. Nach den unvergleichbaren 20er Jahren sind deutsche Regisseure nun erstmals wieder international renommiert. Der Erfolg im In- und Ausland zeigt sich etwa in einer 1976 erschienenen Newsweek-Ausgabe mit der Titelgeschichte vom «German Film Boom», in der folgendes zu lesen ist: "Mehr als 40 Jahre nachdem der Nationalsozialismus den goldenen Zeiten des deutschen Films ein Ende bereitet hat, bringt eine engagierte Mannschaft junger Regisseure Deutschland auf die kinematographische Landkarte zurück.". Das junge Kino wird durch Kassen- und Publikumserfolge erwachsen; große Produktionen lösen den fast verschwundenen Papafilm ab; Fernsehsender wie das ZDF entwickeln sich immer stärker und lösen staatliche Unterstützungen ab.
Die Auseinandersetzung mit der RAF-Zeit und die Aufarbeitung der Geschichte
Vor allem aber engagieren sich viele Cineasten politisch und setzen sich gegen die repressiven Sicherheitsmaßnahmen der Regierungskoalition ein. Kluge, Schlöndorff, Fassbinder und andere verarbeiten die RAF-Zeit, besonders das Jahr 1977 im Kollektivfilm Deutschland im Herbst (1978), in dem unter anderem der mysteriöse Gefängnistod von Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Gudrun Ensslin, die Ermordung von Arbeitgeberpräsident Hans Martin Schleyer und die Befreiung eines entführten Flugzeugs durch das Sondereinsatzkommando in Mogadischu thematisiert werden. Man trifft auf Filme wie Die bleierne Zeit (1981) oder Rosa Luxemburg (1986) von der stark links orientierten Margarethe von Trotta, die bis heute als Regisseurin tätig ist. Geschichtsaufarbeitung wird geboten in Ludwig, Requiem für einen jungfräulichen König (1972) und Hitler, ein Film aus Deutschland (1977) von Hans Jürgen Syberberg oder Aus einem deutschen Leben (1976) von Theodor Kotulla.
3. Die 80er Jahre: Rückgang der qualitativen Filmproduktion
Die 80er Jahre bringen jedoch wieder einen langsamen Rückgang der Filmproduktion mit sich. Wurde auf dem Filmfest Hamburg 1979 die cineastische Einheit mit Retrospektive und Erneuerung des Oberhausener Manifests bekräftigt und unterstützte man kollektiv Werner Herzog, dem vorgeworfen wird, für Fitzcarraldo die Einheimischen in Peru ausgenutzt zu haben, und werden selbst noch große Erfolge verzeichnet mit Christiane F.- Wir Kinder vom Bahnhof Zoo (1981) und Das Boot (1979-81), so scheint der deutsche Film nun wieder zu verkümmern. Nach den Erfolgsjahren klafft die Unterscheidung Autoren- vs. Vergnügungskino wieder auf.
Das Jahr 1982 mit dem Tod Fassbinders und einer von der CDU geführten Koalition zeichnen das Ende einer Epoche. Die staatlichen Mittel gehen zurück. 1984 bekommt Wim Wenders zwar für Paris-Texas noch die Goldene Palme, in Deutschland jedoch erhält der Film kaum Aufmerksamkeit und schlägt diverse Polemiken los. Die steigende Individualisierung und Mobilität der Cineasten führt zu dem Vorwurf, sie träfen sich nur noch an den Flughäfen und auch andere Tendenzen wirken negativ auf das künstlerische Film- und Kinoschaffen. Das Kino wird mehr und mehr in große Medienkonzerne wie Kirch und Bertelsmann eingebunden, die Konkurrenz vom Fernsehen wird stärker und die großen Kassenschlager (z.B. Otto - der Film) sind absolut nicht exportierbar.
Nun treten zunehmend deutsche Produzenten im Ausland wie Bernd Eichinger mit etwa Der Name der Rose (1986), Das Geisterhaus (1993) - auch bis heute mit Fräulein Smillas Gespür für Schnee (1996) und Das Parfum (2006) - oder Wolfgang Petersen mit Die unendliche Geschichte (1984) ins Rampenlicht, und dies teils mit internationalen Koproduktionen.
Abschließend sei noch Wim Wenders Rückkehr zum emotionalen Film in Der Himmel über Berlin (1987) hervorgehoben. Der Cineast, der wohl seit jeher im Ausland stärkere Resonanz als im Inland bekommen hat, bedient sich in diesem außergewöhnlichen, sogar manchmal in der Sekundarstufe in Frankreich behandelten Film der Techniken des experimentellen Kinos. Seine Engel überfliegen symbolisch die geteilte Stadt, die dialektische Farbgebung des Films ragt heraus und die Verarbeitung großer, philosophischer Themen erfolgt äußerst gelungen. Dieser heutzutage wohl immer noch berühmteste lebende deutsche Regisseur, wendet sich in der Folge, kleinen Filmgeschichten wie Lisbon Story (1995), Musikdokumentationen wie Buena Vista Social Club (1999) und The Soul of a man (2003) und wiederum amerikanische Thematiken wie in The Million Dollar Hotel (1999) und Land of Plenty (2004) hin.
Pour citer cette ressource :
Markus Arnold, Film im geteilten Deutschland, La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), décembre 2007. Consulté le 21/11/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/arts/cinema/film-im-geteilten-deutschland