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Das Krankheitsmotiv in der Lyrik des Andreas Gryphius

Par Ferdinand Schlie : Elève - ENS de Lyon
Publié par mduran02 le 07/05/2012

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Les métaphores exprimant la vanité de l’existence parcourent la littérature baroque et la poésie d’Andreas Gryphius. L’article se concentre sur le thème de la maladie comme expérience de la peur et de la vulnérabilité du corps dans deux sonnets d’Andreas Gryphius, et s’interroge sur l’intention qui sous-tend la description de l’existence comme parcours éprouvant et douloureux.

Gravure d'Andreas Gryphius

Andreas Gryphius,  Kupferstich von Philipp Kilian, 17. Jahrhundert
Quelle: wikipedia
 

„Ich bin nicht, der ich war“

Zur Bedeutung des Krankheitsmotivs in der Lyrik des Andreas Gryphius am Beispiel der zwei Sonette „Tränen in schwerer Krankheit“

Diese Hausarbeit wurde im Rahmen des Hauptseminars Lyrik in der Epoche des „Barock“ unter der Leitung von Prof. Dr. Wilhelm Kühlmann an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg im Wintersemester 2010/2011 geschrieben.

Einleitung

Problemstellung

„Es ist alles ganz eitel“ (Die Bibel, 2009, Prediger 12:8) – in keiner Epoche hat dieses Bibelzitat wohl eine so gewaltige Wirkung entfaltet wie im 17. Jahrhundert. In Dichtung und bildender Kunst häufen sich die Bemühungen, die Hinfälligkeit und Nichtigkeit alles Irdischen durch eine Vielzahl von Metaphern und Vergleichen besonders eindrücklich darzustellen. Die bald zerplatzte Seifenblase, die schnell verblühte Rose und die erloschene Kerze werden zu Sinnbildern der ‚Eitelkeit’ des menschlichen Lebens und verschaffen jenem Teil der christlichen Lehre, der die Vergänglichkeit der irdischen Güter dem Ewigen gegenüberstellt, besondere Geltung.

Die „Sonnete“ des Andreas Gryphius gehören zweifellos zu den bekanntesten Beispielen der ‚Vanitas-Dichtung’. Es finden sich hier zahlreiche Gedichte, die nicht nur die Thematik der ‚Eitelkeit’ umkreisen, sondern auch die in den Werken der Zeit oft mit ihr zusammenhängenden sprachlichen und metaphorischen Mittel wirkungsvoll einsetzen. Gryphius versteht es dabei nicht nur, die Kürze des menschlichen Lebens durch zahlreiche Sinnbilder zu evozieren (vgl. Fricke 1933; Jöns 1966), sondern auch, in seinen Gedichten das Augenmerk des Lesers auf solche Situationen zu richten, welche die Hinfälligkeit und die damit verbundenen Ängste, Nöte und Qualen besonders deutlich hervortreten lassen. Der Krieg bringt Zerstörung, Tod und Verlust der irdischen Anhaltspunkte mit sich (vgl. das Sonett „Threnen des Vatterlandes“ in Gryphius 1963, S. 48) ; in der Einsamkeit richten sich die Gedanken des meditierenden Ichs auf die Zeitlichkeit, der alles, was es umringt, unterworfen ist (vgl. das Sonett „Einsambkeit, a. a. O., S. 68); in schwerer Krankheit wird der Mensch unmittelbar mit dem eigenen Lebensende konfrontiert.

Das Krankheitsmotiv scheint für Gryphius zur Behandlung der Vanitasthematik scheinbar besonders geeignet gewesen zu sein: Man trifft es im „Ersten Buch“ der Sonette von 1643 nicht weniger als fünfmal an. Die Titel dieser fünf Sonette zeigen – bei aller thematischen Gemeinsamkeit – an, auf welchen Punkt Gryphius jeweils besonderes Gewicht gelegt hat. In „An die Freunde“ (a. a. O., S. 54 f.) sowie in „An die umbstehenden Freunde“ (a. a. O., – S. 60) wird die soziale Dimension, das Abschiednehmen des lyrischen Ichs von seinen ihm beistehenden Weggefährten in den Vordergrund gerückt; in „An sich selbst“ (a. a. O., S. 61) steht die Selbstbeobachtung und -aussprache des hilfsbedürftigen, von den Ärzten verlassenen Ichs im Mittelpunkt; in „Threnen in schwerer kranckheit“ (Sonett IX, a. a. O., S. 34) bzw. „Threnen in Schwerer Kranckheitt“ (Sonett XLV, a. a. O., S. 59) werden insbesondere die Angst des Ichs und sein körperlicher Verfall geschildert.

Dass Gryphius das Thema ‚Krankheit’ verschiedentlich variiert hat, wirft die Frage auf, worin der besondere Reiz dieses Motivs für den Dichter lag und welcher Platz ihm in Gryphius’ lyrischer Produktion zuzuweisen ist. Anhand der zwei zuletzt genannten Sonette soll in der vorliegenden Arbeit der Bedeutung des Krankheitsmotivs in der Lyrik des Andreas Gryphius nachgegangen werden. Die Darstellung des kranken Menschen als ‚Sonderfall’ der Vanitasdichtung soll anhand von drei Fragen untersucht werden, die nacheinander behandelt werden: Inwiefern ist das Thema ‚Krankheit’ dazu geeignet, dem Leser die Hinfälligkeit des menschlichen Körpers besonders eindrucksvoll vor Augen zu führen? Was genau sagt die Krankheit über das Wesen des Menschen aus, und wie gestaltet Gryphius diese anthropologische Aussage? Welche Deutungsmuster sollen bei der Frage nach der ‚Intention’ dieser Gedichte angewandt, welcher Standpunkt soll bei der Interpretation der Gedichte eingenommen werden: ein rein ästhetischer, ein religiöser oder gar ein politisch-sozialer?

Textgeschichte

Zur näheren Bestimmung der Textgrundlage sind zunächst einige Anmerkungen zur Druckgeschichte sowie zu den verschiedenen Fassungen der zwei Gedichte vorauszuschicken (vgl. Gryphius 1963, S. XII ff.).

Eine frühe Fassung des Sonnets IX erschien unter dem Titel „Trawrklage des Autoris / in sehr schwerer Kranckheit. A. MDCXXXVI Mense Febr.“ (a. a. O., S. 8) in der 1637 in Lissa gedruckten Sammlung „Sonnete“. In überarbeiteter Form erschien das Gedicht anschließend unter neuem Titel in der 1643 in Leiden gedruckten Sammlung „Sonnete. Das erste Buch“, in der auch das Gedicht „Threnen in Schwerer Kranckheitt“ (Sonett XLV) erstmals erschien. In beiden Gedichten gebraucht Gryphius den Alexandriner und den durchgehenden, regelmäßigen Jambus. Insgesamt wurden beide Sonette nach 1643 zu Gryphius’ Lebzeiten in sechs weiteren Sammlungen gedruckt, wobei in drei von diesen Sammlungen bei beiden Sonetten zumeist leichte, in einigen Fällen aber größere Abweichungen von der 1643 publizierten Fassung auffallen. Im Folgenden sollen die von Gryphius vorgenommenen Änderungen in den Kommentar mit einbezogen werden; als Grundlage dient jedoch die Ausgabe letzter Hand, die 1663, ein Jahr vor dem Tod des Dichters, erschien.

Sprechsituation und Titel

Vor der eigentlichen Analyse der beiden Sonette ist noch eines festzuhalten: Gemeinsam ist den Gedichten nicht nur das Thema und der Titel, sondern auch die Sprechsituation. In beiden Sonetten äußert sich ein „Ich“ über den eigenen körperlichen und seelischen Zustand, was die Frage nach dem eventuell autobiographischen Charakter der Texte aufwirft. Verschiedene Interpreten – darunter Hermann Palm (vgl. Gryphius 1884) und Erich Trunz (vgl. Trunz 1956) – sind von einem biographischen Bezug der Texte ausgegangen, wobei sie nicht zuletzt auf die Datumsangabe hingewiesen haben, die im Titel der „Trawrklage des Autoris“ enthalten war.

In der jüngeren Forschung warnt Wolfram Mauser davor, bei der Deutung des Gedichts von einem biographischen Bezug auszugehen (vgl. Mauser 1976, S. 134 ff.): Entscheidend sei nicht die – letztlich anekdotische und belanglose – ‚reale’ Erkrankung des Dichters, sondern die „Formulierung eines Themas von allgemeinem Interesse“ (a. a. O., S. 134), die der Dichter anhand der Schilderung einer Krankheit in seinem Text vornehme – ob dieser nun auf einer authentischen Erfahrung beruhe oder nicht. Das sprechende „Ich“ ist somit nicht in erster Linie das Ich des Dichters, sondern eine exemplarische Verkörperung „des angefochtenen Menschen“ (Mauser 1988, S. 223); es tritt als Beispiel für die Bedeutung des Allgemeinen in den ‚Dienst der Sache’, in diesem Fall der Frage nach dem eigentlichen Wesen des Menschen, das in der Krankheit besonders eindeutig zutage tritt. So ist es kein Zufall, wenn Gryphius bei der Überarbeitung der „Trawrklage des Autoris / in sehr schwerer Kranckheit“ auch den Titel entscheidend geändert hat: Zu sehr ins Biographische zielende Elemente wie die Formulierung „des Autoris“ und die Zeitangabe wurden getilgt.

Unter diesem Gesichtspunkt ist nun der endgültige Titel der beiden Sonette kurz zu kommentieren. Der Begriff „Threnen“ darf nicht als Ankündigung eines emotionsgeladenen Bekenntnisgedichtes, in dessen Mitte das leidende Individuum steht, missverstanden werden; wie schon im Gedicht „Threnen des Vatterlandes“ fungiert er vielmehr als Affektindikator, als sprachliches Korrelat von Zuständen wie tiefer Ergriffenheit und Erschütterung. Dieses Wort, das insbesondere in der religiösen Poesie zum Inbegriff des menschlichen Lebens im Zeichen des gekreuzigten Heilands wurde (vgl. Mauser 1976, S. 147), signalisiert, dass die in diesem Gedicht beschriebenen Nöte und Qualen das menschliche Leiden schlechthin meinen, nicht etwa die besonderen Schmerzen des Einzelnen. Behandelt wird das Thema ‚Krankheit und Schmerzen’ in Form einer Klage – dies jedenfalls lässt die Ähnlichkeit des Wortes „Threne“ zum griechischen „thrénos“ vorausahnen, das soviel wie „Klagelied“ bzw. „Grabgesang“ bedeutet.

Ursache der vom Ich durchlittenen Schmerzen ist schwere Krankheit, wobei auch hier für den neuzeitlichen Leser die Gefahr besteht, das Gedicht als bloße Verarbeitung von Erlebtem zu deuten. Zu bedenken ist hier, dass Krankheit im 17. Jahrhundert zwar eine allgegenwärtige und für den Einzelnen kaum zu umgehende Erfahrung darstellte, aber auch als Thema der Literatur in ganz Europa verbreitet war und in einer Tradition stand, deren Ursprünge im Renaissancehumanismus zu suchen sind (vgl. Kühlmann 1992). Es entstand in dieser Zeit ein regelrechter „Gedichttypus mit der topischen Überschrift De se aegrotante“ (a. a. O., S. 3), in dem sich „ein dichtendes Ich mit dem – wie auch immer authentischen – Erlebnis seiner Erkrankung und des körperlichen Leidens“ (ebd.) auseinandersetzte. Der im Titel vorhandene Begriff „Kranckheit“ ist somit keineswegs als Ankündigung von Erlebnislyrik zu deuten, sondern vielmehr als Hinweis darauf, dass hier ein bestimmtes, in jener Zeit vielfältig bearbeitetes Thema ‚durchgeführt’ wird (vgl. Trunz 1956, S. 74). Eben nach der Art und den Mitteln der ‚Durchführung’ soll nun in den ersten beiden Teilen dieser Arbeit gefragt werden.

I. Schilderung der Krankheit

In beiden Sonetten stehen die Quartette im Zeichen der eindrucksvollen, drastischen Schilderung des Siechtums.

1. Das erste Quartett

Auffallend ist zunächst, dass beide Gedichte mit einer Aussage beginnen, die auf den – durch die Krankheit bedingten – Verlust der „inneren Sicherheit“ und „Orientierungsfähigkeit“ (Mauser 1988, S. 226) hinweisen. „Ich bin nicht / der ich war“, heißt es im ersten Halbvers des Sonettes IX; das lyrische Ich stellt der gesunden Vergangenheit die durch Schmerz und Schwäche gekennzeichnete Gegenwart gegenüber und stellt an sich selbst eine tiefgreifende Veränderung fest, die im vierten Vers in der Erfahrung der Selbstentfremdung gipfelt: „Ich werde von mir selbst nicht mehr in mir gefunden“. Die Krankheit hat den Körper des lyrischen Ichs dermaßen entstellt, dass es sich selbst nicht wiedererkennt; in Zeiten der Krankheit bricht die körperliche Hülle als identitätsstiftender, fester Bezugspunkt weg. Die Steigerung, die sich im Übergang vom ersten Halbvers zum vierten Vers vollzieht, fehlt in der ersten Fassung des Gedichtes; Gryphius hat sie wohl hinzugefügt, um die Orientierungslosigkeit des Ichs eindrücklicher zu gestalten.

Das Sonett XLV hebt mit einer Aussage an, die in die gleiche Richtung zielt: „Mir ist ich weis nicht wie“. Hier ist es die Unfähigkeit des lyrischen Ichs, seinen Zustand klar zu erkennen und zu benennen, die auf Desorientierung und Verlust der bisherigen Anhaltspunkte hinweist.

Kündigten die beiden ersten Halbverse der Sonette gleichsam den Grundgedanken des Gedichtes an, so wird dieser in den folgenden Versen durch Beispiele, also durch Nennung der verschiedenen Krankheitssymptome, veranschaulicht. Unter Rückgriff auf einen in der Literatur des 17. Jahrhunderts fest etablierten Fundus an topischen Krankheitssymptomen (vgl. Mauser 1976, S. 145) wird nun der Vorgang des physischen Verfalls mit „physiologischer Genauigkeit“ (a. a. O., S. 139) festgehalten.

Auf die Feststellung der allgemeinen körperlichen Schwäche in Form eines Ausrufs, der den Schrecken und die Hilflosigkeit des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringt („die kräffte sind verschwunden!“), folgen im Sonett IX zwei genauere Symptome: „Die glider sind verdort / als ein durch brandter graus. / Mir schawt der schwartze tod zu beyden augen aus“. Die im ersten Halbvers des zweiten Verses bloß festgestellte Austrocknung der Glieder wird nach der Zäsur durch einen Vergleich intensiviert, in dem Gryphius zwei Gedanken komprimiert: der Ausdruck „durch brandt“ spielt auf das den Körper verzehrende Fieber an und erklärt das Adjektiv „verdort“, während der „graus“ die Wirkung des Fiebers auf das Gemüt, also gleichsam das Affektkorrelat der Krankheit, schildert. Der dritte Vers weist nicht nur auf die Trübung der Augen und die geschwächte visuelle Wahrnehmung hin, sondern enthält auch einen Hinweis auf die Natur der Krankheit: Der „schwartze tod“ ist eine Umschreibung für die Pest (an der Gryphius wohl selbst nie erkrankt ist – ein weiterer Heinweis dafür, dass der Text als Rollengedicht zu lesen ist. Vgl. Kemper 1987, S. 115). Der unmittelbar bevorstehende Tod des von dieser Seuche befallenen lyrischen Ichs wird somit zur beängstigenden Gewissheit. Bemerkenswert ist auch die Formulierung „Mir schawt (...)“, durch die der Tod zum grammatikalischen Subjekt und eigentlich Handelnden wird, während das lyrische Ich die Inbesitznahme des Körpers durch die Krankheit nur noch passiv erleiden kann.

Während im ersten Quartett des Sonettes IX die physischen Symptome der Krankheit im Vordergrund stehen, hebt das erste Quartett des Sonettes XLV vor Allem die Auswirkungen der Krankheit auf das Gemüt des lyrischen Ichs hervor. Seufzen und Weinen („ich seuftze für undt für. / Ich weine tag und nacht“) sind Ausdruck der Angst („tausendt fürcht ich noch“) und der Hoffnungslosigkeit („die krafft in meinem hertzen / Verschwindt“) des Sprecher-Ichs. Auch das „[V]erschmacht[en]“ des „geistes“ ist nur die psychische Konsequenz der körperlichen Erkrankung. Physische Symptome der Krankheit sind lediglich die „schmertzen“ und die kraftlosen, sinkenden Hände („die hände sincken mir“). Nachdruck verleiht Gryphius der Not des lyrischen Ichs durch den ‚abgehackten’ Rhythmus des ersten und vierten Verses, der „atemlos“ klingt und den „Eindruck des Kraftlosen, Erlöschenden [bestärkt] “ (Trunz 1956, S. 71), sowie durch Wiederholungen („für undt für“, „ich sitz in tausend schmertzen; / Undt tausendt fürcht ich noch“), Hyperbeln („Ich weine tag undt nacht“, „ich sitz in tausend schmertzen“) und durch den Zeilensprung, der das Verb „Verschwindt“ an den Anfang des vierten Verses platziert und somit die Hoffnungslosigkeit betont.

2. Das zweite Quartett

Wurden im ersten Quartett des Sonetts IX die genannten Symptome noch vom lyrischen Ich kommentiert, so steht das zweite Quartett nun ganz im Zeichen der beklemmenden Schilderung. Das Stillstehen des Atems („Der Athem will nicht fort“) unterstreicht erneut, dass der Tod unmittelbar bevorsteht, was im achten Vers durch die Zeitangabe „noch inner wenig stunden“ bestätigt wird. Die zum Sprechen nötige Kraft kann das geschwächte Ich nicht mehr aufbringen, es verstummt: „die zunge steht gebunden.“ Die Zweiteilung des Alexandriners durch die Zäsur ahmt auch hier die Atemlosigkeit und Schwäche des lyrischen Ichs nach.

Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass erstmals in ein und demselben Vers zwei verschiedene Symptome genannt werden; die Aufzählung gewinnt somit an Dichte und wird beklemmender. Die in der ersten Fassung des Gedichtes im vierten Vers enthaltene Aussage „Nichts wird als Haut und Bein mehr an mir ubrig funden“ hat Gryphius bei der Überarbeitung des Sonettes in den sechsten und siebten Vers verlegt: „Wer siht nicht / wenn er siht die Adern sonder Mauß / Die armen sonder fleisch [...]“; was für Leben und Vitalität steht – Muskeln und Fleisch –, ist am abgezehrten Körper nicht zu finden, übrig bleibt nur noch das ‚biologische Minimum’: Adern und Glieder.

Formal fällt der Gebrauch der rhetorischen Frage auf („Wer siht nicht [...]“), durch die der Leser angesprochen und einbezogen wird. Die Wiederholung des Verbs „sehen“, die in der ersten Fassung des Gedichtes fehlt, lässt das Bild des kranken Leibes – dessen Abgezehrtheit durch die Wiederholung des Adverbs „sonder“ unterstrichen wird – nur noch eindringlicher vor seinem geistigen Auge entstehen. Zu kommentieren ist auch die metaphorische Umschreibung des Körpers als „schwaches haus“, das kurz vor dem Zusammenbruch steht: Implizit wird hier auf das hingewiesen, was in diesem Haus wohnt – die menschliche Seele. Das Sonett reiht sich somit in die jahrtausende alte, schon bei Platon vorhandene Unterscheidung von ‚körperlicher’ und ‚geistiger’ Substanz ein – (vgl. Platon 2011, S. 82e); an der Schwelle zum Tode zeigt sich in diesem Gedicht das ‚eigentliche Ich’, das als geistiges Subjekt souverän auf den Verfall des eigenen „haus[es]“, des eigenen Körpers hinweist und ihn – auf diesen Punkt wird noch genauer einzugehen sein – gleichsam zum Emblem der Vergänglichkeit werden lässt.

Auch das zweite Quartett des Sonettes XLV führt zunächst die Schilderung der Krankheitssymptome fort. Allerdings wird hier stärker als im Sonett IX das Allmähliche, Prozesshafte der Verschlechterung herausgearbeitet, so dass für den Leser der Eindruck entsteht, er wohne dem Verfall, dem Hinübergleiten in den Tod unmittelbar bei: „Die wangen werden bleich / der schoenen augen zier / Vergeht“ [von F. S. hervorgehoben]. Das Adjektiv „bleich“ wird hier – wie so oft bei Gryphius (vgl. Fricke 1933, S. 65) – als „Ausdruck des Leidens und Dahinschwindens“ (ebd.) gebraucht; es fungiert als farbliches Signal der Vergänglichkeit.

Überhaupt steht der Aspekt der Vergänglichkeit hier viel mehr im Vordergrund als in den Quartetten des Sonettes IX. Die schon im Sonett IX vorhandene Trübung der Augen wird hier insofern anders behandelt, als sie mit dem Verlust der „[S]chön[heit]“ verbunden und dadurch mit dem Motiv der ‚Eitelkeit’, der Hinfälligkeit dessen, was auf Erden wertgeschätzt wird, verknüpft wird. Der Aspekt der Vergänglichkeit wird überdies durch den Zeilensprung hervorgehoben, der das Verb „vergehen“ an den Anfang des sechsten Verses platziert. Der Vergleich – „gleich als der Schnee der schon verbrandten kertzen“ – zielt in die selbe Richtung: Das tertium comparationis zwischen dem „Schnee“ – also dem weißen Wachs – der Kerzen einerseits und der Augenzier andererseits besteht nicht nur darin, dass beide „vergehen“, sondern auch darin, dass beide sehr schnell zunichte werden. Indiz dafür ist das Adverb „schon“ sowie die Tatsache, dass das Wachs metaphorisch als „Schnee“ umschrieben wird; Schnee aber zählt bei Gryphius zu den Elementen, die als Inbegriff des Unbeständigen, Kurzlebigen fungieren (a. a. O., S. 52).

So wie im ersten Quartett dieses Sonetts nicht nur die physischen Anzeichen der Krankheit, sondern auch und insbesondere deren Auswirkungen auf das Gemüt geschildert wurden, so geht das Ich auch im zweiten Quartett auf die seelischen Implikationen der Krankheit ein: „Die Seele wird besturmbt gleich wie die see im mertzen“. Anders als im ersten Sonett wird die im Körper wohnende „Seele“ also ausdrücklich genannt; die Krankheit erscheint – auch dies wird noch genauer zu untersuchen sein – als eine Prüfung, welche die Seele angreift und der diese scheinbar hilflos ausgeliefert ist. Veranschaulicht wird dies durch den Vergleich zwischen der Seele und der stürmischen See im März, einer besonderen Ausprägung des Motivs der navigatio vitae. Traditionell wird der den Anfechtungen des Lebens ausgesetzte Mensch dort mit einem Schiff verglichen, das Stürme und rauen Seegang zu überstehen hat, bevor es den sicheren Hafen erreicht, der in der christlichen Tradition oft für den Tod und die Vereinigung der Seele mit Gott steht. Von einem Schiff ist in diesem Gedicht jedoch nicht die Rede; vielmehr scheint das dem Sturm ausgesetzte Meer hier selbst für die „durch das bewegte und bewegende Chaos der Dinge rastlos gepeitscht[e]“ Seele zu stehen (Trunz 1956, S. 72), die von den Widrigkeiten des Lebens – in diesem Falle der Krankheit – ‚bestürmt’ wird.

Bei den beiden soeben kommentierten Vergleichen im sechsten und im siebten Vers des Sonetts handelt es sich nicht um bloß schmückende rhetorische Stilmittel; in beiden Fällen liegt, wie Erich Trunz gezeigt hat, der Parallele zwischen dem Ich und den Objekten der Welt ein tieferer Sinn zugrunde. Bei den Vergleichen, so Trunz, ziehe Gryphius „Bilder aus dem Makrokosmos“ (ebd.) – in diesem Falle die Kerzen und das Meer – heran, die verdeutlichen sollen, dass das mikrokosmische Schicksal des Einzelnen eine Entsprechung im „allgemeine[n] Weltschicksal“ (ebd.) findet. „Vergänglichkeit und Geworfenheit“ (ebd.) gelten nicht nur für das Ich, sondern gleichermaßen für alles Irdische überhaupt. So kommt auch der letzte Vers des zweiten Quartetts – „Was ist dis leben doch! was sindt wir / ich und ihr?“ – „nicht ganz unvorbereitet“ (ebd.): Auf die makrokosmischen Bilder, die einen Bezug zwischen dem Ich und der Welt herstellen, folgt die anthropologische Grundfrage nach dem, was der Mensch eigentlich sei. Allgemeines und Individuelles („ich und ihr“) wird im achten Vers zusammengefasst („wir“). Die Krankheit als individuelle Erfahrung führt über den Vergleich zwischen den Krankheitssymptomen und Dingen aus dem Makrokosmos zur Erkenntnis, dass alles Geschaffene vergänglich ist; unter diesem Gesichtspunkt wird nun vom lyrischen Ich die Frage nach dem Wesen des Menschen gestellt.

II. Der anthropologische Aussagegehalt der Krankheit

Dienten die Quartette in beiden Sonetten dazu, die durch die Krankheit hervorgerufenen physiologischen Veränderungen und – vor allem im Sonett XLV – ihre Auswirkungen auf das Gemüt darzustellen, so steht nun in den Terzetten das im Vordergrund, was die Krankheit über den Menschen aussagt: Er ist ein kreatürliches, dem Tod geweihtes Wesen.

1. Sonett IX: Makrokosmischer Vergleich und Sterbeakt

Im ersten Sonett greift Gryphius zur Veranschaulichung dieser Tatsache auf ein bereits aus dem Sonett XLV bekanntes Verfahren zurück: Durch den Vergleich zwischen dem Körper des lyrischen Ichs und einer Wiesenblume wird ein „makrokosmischer Bezug“ hergestellt (Mauser 1976, S. 139). Wieder wird das individuelle Schicksal des Ichs in ein allgemein-irdisches Schicksal eingebettet. Der Vergleich, den es hier zu kommentieren gilt, hat jedoch eine weit größere anthropologische Tragweite als der des Sonettes XLV: War es in diesem Gedicht nur „der schönen augen zier“, die verging, so ist es hier das Ich an sich, das „vor der zeitt“ stirbt, genauer gesagt das Ich in seiner körperlichen, natürlichen und somit vergänglichen Dimension, denn genau unter diesem Aspekt wird es hier mit der „wiesenblum“ verglichen.

Der neunte und zehnte Vers gehen zunächst auf das erste Glied des Vergleichs, die Blume, ein. Gemäß der schon in der Bibel vorhandenen Metaphorik (vgl. Jöns 1966, S. 237 ff.) wird die Kurzlebigkeit der Blume hervorgehoben, die morgens aufblüht und vor Tagesende, ja „noch ehr der mittag weggeht / fällt“. Auffallend ist die metaphorische Umschreibung „licht der welt“ für die Sonne; durch den Begriff „welt“ wird verdeutlicht, dass alles Kreatürliche, alles von der Sonne beschienene dem gleichen Schicksal unterworfen ist (vgl. Mauser 1976, S. 131).

Ab dem elften Vers kommt die Sprache auf das lyrische Ich, das zweifach mit der Blume verglichen wird, wobei die Tageszeiten – Morgen und Mittag – jeweils mit Stationen im Leben des Ichs gleichgesetzt werden. Zum Einen wird durch den metaphorischen Ausdruck „threnentaw“ der morgendliche Tau der Blume mit den Tränen gleichgesetzt, die – ob von der Mutter oder vom Neugeborenen selbst – bei der Geburt des lyrischen Ichs vergossen wurden. Berücksichtigt man den Titel des Gedichtes, so wird klar, dass die Tränen die irdische Existenz gleichsam umrahmen: Sie werden sowohl bei der Geburt als auch beim Sterben, „in schwerer kranckheit“, vergossen. Auch hier zeichnet sich eine anthropologische Aussage ab: Das Leben ist nicht nur vergänglich, es ist auch von Leid und Traurigkeit gekennzeichnet; der Hinweis auf die Tränen definiert das Leben als Jammertal, als „Folter“, um auf den Titel einer „Leichabdankung“ Gryphius’ zurückzugreifen.

Dem verfrühten Fallen der Blume entspricht der frühe Tod des lyrischen Ichs, das „vor der zeitt“ stirbt. Syntaktisch gesehen fällt auf, dass der zwölfte Vers der einzige des gesamten Gedichtes ist, der durch einen Punkt in zwei geteilt wird; man mag hierin ein Zeichen der zunehmenden Schwäche des lyrischen Ichs sehen, das aus Kräftemangel gleichsam innehalten muss. Auch könnte der ‚syntaktische Bruch’ – das Abbrechen des Satzes mitten im Vers – auf formaler Ebene dem jähen Eintreten des Todes mitten im Leben entsprechen, der nun im Gedicht inszeniert wird.

Das Sonett endet damit, dass in der Schilderung des Krankheitsverlaufs die letzte Konsequenz aus der Beschreibung der Symptome und aus dem Vergleich zwischen dem physischen Ich und der Blume gezogen wird. Die Sterblichkeit des Ich wird nicht nur behauptet, sie wird uns unmittelbar vor Augen geführt. Durch die traditionsreiche Metapher der Nacht und des Schlafes wird im letzten Terzett des Gedichtes das Sterben des lyrischen Ichs dargestellt. Die Geburt war mit dem Hervorbrechen von Licht und Helligkeit assoziiert; darauf antwortet nun die ‚dunkle’ Todesmetaphorik. Zunächst erfolgt das topische, aus der antiken Literatur stammende Valet an die Welt, das hier in Form eines elegisch anmutenden Ausrufs vollzogen wird: „O erden gutte nacht!“. Der dreizehnte Vers führt anschließend den Sterbeakt fort, indem er die zweiteilige Struktur des zwölften Verses aufgreift: Im ersten Halbvers ist jeweils von der abgelaufenen Lebenszeit die Rede – „So sterb ich vor der zeitt“ bzw. „Mein stündlein laufft zum end“ –, im zweiten wird der gleiche Gedanke auf die metaphorische Ebene des Schlafes transponiert – „itzt hab ich ausgewacht“, heißt es im dreizehnten Vers. Erst ganz zum Schluss des Gedichtes nimmt die Metapher den ganzen Vers ein; dem entspricht auf inhaltlicher Ebene, dass auch der Todesschlaf nun vom lyrischen Ich ganz Besitz ergreift. Bemerkenswert ist die passive Formulierung – „Und werde von dem schlaff des todes eingenommen“ –, in der das Ausgeliefertsein, die Wehrlosigkeit des Ichs gegenüber Krankheit und Tod erneut zum Ausdruck kommt.

Führt das erste Sonett uns die Vergänglichkeit des Menschen durch einen über mehrere Verse ausgesponnenen Vergleich und die abschließende Darstellung eines Sterbeaktes vor Augen, so setzt Gryphius im Sonett XLV zur Vergegenwärtigung der ‚Eitelkeit’ menschlichen Lebens eher auf die Häufung von Sinnbildern der Vergänglichkeit sowie auf den wiederholten Gebrauch antithetischer Wendungen. –

2. Sonett XLV: Häufung und Antithetik

Erinnern wir uns zunächst daran, dass am Ende der Quartette eine Frage nach dem eigentlichen Wesen des Menschen stand; es fragt sich nun, inwiefern die Terzette als Antwort darauf zu verstehen sind. Eingeleitet werden die Terzette durch eine rhetorische Frage, welche die Struktur des achten Verses aufgreift und so gleichsam als ‚Echo’ auf diesen fungiert. ‚Einbildung’ – gemeint ist wohl die Fähigkeit, Projekte und ‚Lebensträume’ zu entwickeln – und Besitz („was wünschen wir zu haben?“) werden als menschliche „Orientierungshilfen“ infrage stellt (Kühlmann 1992, S. 7). Was dem modernen Menschen als Leitfaden und Halt gilt, irdische Zielsetzungen und irdische Güter, ist ebenso schwankend und vergänglich wie der Mensch selbst: „Das, was wir wertschätzen, sind kurzsichtig als Sicherungen empfundene Dinge der irdisch-nichtigen Welt; wir leben in einem Wertreich, das ein Wahn ist“ (Trunz 1956, S. 72 f.). Die rhetorische Frage des neunten Verses ist somit bereits als Antwort auf den achten Vers zu werten: „dis leben“ beruht auf einem Streben nach unbeständigen, keinerlei Halt bietenden Dingen.

Bestand das Sonett bislang nur in einer Reihung von Frage-, Ausrufe- und Aussagesätzen, so greift Gryphius nun zur näheren Bestimmung des menschlichen Wesens auf ein neues, in seiner Lyrik und in der Literatur des 17. Jahrhunderts überhaupt weit verbreitetes rhetorisches Stilmittel zurück: Das der Antithese. Zunächst werden im zehnten Vers durch die Zäsur zwei entgegengesetze Zustände einander gegenübergestellt: Eine „über gewöhnliches Maß hinausreichend[e] Position des Ich in der Welt“ (Kühlmann 1992, S. 7) durch sozialen Erfolg („hoch“) und die daraus erwachsende gesellschaftliche Achtung („gros“) wird durch den Hinweis auf den Tod („vergraben“) entwertet. Wieder wird die extreme Geschwindigkeit, mit der alles Irdische sich in sein Gegenteil verwandeln kann, hervorgehoben: auf „itzt“ antwortet im zweiten Halbvers „morgen“, und am Versende heißt es nicht etwa „tot“, sondern, die Antithetik zuspitzend, „schon vergraben“.

Was im zehnten Vers den ganzen Alexandriner ausfüllt, wird in der ersten Hälfte des nächsten Verses noch einmal in aller Knappheit – und diesmal metaphorisch – ausgedrückt: „Itz blumen / morgen kott“. Das bereits aus dem ersten Sonett bekannte Bild der Blume wird hier als Inbegriff des Blühenden und Schönen dem Kot, der für Widerwärtigkeit und Verfall steht, gegenübergestellt. Der rasche Übergang vom einen zum anderen, der dem Leser prägnant vor Augen geführt wird, beantwortet noch einmal die Frage nach dem Wesen dieses Lebens, indem es auf die Unbeständigkeit als seine wichtigste Eigenschaft hinweist.

Auch die nun einsetzende Häufung von Metaphern ist als Antwort auf die im achten Vers gestellte Grundfrage zu verstehen. Durch eine sich über anderthalb Verse erstreckende asyndetische Reihung von Bildern, die größtenteils der Bibel und insbesondere den Psalmen entlehnt sind (vgl. Jöns 1966, S. 235 ff.), unterstreicht Gryphius das Hauptmerkmal alles Kreatürlichen, die Vergänglichkeit. Jedes dieser sieben Bilder ist als ein „illustratives Konkretum“ (Fricke 1933, S. 133) zu werten, das uns die Nichtigkeit alles Körperlichen zu verstehen gibt.

Wie schon im ersten Sonett wird hier eine Parallele zwischen Mensch und Natur gezogen: Aus dem uns umgebenden, natürlichen Makrokosmos wird das „rasch Verschwindende“, „nicht mehr Wiederzufindende“ (Trunz 1956, S. 73) zur Versinnbildlichung der Vergänglichkeit des Menschen, also des Mikrokosmos, herangezogen. Das Inkonsistente, nicht Greifbare („windt“, „nebel“, „schatten“), das Dahineilende, nicht Aufzuhaltende („bach“), das schnell Vergehende („schaum“, „reiff“, „taw“) wird bemüht, um die Stellung des Menschen mit Nachdruck als eine unbeständige und letztlich unbedeutende zu definieren. Eindrücklich ist die äußerst dichte, ‚komprimierte’ Nennung von Dingen, die aufgrund ihrer instabilitas oder mutabilitas zu Verkörperungen des menschlichen Wesens werden (vgl. Jöns 1966, S. 240); es handelt sich um die „rhetorisch-nachdrückliche Darstellung“ einer Wahrheit, „in der Mensch und Dinge gleich sind“ (a. a. O., S. 238).

Der nächste Halbvers fasst den der Aufzählung zugrunde liegenden Gedanken noch einmal zusammen und beantwortet die im achten Vers gestellte Frage in Form einer begrifflichen Antithese: „Itz was undt morgen nichts“. Die Häufung von Bildern in den Versen 10 und 11 wird also durch zwei Halbverse, die das Wesen des natürlichen, körperlichen Menschen zunächst bildlich und dann begrifflich definieren, eingerahmt (vgl. Trunz 1956, S. 73); dies mag dazu dienen, der Unentrinnbarkeit des Gesetzes der Vergänglichkeit Nachdruck zu verleihen.

Wenn der Mensch „seinem Wesen nach“ ein „Was“ ist, „das ins ‚Nichts’ geht“ (ebd.), so ist es nicht verwunderlich, dass auch seine Taten nichts Bleidendes sind. Nachdem das lyrische Ich im dreizehnten Vers zu einer letzten Frage ausgeholt hat („und was sind unser thaten?“), gipfelt das Sonett in der Entwertung eines Elementes, das wie der Wunsch nach Besitz und herausgehobener sozialer Stellung „die moderne Persönlichkeit charakterisiert“ (Kühlmann 1992, S. 6): der „Stolz auf die eigene Leistung“ (ebd.). Die menschlichen Taten sind nichts als ein „traum“ – ein Begriff, den man im Kontext dieses um die Vanitasthematik kreisenden Sonetts zunächst schlicht als einen weiteren Hinweis auf die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit des menschlichen Treibens, auf die Nichtigkeit unserer Handlungen und ihrer Folgen versteht (vgl. das Sonett „Es ist alles eitell“ in Gryphius 1963, S. 34). Wolfram Mauser jedoch schlägt eine andere, überzeugende Lesart vor, indem er einen Kausalzusammenhang zwischen „angst“ und „traum“ herstellt und das Wort als Synonym für „Wunschdenken“ versteht: „Es ist Wunschdenken (Traum), das bitterer (herber) Angst entspringt, wenn man in den Taten (Verdiensten, Werken) anderes als Eitel-Irdisches sieht“ (Mauser 1988, S. 223 f.).

Im ersten Sonett wurde durch die Tränensymbolik die Allgegenwart des Leidens im menschlichen Leben hervorgehoben. Auch im Sonett XLV ist dieser Aspekt präsent: Unsere Taten sind kein ruhiger Traum, sondern ein „mit viel herber angst durchaus vermischter“. Das Wort „angst“ ist angesichts der anthropologischen Tragweite des Gedichtes wohl „allgemeiner [zu] fassen als in der Alltagssprache des 17. Jahrhunderts“ (Trunz 1956, S. 73). Es meint nicht nur die zeitweilige Furcht angesichts einer konkreten Bedrohung, sondern es kennzeichnet das menschliche ‚Lebensgefühl’ schlechthin: Die Feststellung, dass alles Irdische dem Prinzip der Vergänglichkeit unterworfen ist, verursacht im Menschen eine stets gegenwärtige, „nagende Ahnung“ (ebd.), dass auch seine Taten „sinnlos und nichtig“ (ebd.) seien. Das Gedicht endet somit mit einem pessimistischen Blick auf alles irdische Wirken.

Nachdem nun gezeigt wurde, dass Gryphius in beiden Sonetten auf plastische und eindrückliche Weise die Hinfälligkeit des Menschen thematisiert, soll die eigentliche ‚Deutung’ dieser Gedichte versucht werden. Worin liegt der ‚Sinn’ dieser drastischen Schilderung der Krankheit und der Behauptung der menschlichen Nichtigkeit, für die Gryphius virtuos auf verschiedene rhetorische Stilmittel zurückgreift? Worin liegt der ‚Zweck’ dieser Vergegenwärtigung der Vanitas, die mit allen Mitteln der Kunst durchgeführt wird?

III. Die Intention der Sonette

In Bezug auf den Inhalt des Sonettes XLV macht Erich Trunz eine Feststellung, die fast uneingeschränkt auch auf das Sonett IX zutrifft. Es sei bemerkenswert, so Trunz, dass die in anderen Texten des 17. Jahrhunderts oft anzutreffende Antwort auf die Vergänglichkeit des Menschen, der „Hinweis auf die Erlöstheit der Seele und das Unsterbliche im Menschen“ (Trunz 1956, S. 74), hier fehle, so dass der Eindruck entstehe, dem „düstere[n] Pessimismus“ (ebd.) sei nichts entgegenzusetzen. Diese Tatsache wird umso frappierender, wenn man die beiden Sonette etwa mit geistlichen Liedern aus dem 16. Jahrhundert vergleicht, in denen Krankheitsschilderungen stets dazu dienen, die „im Christusglauben angelegte Heilshoffnung“ (Kühlmann 1992, S. 5) anzuregen. Doch auch bei Gryphius selbst trifft man auf genügend Gedichte, in denen das Ewige explizit der hinfälligen, von Leid gezeichneten irdischen Welt entgegengestellt wird. Hier jedoch scheint die „Spannung zwischen Diesseits und Jenseits“ (Trunz 1956, S. 74) ganz ausgespart.

Wer genauer hinsieht, mag zwar erkennen, dass die ‚jenseitige’ Welt in beiden Gedichten diskret suggeriert wird: Im ersten Gedicht schwingt in der Metaphorik des Schlafes insofern Hoffnung mit, als es nach dem Schlaf ein Erwachen gibt, mit dem für den guten Christen das ewige Leben anbricht, und im Sonett XLV gibt uns die Formulierung „dis leben“ („was ist dis leben doch?“) zu verstehen, dass es nach dem irdischen noch ein ‚anderes’ Leben gibt. Von einer eindeutigen, „mit starkem Willen“ (ebd.) ausgesprochenen Hoffnungsbotschaft kann jedoch nicht die Rede sein.

Es stellt sich folglich die Frage, ob hier bei der Schilderung der Krankheit und der Vergänglichkeit alles Irdischen nicht eine gewisse ästhetische Verselbstständigung vorliegt. Da der Hinweis auf Gott als festen, verlässlichen Bezugspunkt jenseits aller Widrigkeiten fehlt, ist man versucht, in der „strenge[n], künstlerische[n] Ausschließlichkeit“ (ebd.) der Sonette eine Virtuosität zu sehen, die um ihrer selbst Willen existiert und keinem anderen Zweck dient. Würde man dem autobiographischen Aussagemodus der Sonette Glauben schenken und das „Ich“ tatsächlich mit Gryphius gleichsetzen, so könnte man die Gedichte mit Trunz noch als verzweifelten Versuch einer „Rettung in ein Gesetz“ (Trunz 1956, S. 74) deuten und die strenge Form des Sonettes gleichsam als festen Anker, als „geistige Ordnung inmitten alles Schwankend-Vergänglichen“ (ebd.) sehen. Angesichts der von Mauser angeführten Argumente gegen eine in erster Linie biographische Deutung der Gedichte erscheint diese Lesart jedoch als fragwürdig.

Weiterführende Überlegungen zeigen allerdings, dass man bei einer Interpretation der Sonette als bloßem Beweis für die sprachliche Brillanz und das dichterische Können Gryphius’ nicht stehenbleiben kann. Trunz weist in seinem Kommentar zum Sonett XLV darauf hin, dass die Ausblendung der Heilsbotschaft aus dem Gedicht noch lange nicht bedeutet, dass diese tatsächlich im ‚Horizont’ des Gedichtes und in dem Weltbild, aus dem heraus es entstanden ist, nicht vorhanden sei (Trunz 1956, S. 74 f.). Ein neuzeitlicher Leser könne diesen Eindruck gewinnen, weil ihm die damalige Auffassung der Welt als „ordo“, als Zusammenhang, dem der Dichter seine „Sachen“ – seine „res“ – entnehme, nicht geläufig sei. Nach dem Verständnis des 17. Jahrhunderts sei jedes Gedicht zwar „in sich gerundet, ein Kunstwerk für sich“ (a. a. O.., S. 74), doch zeige es immer nur „einen Ausschnitt aus dem Ganzen“ (ebd.), wobei das Gesamte stets als etwas „Sicheres und Selbstverständliches“ (ebd.) vorausgesetzt werde. Die beiden hier zu kommentierenden Sonette wären somit als Behandlung eines bestimmten Themas zu verstehen – in diesem Falle die menschlichen Gebrechen und die Vergänglichkeit als allgemeines Weltschicksal –, das jedoch, weil es einem festgefügten System entnommen ist, nur im Rahmen dieses Systems ganz zu verstehen ist. Der Hinweis auf Gott wäre in diesem Falle nicht nötig, weil er implizit ist und sich von selbst versteht.

Trunz weist auf einen weiteren Punkt hin, der diese Auffassung bestätigt und der von Wolfram Mauser eingehend kommentiert wird: Die Anordnung der Gedichte innerhalb der Sammlungen, in denen sie veröffentlicht wurden. Sowohl in den „Lissaer Sonetten“ von 1637 als auch in der Sammlung „Sonnete. Das erste Buch“ von 1643 stehen die geistlichen Gedichte vor den weltlichen: Auf zwei Sonette, die als Invokation an Gott zu lesen sind, folgen 1643 vier Gedichte, die den irdischen Leidensweg Christi nachzeichnen. Nach einem weiteren Sonett, das als „Leidens- und Sühne-Exempel“ (Mauser 1976, S. 29) zu verstehen ist, stehen im ersten Buch der Sonette sowie vor dem fündundvierzigsten Sonett des erstmals 1650 veröffentlichten zweiten Buches (ebd.), das Mauser zufolge eine kompositorische Einheit mit dem ersten bildet, Gedichte, die das irdische Leben betreffen. Am Ende des zweiten Buches stehen fünf Sonette, die den Blick wieder auf das ‚Ewige’ richten – die ‚vier letzten Dinge’ und die biblische Figur des Elias. Die ersten sechs und die letzten fünf Gedichte der beiden Bücher bilden Mauser zufolge einen „heilsgeschichtlichen Rahmen“ (a. a. O., S. 30) und somit den „geistig-religiösen Hintergrund aller Gedichte der Sammlung“, der „bei der Deutung jedes Sonetts zu berücksichtigen“ sei (ebd.).

Welchen Bezug aber haben die hier zu erläuternden Krankheitssonette zu jenem heilsgeschichtlichen Rahmen? Inwiefern sind sie ein Exemplum dafür, „wie die vielfältigen Erscheinungen des Lebens im Hinblick auf Christus und die christlichen Wahrheiten zu verstehen und zu deuten sind“ (ebd.)?

Im 17. Jahrhundert sah man in körperlichen Veränderungen noch „untrügliche äußere Zeichen für seelische Vorgänge“ (Mauser 1976, S. 145). Körperliches Leid war nach damaligem Verständnis ein Indikator für Sündhaftigkeit, genauer gesagt für Glaubensschwäche und den Abfall des menschlichen Geistes von Gott. Diese „muthkränklichkeit“ – so der Begriff des 17. Jahrhunderts (ebd.) – erwächst aus der Erkenntnis der Hinfälligkeit und Beschränktheit des menschlichen Lebens, die zu Hoffnungslosigkeit und Angst führen – Affekte, welche die Seele „bestürm[en]“ und an Zuversicht und Gottvertrauen nagen. So kann man den in beiden Sonetten zu Anfang festgestellten Verlust der Orientierungsfähigkeit – „Ich bin nicht der ich war“ bzw. „Mir ist ich weis nicht wie“ – als ein „Versagen der seelischen Kräfte“ (a. a. O., S. 226) verstehen: Der Kranke verliert angesichts seiner Schmerzen und des körperlichen Verfalls jeglichen festen Anhaltspunkt, anstatt sich im Glauben am Ewigen zu orientieren. Im Sonett XLV offenbaren die nicht zum Gebet gefalteten, sondern sinkenden Hände, das ständige Seufzen und Weinen sowie die schwindende Kraft im Herzen, dass das Ich ganz vom Affekt der Angst eingenommen ist. Im ersten Sonett werden Glaubensschwäche und Hoffnungslosigkeit weniger explizit thematisiert, doch wesen auch hier die „threnen“ und der das Ich durchfahrende „graus“ auf tiefe Erschütterung hin. Folgt man Mauser, so offenbart die Krankheit als „Prüfstein des Menschen“ (a. a. O., S. 228) in diesen Sonetten die „muthkränklichkeit“ des Siechenden, der es versäumt hat, „die richtige Lebensgesinnung zu finden“ (a. a. O., S. 228 f.).

Körperliches Leid ist jedoch nicht bloß Indiz für mangelnden Glauben, es ist zugleich die Strafe dafür und somit auch die Gelegenheit, zu Gott zurückzufinden. Die physische Qual als Rute Gottes soll den Menschen daran erinnern, dass der Weg zu Gott über die „Erfahrung von Leid und Hinfälligkeit“ (Mauser 1988, S. 216) führt. Der Kreuzestod Christi lehrt, dass „Not und Qual den Weg zum ewigen Leben eröffnen“ (a. a. O., S. 212); der Schmerz ist für den Gläubigen die Gelegenheit, auf die irdischen Anfechtungen im Sinne der christlichen Lehre zu antworten und durch das Leid zum Heil zu finden. Mauser weist darauf hin, wie weit verbreitet im 17. Jahrhundert die Argumentation war, die Leid und Heil als „interdependent“ auffasste und begründete: „Leid erwirkt Heil, Heil setzt Leid voraus“ (Mauser 1976, S. 164). So kommt es auch nicht von ungefähr, dass das Sonett IX in der Sammlung „Sonnete. Das erste Buch“ kurz nach dem Gedicht „An den gecreuzigten JEsum“ steht: Durch diese Anordnung soll die „Parallelität zwischen dem irdischen Leiden Christi und der innerweltlich-menschlichen Hinfälligkeit“ (a. a. O., S. 29) zum Ausdruck kommen. Der Mensch hat dem Vorbild Christi zu folgen und soll das Leid nicht nur erdulden, sondern bereitwillig auf sich nehmen. Das körperliche Leiden des Ichs wäre in den Sonetten IX und XLV somit zugleich als Anzeichen der mangelnden Glaubensfestigkeit des Sprechers als auch als Chance zur Neuorientierung durch Rückbesinnung auf die christlichen Heilswahrheiten und Antritt der Nachfolgerschaft Christi zu verstehen.

Folgt man Mausers Auffassung, so ist das Krankheitsmotiv in den beiden Sonetten, die im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen, keineswegs als ein weiteres dichterisches Exercitium auf dem Gebiet der Vanitasthematik zu lesen, sondern als eine ernste Mahnung an den Leser, dessen Heil auf dem Spiel steht. Die Kunstmittel, auf die Gryphius zurückgreift, um uns die physischen Verfallserscheinungen und die daraus folgende ‚Eitelkeit’ des menschlichen Lebens vor Augen zu führen, sind als „disziplinierend[e] Möglichkeiten“ (Mauser 1988, S. 230) zu deuten, die den Leser verunsichern sollen, indem sie ihm die Konsequenzen eines ‚falschen’, nicht auf Gott bauenden Verhaltens drastisch darlegen. In der Krankheit wird derjenige, der dachte, ohne Gott auskommen zu können, schmerzhaft erfahren müssen, dass seine Anhaltspunkte, „Überzeugungen und Verhaltenssicherheiten“ (Kühlmann 1992, S. 18) zusammenbrechen; die Gedichte sind als Appell zur Aufgabe einer säkularen, nicht in erster Linie auf Gott vertrauenden Einstellung zur Welt zu lesen (ebd.).

An keiner Stelle wird in den beiden Sonetten zwar explizit „moralisch appelliert“ oder „auf Besserung gedrungen“ (ebd.). Geht man jedoch davon aus, dass die Krankheit in beiden Gedichten als Zeichen einer mangelnden Festigkeit im Glauben gedeutet werden kann, so sind doch beide Gedichte als Aufforderung zur ‚Besserung’ des Einzelnen zu lesen: „Ein Krankheitssonett, das „Muthkränklichkeit“ diagnostiziert, verweist alle Ursachen der „Leibesunpässlichkeit“ in den Bereich persönlichen Vermögens oder Unvermögens und lenkt damit das Nachdenken über eine Verbesserung der Situation zurück zur Frage nach der Bewährung des Einzelnen“ (Mauser 1988, S. 228). Folgt man Mauser, so sind wir hier bei der Deutung der Sonette an einem Punkt angelangt, an dem unser Blickfeld sich vom religiösen Bereich zum gesellschaftlichen und politischen ausweiten muss.

‚Besserung’ und „Bewährung“ sind – auf die Krankheit bezogen – zunächst einmal so zu verstehen, dass der Mensch es lernen muss, das Leid bereitwillig zu tragen, anstatt sich von Angst übermannen zu lassen. Die Bereitschaft, Leid auf sich zu nehmen, ist aber aus politischer Sicht im 17. Jahrhundert auch eine grundlegende Tugend des Untertanen. Eine Argumentation, die dazu auffordert, Nöte unwidersprochen zu erdulden, indem sie Leid und Heil als interdependent begründet, ist somit im Interesse der Obrigkeit.

Mauser analysiert die ungeheure Fülle des Schrifttums, die im 17. Jahrhundert über den Themenkreis der Vanitas, des Todes und der Nöte des irdischen Lebens in Umlauf war, im Zusammenhang mit der Entstehung des Absolutismus. Er geht dabei von einem „Funktionszusammenhang“ (Mauser 1976, S. 20) zwischen Kirche, Gesellschaft und Staat aus; die Literatur war in diesen Zusammenhang stark einbezogen, wobei sie diesen nicht einfach widerspiegelte, sondern auf ihn zurückwirkte, indem sie die durch ihn begründete Ordnung trug und bestätigte. Eben diese ‚Ordnung’ gilt es zu verstehen, wenn man die Funktion von Gryphius’ Sonetten im Kontext ihrer Entstehung begreifen möchte. –

Obwohl die Untertanen – Mauser konzentriert sich vor Allem auf die bürgerliche Mittelschicht – im 16. Jahrhundert politisch weitgehend machtlos waren, lag ihrem Handeln ein solides Selbstvertrauen und die Überzeugung, „über Dinge und Menschen in der Welt verfügen zu können“ (a. a. O., S. 170), zugrunde. Dies änderte sich ab dem Ende des 16. Jahrhunderts mit dem Ausbau der landesherrlichen Macht, die gegen den Einfluss der „Städte und Stände“ (a. a. O., S. 172) kämpfte und die Höfe nun endgültig zu den maßgebenden wirtschaftlichen und politischen Zentren machten. Die Schwächung des Bürgertums führte, so Mauser, in dieser Schicht nicht nur zu einer neuen Einschätzung der eigenen Möglichkeiten, des Wertes der eigenen Leistungen, sondern auch zu einer neuen Einstellung zur Welt und zum Wert der irdischen Dinge. An die Stelle der Gewissheit, über die Welt herrschen zu können, trat angesichts der erlittenen Enttäuschung der Zweifel am Wert all dessen, was in ‚diesem’ Leben erreicht werden konnte; der Blick richtete sich – auch in der Literatur – auf das, was das Elend und die Nichtigkeit der physischen Welt besonders deutlich hervortreten ließ.

In diesem Kontext gewann jener Aspekt der christlichen Lehre, der die ‚Eitelkeit’ des irdischen Lebens hervorhob, immer mehr an Beliebtheit: Er bot den benachteiligten Untertanen Trost, indem er die ‚Welt’ und ihre Hinfälligkeit als Bestandteil der göttlichen Ordnung darstellte. In gleichem Maße nahm auch die Bedeutung der Argumentation zu, die Leid und Heil als interdependent auffasste, ließ sie doch die ohnmächtigen Untertanen, welche die Folgen des fürstlichen Machtausbaus immer mehr zu spüren bekamen, auf Entlohnung im Jenseits hoffen.

Die Verbreitung dieser Themen in den Schriften des 17. Jahrhunderts war einerseits die Folge des neuen bürgerlichen Selbst- und Weltbildes, gleichzeitig jedoch lag sie im Interesse der Obrigkeit und wurde von ihr durchaus gutgeheißen, da sie die von ihr allmählich eingeführten Herrschaftsstrukturen zementierte (Mauser 1976, S. 123). Die Literatur trug somit zur Disziplinierung der Untertanen bei: Die der Bevölkerung von den Landesfürsten auferlegten Beschränkungen wurden legitimiert, indem ihnen – wie allen irdischen Nöten – ein notwendiger Platz im Rahmen der Heilsordnung zugewiesen wurde.

Folgt man Mausers Ansatz, so sind die beiden in dieser Arbeit erläuterten Gedichte als Beitrag zur Herrschaftsstabilisierung zu deuten. Grundlegend ist dabei die Hypothese, dass sich die zunächst vorgeschlagene Deutung der Gedichte aus Sicht der christlichen Lehre gleichsam auf eine politische Ebene transponieren lässt: Aus der Aufforderung zur Bereitschaft, die ‚Rute Gottes’ zu ertragen, wird die Aufforderung, auch die von der – gottgewollten – Obrigkeit auferlegten Maßnahmen hinzunehmen. So wurde bereits gezeigt, dass im Sonett XLV ein Zusammenhang zwischen „muthkränklichkeit“ und physischer Krankheit suggeriert wird und somit das Leid – das körperliche, aber, wenn man Mauser folgt, auch das ‚politische’ – als Bewährungsprobe des Christenmenschen dargestellt wird, als Chance, zu Gott zurückzufinden oder die Stärke des eigenen Glaubens unter Beweis zu stellen. Aus politischer Sicht relevant könnte in diesem Sonnet auch die Tatsache sein, dass gerade das, was auf Erden Rang und Würde ausmacht und ein für die Obrigkeit unter Umständen gefährliches Selbstvertrauen spendet – Güter, die soziale Stellung, Leistung – als nichtig entlarvt wird; dies deckt sich mit Mausers Lesart: Dem Ehrgeiz des Lesers, in der Gesellschaft besondere Geltung zu erlangen, wird der Boden entzogen. Nicht auf Behauptung der eigenen Person und Stolz auf das Erreichte kommt es an, sondern auf die Fähigkeit, Widrigkeiten geduldig auf sich zu nehmen.

Versucht man, dieses Deutungsmuster auch auf das Sonett IX anzuwenden, so fällt erneut auf, dass die ‚Diagnose’ der mangelnden Standfestigkeit im Glauben – sprich der mangelnden Bereitschaft, auf Gott vertrauend Schmerzen zu ertragen – weniger eindeutig ausfällt. Die weiter oben kommentierte Intensität der Schilderung durch das lyrische Ich lässt jedoch einen klaren Rückschluss auf die tiefe Erschütterung des Sprechers zu. Glaubensschwäche wird nicht explizit benannt, sondern sie wird uns unmittelbar vorgeführt: Aus dem gesamten Gedicht spricht starke Ergriffenheit und Traurigkeit angesichts der Not und der Gewissheit des eigenen Todes – eine Einstellung, die aus religiöser aber eben auch politischer Sicht nicht wünschenswert ist. Zu berücksichtigen ist in dieser Hinsicht auch die Nähe zum Kreuzigungssonett, durch welche die Notwendigkeit und der Nutzen des Leidens hervorgehoben werden.

Abschließende Bemerkung

Das Thema ‚Krankheit’ ermöglicht Gryphius in den hier kommentierten Sonetten eine besonders eindrückliche, den Leser verunsichernde Bearbeitung des Vanitas-Topos. Die Schilderung des körperlichen Gebrechens, einer universellen Erfahrung, führt dem Leser die eigene Hinfälligkeit unerbittlich vor Augen; wirkungsvoll stellt Gryphius die ihm zur Verfügung stehenden rhetorischen Mittel in den Dienst der Darstellung seelischer und physischer Not. Unzweideutig zeigt sich in der Krankheit, dass die körperliche Hülle des Menschen nur von kurzer Dauer ist; ‚Eitelkeit’ lautet die Antwort auf die Frage nach dem Wesen des natürlichen, ‚diesseitigen’ Menschen. Dass die makrokosmischen Vergleiche das menschliche Schicksal in ein breiteres, alles Irdische umfassendes Gesetz einbetten, bietet wenig Trost; vielmehr bekräftigt es die unentrinnbare Flüchtigkeit und Nichtigkeit des Lebens, die schon in der Beschreibung der Krankheitssymptome erschreckend deutlich geworden war.

Die Analyse der Sonette wirft die Frage nach dem ‚Sinn’ dieser erschütternden Schilderung auf. Würde dem schwankend Irdischen – wie in anderen Gedichten – das Ewige eindeutig entgegengesetzt, so erhielte die Schilderung der Krankheit im Text selbst eine heilsgeschichtliche Deutung; in Abwesenheit eines solchen Hinweises bleibt die Frage vorerst offen. Hinweise auf die Poetiken der Zeit einerseits und auf die Anordnung der Sonette in den zu Gryphius’ Lebzeiten publizierten Sammlungen andererseits legen jedoch durchaus eine Deutung nahe, welche die christliche Lehre mit einbezieht. Umso plausibler erscheint dies, wenn man bedenkt, dass Krankheit im 17. Jahrhundert noch im Zusammenhang mit seelischen Mängeln betrachtet wurde. Das Leiden des lyrischen Ichs darf infolgedessen als Anzeichen und Strafe für einen Mangel an Glauben betrachtet werden, der sich in den Sonetten als Bestürzung und Angst angesichts des eigenen Todes offenbart. Der starke Affekt des lyrischen Ichs ist die Folge und das Symptom einer Einstellung zur Welt, in der Gott nicht mehr an erster Stelle steht. Die Drastik, mit der die Krankheit beschrieben wird, soll den allzu selbstsicheren Leser aufschrecken und ihn daran erinnern, dass derjenige, dem es an Glauben fehlt, „mit körperlichem Leid und schließlich mit dem Tode rechnen“ muss (Mauser 1976, S. 145).

Die Gedichte wären folglich als Warnung vor einer allzu weltlichen Geisteshaltung zu lesen und als Aufruf, in Rückbesinnung auf den Kreuzestod Christi zu einer auf Gott bauenden Einstellung zurückzufinden und folglich auch die irdischen Leiden willig zu tragen. Hier erschließt sich eine weitere Deutungsebene, welche gesellschaftliche und politische Faktoren mit einbezieht: Im Kontext des entstehenden Absolutismus trugen Werke, die zur widerspruchslosen Erduldung irdischen Leidens aufforderten, zur Förderung der von den Fürsten angestrebten Ordnung bei. Die religiöse Lesart der Texte lässt sich aus dieser Perspektive in eine politische Botschaft ‚übersetzen’, die sich der christlichen Lehre bedient: Von der Obrigkeit auferlegte Übel hat der Untertan zu ertragen, ist dies doch Voraussetzung für das spätere, ewige Leben.

Literaturverzeichnis

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Pour citer cette ressource :

Ferdinand Schlie, "Das Krankheitsmotiv in der Lyrik des Andreas Gryphius", La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), mai 2012. Consulté le 18/04/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/litterature/mouvements-et-genres-litteraires/das-krankheitsmotiv-in-der-lyrik-des-andreas-gryphius