23. Juni 2020 - Fleischindustrie und Covid-19
Nach Corona-Ausbruch : Laschet verfügt Lockdown für den ganzen Kreis Gütersloh
dpa (FAZ, 23/06/2020)
Zurück auf März: Um den größten Corona-Ausbruch in Deutschland einzuhegen, hat NRW-Ministerpräsident Laschet eine beispiellose Maßnahme ergriffen. Lockdown und Kontaktbeschränkung gelten zunächst bis Ende Juni. Alle Einwohner sollen sich kostenlos testen lassen können.
Wegen des Corona-Ausbruchs in einem Schlachthof der Tönnies-Gruppe verhängt das Land Nordrhein-Westfalen einen Lockdown für den Kreis Gütersloh. Erstmals seit den Corona-Lockerungen werde in Deutschland ein ganzer Kreis zurückgeführt „auf die Maßnahmen, die vor wenigen Wochen gegolten haben“, sagte Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) am Dienstag in Düsseldorf. Die Maßnahmen gelten zunächst bis Ende Juni, können aber auch verlängert werden. Zweck solle sein, „die Situation zu beruhigen“ und die „Testungen auszuweiten“. Bis Monatsende werde es mehr Klarheit darüber geben, inwieweit sich auch Menschen, die nicht bei Tönnies arbeiten, mit dem Virus infiziert hätten, sagte Laschet.
Bedingungen in der Gastarbeit : "Manche Arbeiter wissen nicht mal, wer gerade ihr Arbeitgeber ist"
Ein Interview von Christian Parth (Zeit Online, 22/06/2020)
Der Gewerkschafter Szabolcs Sepsi berät Werkvertragsarbeiter von Großschlachtereien wie Tönnies. Wer krank wird, dem drohe eine Mieterhöhung oder die Kündigung, sagt er.
Nach der Häufung von Corona-Fällen in der Großschlachterei Tönnies im westfälischen Rheda-Wiedenbrück wird erneut über die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie diskutiert. Szabolcs Sepsi, 32, arbeitet bei der Beratungsstelle Faire Mobilität des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) in Dortmund und betreut seit sieben Jahren Werksvertragsarbeiter aus Rumänien, die in Betrieben wie Westfleisch und Tönnies tätig sind.
ZEIT ONLINE: Herr Sepsi, Sie stammen aus Rumänien und haben engen Kontakt zu den Arbeitern in der Tönnies-Großschlachterei. Wie geht es den Menschen jetzt nach dem Corona-Ausbruch?
Szabolcs Sepsi: Sie sitzen in ihren Unterkünften und machen sich Sorgen darüber, wie es jetzt weitergeht. Aber in einigen Facebook-Gruppen regt sich inzwischen Widerstand. Viele der Arbeiter sind nicht mehr bereit, die unwürdigen Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Die Wut ist groß.
COVID-19-Ausbrüche : Warum die Arbeitsbedingungen in Schlachtbetrieben so prekär sind
Jule Reimer (Deutschlandfunk, 23/06/2020)
In verschiedenen Schlachthöfen kam es zu einer starken Häufung von Corona-Infektionen. Die hohe Zahl Infizierter lenkt den Fokus auf die Arbeitsbedingungen in Schlachtbetrieben. Ein Überblick über die deutsche Fleischindustrie, und warum sich dort das Virus so schnell ausbreitet.
Die Fälle bei Tönnies sind der bisherige Höhepunkt von Coronainfektionen bei Mitarbeitern in der Fleischverarbeitenden Industrie. Sie sind keine Überraschung, denn Vorwarnungen gab es genug.
Mitte Mai musste ein „Westfleisch“- Schlachtbetrieb in Coesfeld in Nordrhein-Westfalen zeitweise geschlossen werden, weil mehr als 260 Mitarbeiter positiv auf das Coronavirus getestet worden waren. Auch in anderen Unternehmen der Fleischindustrie in Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen wurden viele Corona-Infektionen nachgewiesen.
"Hart aber fair" : Fleisch-Mafia auf dem Grill
Quentin Lichtblau (Süddeutsche Zeitung, 23/06/2020)
Mehr als 1500 Corona-Infizierte bei Tönnies, aber so richtig will zumindest in der Sendung von Frank Plasberg keiner was falsch gemacht haben. Und ein Pfarrer spricht für die, die nicht eingeladen wurden.
7000 Tönnies-Mitarbeiter, verteilt auf 1300 Wohnungen. Zahlen, für die es nicht mal ein Coronavirus bräuchte, um zu dem Schluss zu kommen, dass das Wort "Sozialstandard" beim Schlachter in Nordrhein-Westfalen womöglich keine allzu große Rolle spielt. Diese 7000 Menschen stehen nun in ihren winzigen Wohnungen unter Quarantäne.
Tönnies ist nicht nur der größte Schlachtbetrieb Deutschlands. Sondern mit derzeit 1553 infizierten Mitarbeitern auch der derzeit größte Corona-Hotspot Deutschlands, wenn nicht sogar Europas.
Fleischindustrie - Billig ist nicht böse
Eine Kolumne von Nikolaus Blome (Speigel, 22/06/2020)
Nach den Corona-Ausbrüchen in Fleischfabriken wird "billig" zum neuen Schimpfwort. Dahinter stecken ökonomische Unkenntnis oder sinistre Erziehungsfantasien.
Selbst als mitfühlender Konservativer habe ich kein Mitleid mit Herrn Tönnies, er tut mir wirklich nicht leid, der Mann ist Boss von Schalke 04. Für die Debatte hier ist natürlich wichtiger, dass er in jüngerer Vergangenheit mit rassistischen Sprüchen über Afrikaner auffällig wurde und verantwortlich ist für finsterste Arbeitsbedingungen in seinen gigantischen Schlachthöfen. So weit, so schlecht, man möge ihn zur Rechenschaft ziehen.
Was mich jedoch stört an der heiß laufenden Debatte ist die Fokussierung auf das Attribut "billig". Billig-Reisen, Billig-Kleidung, Billig-Fleisch: Billig ist die neue Todsünde unserer Zeit, Quell' alles Bösen, schuld an Klimakollaps und jetzt auch an Corona.