05. März 2018 - Das Ja zur GroKo
Bloß kein Triumphgeheul
Majid Sattar (FAZ, 04/03/2018)
Als das Ergebnis des SPD-Mitgliedervotums verkündet wird, ist es plötzlich still – zwar herrscht Erleichterung, doch verkneift man sich jeden Jubel: Wunden müssen heilen.
Atmosphärisch könnte der Unterschied kaum größer sein. Vor vier Jahren feierte Sigmar Gabriel einen seiner größten Momente als Parteivorsitzender. Über Wochen hatte er die SPD nach der Wahlniederlage im September 2013 Schritt für Schritt in Richtung Regierungsbeteiligung geführt. Auch damals schien der Widerstand groß – vor allem unter den Funktionären. Doch Gabriel kannte seine Genossen an der Basis und genoss nun den Triumph: Fast 78 Prozent der Mitglieder hatten sich an dem Votum über den Eintritt in die Regierung unter Angela Merkel nach vier Jahren in der Opposition beteiligt. Und 76 Prozent stimmten dafür. Gabriel zeigte sich unter dem Jubel der Sozialdemokraten in der „Station“ am Berliner Gleisdreieck gerührt: Noch nie sei er so stolz auf seine Partei gewesen, sagte er.
Vier Jahre später herrscht nüchterne Geschäftigkeit vor. Allenfalls die Gefühlsregung der Erleichterung will man nicht verbergen. Auf jedes Triumphgeheul soll aber verzichtet werden. Als Dietmar Nietan, der Schatzmeister der Partei, der in der Nacht als Chef der Mandatsprüfungs- und Zählkommission das Auszählverfahren gemeinsam mit einem Notar überwachte, am Sonntagmorgen im Willy-Brandt-Haus gemeinsam mit Olaf Scholz, dem kommissarischen Parteivorsitzenden, das Atrium betritt, gibt es nur kräftigen Applaus, als er den 120 Helfern für ihre Arbeit dankt. Bei der eigentlichen Verkündung des Ergebnisses bleibt es auffallend still. Spiegelt die Stimmung die Gefühlslage wider? Oder hatte man die vielen Mitarbeiter, die sich nun auf der Treppe und auf den Emporen der Etagen verteilt haben, darum gebeten, sich zurückzuhalten?
Keine Zeit für 177 Seiten? Worauf sich SPD und Union verständigt haben
Katharina Schuler und Lisa Caspari (Zeit Online, 07/02/2018)
Mehr Geld für Bildung, Digitalisierung und Familien: SPD und Union haben sich auf einen Koalitionsvertrag geeinigt. Die wichtigsten Punkte im Überblick
Nach einer Marathonverhandlung steht der neue Koalitionsvertrag von Union und SPD. Er hat 13 Kapitel und 177 Seiten. Besonders strittig waren in der die ganze Nacht andauernden Verhandlung bis zuletzt SPD-Forderungen in der Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik. Auch um die Verteilung der Ministerien wurde lange gerungen: Die SPD bekommt das Außen-, Finanz- sowie das Arbeits- und Sozialressort, die Union ein Innenministerium, das um einen Bereich für Heimat erweitert wird. Ob es wirklich zu einer Neuauflage des Bündnisses kommt, hängt nun allerdings noch von einem Votum der rund 460.000 SPD-Mitglieder ab. Was im Einzelnen beschlossen wurde:
Europa
Das erste Kapitel des Vertrags dreht sich um Europa. Union und SPD erklären sich bereit, zusätzliche Haushaltsmittel auszugeben, um langfristig einen europäischen Investivhaushalt zu schaffen, der zu wirtschaftlicher Stabilisierung und sozialer Konvergenz beitragen soll. SPD-Chef Martin Schulz feierte dies als "Ende des Spardiktats". So soll zum Beispiel die Jugendarbeitslosigkeit in Europa bekämpft werden. Außerdem will sich die große Koalition für eine gerechtere Besteuerung von Internetunternehmen wie Google, Apple, Facebook und Amazon in Europa einsetzen.
Aufwachen, bitte! Regieren!
Florian Gathmann (Spiegel Online, 05/03/2018)
Union und Sozialdemokraten können sich nach dem SPD-Mitgliederentscheid jetzt voll auf die Regierungsbildung konzentrieren. Noch fehlt allerdings die Ministerliste - und jede Euphorie.
Im künftigen Kabinett könnte es einen Wettbewerb der besonderen Art geben: Wer kommt emotionsloser daher - die Kanzlerin oder ihr Stellvertreter? Sie ist gebürtige Hamburgerin, er hat fast sein ganzes Leben dort verbracht - aber vielleicht ist der designierte Vizekanzler Olaf Scholz im öffentlichen Auftritt sogar noch ein bisschen steifer als Angela Merkel.
In der Probephase liegt Scholz jedenfalls schon mal vorn: Wie der kommissarische SPD-Vorsitzende die Entscheidung seiner Basis für eine erneute Koalition mit CDU und CSU verkündete, war unschlagbar miesepetrig. "Wir haben jetzt Klarheit", sagte Scholz mit einem Gesicht, als sei der HSV bereits in die Zweite Liga abgestiegen, "die SPD wird in die nächste Bundesregierung eintreten."
Kein Triumph, nur Scholz' Grabesmiene
Daniel Friedrich Sturm (Welt, 05/03/2018)
Die SPD-Spitze vermeidet es demonstrativ, das Ergebnis des Mitgliedervotums zu bejubeln – und keiner wirkt regungsloser als der kommissarische SPD-Chef Scholz. Einen Eindruck will die Partei vermeiden: den von Siegern und Besiegten.
Angesichts dessen, was sie in den vergangenen rund zwölf Stunden geleistet haben, wirken die meisten der ehrenamtlichen Helfer im Willy-Brandt-Haus recht fröhlich. Über die Brüstungen des transparenten Treppenhauses in der ersten, zweiten, dritten, vierten Etage beugen sie sich an diesem Sonntagmorgen. Noch einmal müssen sie sich in Geduld üben. Sie quatschen und winken, einige rufen etwas nach unten, ins Atrium. Die hier für neun Uhr angesetzte Pressekonferenz, bei der die SPD das Ergebnis ihres Mitgliedervotums verkünden will, verzögert sich um gut eine halbe Stunde.
Darauf aber kommt es den rund 120 Helfern nicht mehr an; sie haben in der Nacht zuvor nicht geschlafen. Seit dem späten Samstagnachmittag halten sich die Ehrenamtlichen, neben vielen Mitarbeitern und einem Notar, in der SPD-Zentrale auf. Hier haben sie Stimmen gezählt, gezählt und gezählt, daneben eidesstattliche Erklärungen geprüft, ungültige Voten aussortiert. Ihre Mobiltelefone mussten sie zuvor abgeben, niemand sollte Zwischenstände oder gar das Ergebnis des Mitgliedervotums nach außen kommunizieren. Das Haus verlassen durften sie erst recht nicht.
Die Stimmung im fensterlosen Hans-Jochen-Vogel-Saal in der fünften Etage der SPD-Zentrale soll, so heißt es nachher, gut gewesen sein – und das, obwohl ja eigentlich kein Sozialdemokrat begeistert in eine neue große Koalition eintritt. Und hat der nach Ex-Parteichef Vogel benannte Raum einst nicht viel schönere, geradezu euphorische Stunden erlebt?
Drei Genossen gelten als gesetzt für Merkels Kabinett
Daniel Friedrich Sturm (Welt, 04/03/2018)
Nach dem Ja der SPD-Mitglieder zur GroKo soll es voraussichtlich bis Freitag eine Entscheidung über die Ministerposten geben. Schwierig gestaltet sich die Suche nach einem ostdeutschen Kabinettskandidaten.
Nach der Zustimmung der SPD-Mitglieder zu einer neuerlichen großen Koalition will die designierte Parteivorsitzende Andrea Nahles die sozialdemokratischen Minister für das neue Kabinett „bald“ benennen. Der kommissarische SPD-Chef Olaf Scholz sagte, man werde sich für die Personalien „in dieser Woche die Zeit nehmen, die wir brauchen“.
In SPD-Führungskreisen wird mit der Veröffentlichung der Ministerliste bis spätestens Freitag gerechnet. Womöglich werde die Parteispitze deshalb am Donnerstag oder Freitag erneut tagen. Über die Ministerposten erst in der kommenden Woche zu informieren sei „nicht vermittelbar“, heißt es unter SPD-Vorstandsmitgliedern. Zuvor hatte es geheißen, die SPD-Personalvorschläge sollten erst am 12. März präsentiert werden, zwei Tage vor der geplanten vierten Wahl Angela Merkels (CDU) zur Kanzlerin. Die CSU will ihre künftigen Bundesminister bereits an diesem Montag benennen.
Die SPD wird in der künftigen Koalition wie bisher sechs Minister stellen. Die zu verteilenden Ressorts sind Auswärtiges, Finanzen, Arbeit/Soziales, Justiz, Familie sowie Umwelt. Drei Ministerien sollen an Frauen gehen. „Es werden einige Minister darunter sein, die schon dabei sind, und einige, die neu hinzukommen“, sagte Scholz. Er selbst will Finanzminister und Vizekanzler werden, hat sich dazu indes öffentlich nicht festgelegt.
"Wir werden der Partei aufs Dach steigen"
Gregor Schwung (FAZ, 04/03/2018)
Die SPD-Mitglieder haben sich klar für die Groko ausgesprochen. Enttäuschung herrscht bei den Jusos und Erleichterung bei Union und SPD. Die AfD spricht von einer „Katastrophe“ für Deutschland.
ei der Pressekonferenz des SPD-Vorsitzenden Olaf Scholz und des Schatzmeisters Dietmar Nietan, die das Ergebnis des Mitgliedervotums über die Neuauflage der Groko verkündeten, wurde für Juso-Chef Kevin Kühnert kein Podium aufgestellt. Der prominenteste Gegner der Groko in der SPD hielt seine Pressekonferenz am Sonntagmorgen im Freien bei Minustemperaturen. Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben, doch er hob hervor, dass die Jusos keine schlechten Verlierer seien. Kühnert kündigte an, der Regierung künftig auf die Finger schauen zu wollen. „Wenn Kritik nötig ist, dann wird sie von uns kommen.“ Auch wollten sich die Jusos weiter für die Erneuerung der Partei einsetzen: „Wir werden eine grundlegende Erneuerung einfordern und wir werden dieser Partei auch so lange aufs Dach steigen, bis wir das Gefühl haben, das passiert jetzt in einem ausreichenden Rahmen.“
Im Parteivorstand herrschte aber mehrheitlich Erleichterung über den klaren Ausgang des Mitgliederentscheids. Die Fraktionsvorsitzende und designierte Parteichefin Andrea Nahles sagte auf die Frage, ob sie mit einer Zustimmung der Basis gerechnet habe: „Ich habe in den letzten Tagen mit gar nichts mehr gerechnet. Ich bin froh, dass es jetzt so gekommen ist.“ Außenminister Sigmar Gabriel erklärte: „Auf die Mitglieder der SPD ist Verlass. Sie lassen sich nicht erschrecken oder entmutigen.“