17. Oktober 2016 - Bodo Kirchhoff erhält den Deutschen Buchpreis
Andreas Platthaus (FAZ)
17. Oktober 2016
Diese Auszeichnung soll nach dem Willen des Buchhandels das Aushängeschild des Literaturjahres sein. Mit „Widerfahrnis“ von Bodo Kirchhoff geht der Deutsche Buchpreis erstmals nicht an einen Roman, sondern an eine Novelle. Zu Recht.
Bevor der Deutsche Buchpreis vor elf Jahren vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels zum ersten Mal verliehen wurde, kam es im Frankfurter Literaturhaus, damals noch in der Bockenheimer Landstraße, zu einer interessanten Diskussion über die künftige Auszeichnung. Auch Bodo Kirchhoff war zugegen. Der 1948 geborene Frankfurter Autor hatte da bereits ein umfangreiches und erfolgreiches Werk zu bieten, und er verteidigte den neuen Preis gegen die damals recht zahlreichen Skeptiker, die darin nur ein Marketinginstrument sehen wollten. Einen Fehler allerdings sah auch Kirchhoff bei der Konzeption der Ausschreibung: Die Auszeichnung hätte Deutscher Romanpreis statt Deutscher Buchpreis heißen sollen, damit wäre doch allen besser gedient gewesen.
Heute wird Kirchhoff glücklich sein, dass seinerzeit niemand auf ihn gehört hat. Denn sein jetzt mit dem Deutschen Buchpreis 2016 ausgezeichnetes Werk „Widerfahrnis“ ist nicht als Roman ausgewiesen, sondern als Novelle. Damit widerspricht sie im Grunde genommen den Ausschreibungsbedingungen, die den Preis als Wettbewerb „um den besten Roman in deutscher Sprache“ definiert, doch mit Jonas Lüschers „Frühling der Barbaren“ stand 2013 schon einmal eine dezidiert als Novelle klassifiziertes Buch auf der Longlist. Dieser Präzedenzfall machte der aktuellen Jury ihre Entscheidung für den schon zuvor als Favoriten gehandelten Kirchhoff leichter. Sein Buch ist das Beste unter den letzten Sechs gewesen.
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Vom Ende der Hutgesichter
Christoph Schröder (Zeit)
01. Oktober 2016
Sie sind noch nicht weit gekommen, haben gerade einmal den Brenner passiert, Leonie Palm sitzt am Steuer, da greift Reither nach dem Buch, das sie mit auf die Reise genommen hat, und will daraus vorlesen. Leonie Palm tritt auf die Bremse, fährt auf den Standstreifen und wird scharf im Ton: Was er glaube, warum sie hier gemeinsam in diesem Auto säßen? Wegen eines Buchs? "Wir sitzen hier", sagt sie, "wegen Menschen, die es in unserem Leben nicht mehr gibt oder noch nie gab", und Reither weiß nicht, was er dem entgegnen soll, also fahren sie weiter.
In der Theologie bezeichnet der Begriff des Widerfahrnis ein Ereignis, das einem Menschen ohne erklärbare Kausalität zustößt und das sein Leben von diesem Zeitpunkt an entscheidend verändert oder prägt. Ein Blitzschlag, eine Krankheit, eine Begegnung. In Bodo Kirchhoffs Novelle, einem schmalen Buch nach zwei umfangreichen Romanen, das aber alles andere als ein Nebenwerk ist, ereignen sich gleich eine Reihe solcher einschneidender Vorkommnisse. Da ist Reither, ein Mann in den späten Sechzigern. Seinen Kleinverlag mit angeschlossener Buchhandlung in Frankfurt am Main hat er verkauft, um sich in einer Wohnanlage an einem Tiroler See zur Ruhe zu setzen. Eines Tages glaubt er, leise Schritte vor seiner Wohnungstür zu hören; irgendwann öffnet er die Tür, und davor steht Leonie Palm, eine Nachbarin. Sie hatte bis vor Kurzem, wie sich herausstellt, einen Hutladen, den sie schließen musste, weil es keine Hutgesichter mehr gibt.
_______________Buchpreis-Gewinner Bodo Kirchhoff im Glück
Judith von Sternburg (Berliner Zeitung)
17. Oktober 2016
Es ist kurios, dass eine Buchpreisrunde mit einer fußballmetaphernhaltigen Verleihung endet. Aber erst die wichtigen Dinge. Bodo Kirchhoff hat am Montagabend im Kaisersaal des Frankfurter Römers den mit 25.000 Euro dotierten Deutschen Buchpreis zugesprochen bekommen.
Es ist kurios, dass eine Buchpreisrunde mit einer fußballmetaphernhaltigen Verleihung endet. Aber erst die wichtigen Dinge. Bodo Kirchhoff hat am Montagabend im Kaisersaal des Frankfurter Römers den mit 25.000 Euro dotierten Deutschen Buchpreis zugesprochen bekommen.
Der Deutsche Buchpreis zeichnet den „Besten Roman“ eines Jahrgangs aus, „Widerfahrnis“ ist eine Novelle, aber Kirchhoff mendelte sich beim fortschreitenden großen Lesen zunehmend als Favorit unter den letzten sechs der Nominierten heraus – der vielleicht noch am häufigsten genannte Mitfavorit Thomas Melle hat äußerst gezielt gar keine Fiktion geschrieben, so viel dazu.
– Quelle: http://www.berliner-zeitung.de/24932162 ©2016_______________
Warum die Auszeichnung von "Widerfahrnis" keine gute Entscheidung ist
Gerrit Bartels (Tagesspiegel)
17. Oktober 2016
Für seine Liebes- und Flüchtlingsnovelle "Widerfahrnis" bekommt Bodo Kirchhoff den Deutschen Buchpreis 2016. Die Geschichte ist gegenwärtig, aber nicht preiswürdig. Ein Kommentar.
Hat es eine so lange Dankesrede in der zwölfjährigen Geschichte des Deutschen Buchpreises schon einmal gegeben? Bodo Kirchhoff, der gerade den Preis für seine Novelle „Widerfahrnis“ erhalten hat, will gar nicht mehr, so scheint es, aufhören mit der Lobpreisung der Stadt Frankfurt, ihres Fußballvereins, ihrer geistigen Tradition, mit der des Deutschen Buchpreises und wie dieser aus der Taufe gehoben wurde in Frankfurt; auch eine Spitze gegen den nach Berlin gezogenen Suhrkamp Verlag hat er parat und damit ein Hoch auf seinen Verleger, den Unseld-Sohn Joachim von der Frankfurter Verlagsanstalt. Schon cool, wenn Kirchhoff diese Rede improvisiert hat. Vielleicht war er auch überzeugt von seinem Buch und hatte sich vorher eine Menge aufgeschrieben.
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Die Liebe und die Krise siegen über den Wahn
Elmar Krekeler (Welt)
17. Oktober 2016
Der Sieger des mit 25.000 Euro dotierten Deutschen Buchpreises heißt in diesem Jahr Bodo Kirchhoff.
Es ist noch keine Woche her, da wurde endlich auch das, was man für gewöhnlich Literaturbetrieb nennt, einmal vom großen Mimimi heimgesucht. Da vergab die Stockholmer Akademie den Nobelpreis an einen Liederdichter. Und nicht geringe Teile der Literaturpäpste und -päpstinnen greinten öffentlich und beklagten, dass man selbst mit einem weiten Herzen nicht Literatur nennen könne, was Bob Dylan da so schreibe.
Keine Angst. Ich komme jetzt sofort in den Römer und zur Verleihung des mit 25.000 Euro dotierten Deutschen Buchpreises, den eine Jury ja für den besten Roman des Jahres vergibt. Was immer ein seltsames Unterfangen ist und im Vorfeld stets zu einem zumindest kleinen Mimimi führt.
Diesmal wurde alles dafür getan, dass es kleiner ausfiel, als es hätte sein können. Für weite Teile jener Liste, die in diesem Jahr zur finalen Abstimmung stand, brauchte man jedenfalls auch einen ziemlich erweiterten Romanbegriff. Nicht allerdings, weil es auch um Musik ging manchmal, sogar Songs in den Büchern vorkamen.
Die siebenköpfige Jury hatte beinahe sämtliche vermeintlich großen Namen der Longlist eliminiert (auf der wiederum – das ewige Mimimi der Kritiker – schon etliche große Namen fehlten) und neben drei mehr oder weniger klassischen Romanen eine kaum kaschierte Erzählsammlung – Eva Schmidts Bregenzer Beobachtungsnetzwerk „Ein langes Jahr“, eine geradezu klassische Novelle – Bodo Kirchhoffs „Widerfahrnis“ und einen literarischen Krankheitsbericht – „Die Welt im Rücken“, Thomas Melles hoch literarische Ausstülpung seiner selbst als Manisch-Depressivem.
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Der ideale Preisträger
Helmut Böttiger (Zeit)
18. Oktober 2016
Liebe, Italien und das Scheitern: Die Kombination war schon immer unschlagbar. Bodo Kirchhoff bekommt für seine süffige Novelle "Widerfahrnis" den deutschen Buchpreis.
Mit Bodo Kirchhoff kommt Frankfurt zu sich selbst. Immerhin wurde der Deutsche Buchpreis 2003 in einer Frankfurter Wohnung "ersonnen", wie es der Preisträger in seiner souverän professionellen Dankrede im Römer formulierte. Und auch, wie ihm der mit seiner prunkvollen Amtskette geschmückte Oberbürgermeister und Hausherr gleich gratulierte, zeigte: Man war zu Hause, man war in der guten Stube.
Ersonnen ist fürwahr auch die Novelle Widerfahrnis, mit der Kirchhoff den Preis endlich ergattern konnte. Die Worte sind immer etwas zu gewählt und es wird immer eine Prise Pathos mehr darübergestreut, als es das Grundrezept vorsieht. Das Wort "Widerfahrnis" steht nicht im Duden, dafür aber bei Heidegger – das ist einer der Schlüssel zum Geheimnis. Ein anderer ist die "ungeheure Begebenheit", die die tradierte Form der Novelle verlangt und die hier gezielt in den Bereich am Mittelmeer gestrandeter Flüchtlinge verlegt ist. Im Moment ist dies das brisanteste politische Thema und es wird geschickt verknüpft mit dem Lebensgefühl wohlsituierter, in die Jahre gekommener Kulturbürger, die aufgeklärt, desillusioniert und sehnsuchtsvoll sind und deshalb anfällig für Melancholie und Schmerz.
Pour citer cette ressource :
17. Oktober 2016 - Bodo Kirchhoff erhält den Deutschen Buchpreis, La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), octobre 2016. Consulté le 26/12/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/revue-de-presse/archives-revue-de-presse-2016/17-oktober-2016-bodo-kirchhoff-erhalt-den-deutschen-buchpreis-