1. April 2016 - Hans-Dietrich Genscher ist tot
Michael Stürmer (die Welt)
01. April 2016
Hans-Dietrich Genscher war 18 Jahre lang Außenamtschef – ein Rekord. Er sah Kanzler kommen und gehen. Immer bewies er Augenmaß und einen Sinn für Macht. Nun ist der große Außenpolitiker gestorben.
Hans-Dietrich Genscher war immer ein Mann des Gleichgewichts. Auf dem Wiener Kongress nach den Napoleonischen Kriegen hätte er eine gute Figur gemacht. Seine Spur in der Geschichte fügt sich ein in die langen Linien deutscher Außenpolitik. Weniger Bismarck wäre da zu nennen, wenngleich dessen Realpolitik Genscher faszinierte, mehr aber Walther Rathenau und Gustav Stresemann. Beide hielten es nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs zu Weimarer Zeiten mit dem Westen, schlossen aber niemals die östliche Option gänzlich aus.
Ein Mann des Gleichgewichts: Das galt für die Innenpolitik, wo er die Freien Demokraten in der Mitte hielt, nach beiden Seiten offen, immer die Option des Wechsels offenhaltend, ohne Sentimentalitäten, Glaubensbekenntnisse oder ewige Festlegungen, Kräfteverstärker im Spiel der Koalitionen. Das hatte die Folge, dass die Partei immer — um eine englische Redensart zu verwenden — oberhalb ihrer Gewichtsklasse boxte. Es war die FDP, die mit knappster Mehrheit 1969 in die sozialliberale Koalition ging, CDU- und Adenauer-müde und den aufregenden Zeitströmungen hingegeben und schon halb zerrissen.
Genscher ging damals durch eine lange Bonner Lehrzeit. 1982, als Bundeskanzler Helmut Schmidt von seiner Partei in der Raketenkrise alleingelassen wurde und zugleich als Antwort auf die zweite Ölpreiskrise die Sozialdemokraten die Staatsverschuldung ins Unkontrollierbare trieben, bewirkte er die Wende — unter Zurücklassung der überzeugten Sozialliberalen: Hildegard Hamm-Brücher gönnte sich im Deutschen Bundestag öffentliche Tränen, und Genscher hatte in deutschen Politfeuilletons eine Zeit lang den Ruf eines Feindes der Menschheit. Als Parteivorsitzender von Ewigkeit zu Ewigkeit hat er auch das überlebt.
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Außenminister der Einheit
Rainer Blasius (FAZ)
01. April 2016
Der frühere Außenminister und FDP-Chef Hans-Dietrich Genscher ist am Donnerstag verstorben. Das teilte sein Büro am Freitag in Bonn mit. Genscher starb demnach im Alter von 89 Jahren an Herz-Kreislauf-Versagen.
Fast 23 Jahre lang stand Hans-Dietrich Genscher an der Spitze wichtiger Bundesministerien. Zusammengerechnet mehr als ein Jahr dieser Ministerzeit verbrachte er in Dienstwagen, manchmal auf einem Schiff, oft in Flugzeugen, um im Dienste der Bundesrepublik Deutschland von Verhandlungsort zu Verhandlungsort zu eilen. Dabei versäumte er es selten, in den Nachrichten des Fernsehens präsent zu sein.
Genscher wurde am 21. März 1927 in Reideburg bei Halle als Sohn eines Syndikus beim Landwirtschaftsverband geboren. Nach dem Besuch der Friedrich-Nietzsche-Oberschule und dem Flakhelfer-Dienst rückte er noch am 6. Januar 1945 zu den Pionieren nach Wittenberg ein. Als Angehöriger der von Walther Wenck geführten 12. Armee, an die Hitler im „Führerbunker“ unter der Reichskanzlei allerletzte und völlig realitätsferne Hoffnungen knüpfte, erlebte Genscher den Wahnsinn der Schlacht um Berlin. Nach kurzer amerikanischer Kriegsgefangenschaft bestand er 1946 in Halle das Abitur, trat der Liberaldemokratischen Partei Deutschlands (LDPD) bei und studierte Rechtswissenschaften.
Ein Schlüsselerlebnis war 1949 eine Begegnung mit Hilde Benjamin, der „gefürchtetsten Juristin der eben entstandenen DDR“. Sie nahm Anstoß an der LDPD-Mitgliedschaft des Referendars und fragte ihn frostig, was er werden wolle. Er antwortete: „Rechtsanwalt.“ Darauf erwiderte sie: „Das ist gut klug von Ihnen, denn für Leute wie Sie haben wir in unserem Staat keinen Platz.“ Davon überzeugte sich Genscher bis zum 20. August 1952. An jenem Tag verließ er die DDR und baute sich in der Bonner Republik eine neue Existenz auf.
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Der ewige Diplomat
Ludwig Greven (Zeit Online)
01. April 2016
Verhandeln, reden, weiterverhandeln, das konnte er wie kaum ein anderer. Hans-Dietrich Genscher, der Langzeit-Außenminister und Ultrarealist, prägte eine ganze Epoche.
Vielleicht hätte man einen wie ihn gerade jetzt, im neuen Kalten Krieg mit Russland, als Chefdiplomaten wieder gut gebrauchen können. Denn in seiner Zeit an der Spitze des Auswärtigen Amtes von 1974 bis 1992 war Hans-Dietrich Genscher ein Entspannungspolitiker par excellence: einer, der selbst mit den härtesten Gegenspielern im Kreml und andernorts so lange verhandelte, bis man sich auf eine für beide Seiten tragbare Lösung verständigte.
Dem diplomatischen Vielflieger trug das seinerzeit den Ruf ein, äußerst pragmatisch und erfolgreich, aber auch anpassungsbereit bis zur Prinzipienlosigkeit zu sein. Spötter prägten dafür einen eigenen Begriff: "genschern". Er selbst jedoch sah in der Zeit der Blockkonfrontation in einer solchen betont realistischen und flexiblen Außenpolitik die einzige Möglichkeit für die Bundesrepublik, ihre Ziele und Interessen auch gegenüber Moskau und seinen Verbündeten durchzusetzen.
Den Höhepunkt seiner Amtszeit als Bonner Chefdiplomat erlebte er während des epochalen Umbruchs von 1989/90. Gemeinsam mit Helmut Kohl rang Genscher dem letzten sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow und dessen Außenminister Eduard Schewardnadse, ebenso wie den Verbündeten im Westen, die Zustimmung zur deutschen Wiedereinigung ab, und er handelte bei den 2+4-Gesprächen die äußeren Bedingungen dafür aus. Für ihn als gebürtigen Hallenser, der 1952 in die Bundesrepublik übergesiedelt war und der immer unter der Teilung gelitten hatte, war das auch persönlich ein historischer Glücksmoment.
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Der Außenminister, der zur Legende wurde
Thorsten Denkler (Sueddeutsche Zeitung)
01. April 2016
Kein Außenminister war länger im Amt als Hans-Dietrich Genscher, keiner hat so viel bewirkt: Prager Botschaft, Nato-Doppelbeschluss, Wiedervereinigung. Über einen Politiker, der die Welt veränderte.
Ihm wird schwindelig. Wieder und wieder. Hans-Dietrich Genscher muss sich am Balkon der Prager Botschaft festhalten. Es geht ihm nicht gut in diesen Abendstunden des 20. September 1989. Wenige Wochen zuvor, im Juli, hatte er während eines Friseurbesuchs in Bonn einen Herzinfarkt erlitten. Eine komplizierte Nieren-Operation wirkt noch nach.
Aber gerade ist anderes wichtiger. Vor Genscher stehen, sitzen und liegen mehr als 4000 Menschen im Garten der Botschaft. Sie hat die Hoffnung hierher getrieben, über diesen Weg in die Bundesrepublik Deutschland zu kommen. Raus aus der DDR, dieser geliebten wie gehassten Heimat. Im Sommer des Jahres hat der Exodus aus dem "Arbeiter- und Bauernstaat" begonnen. Es wurden immer mehr. Freiheitshungrige, die zu Hause alles haben stehen und liegen lassen.
Nun harren sie im Garten aus und schauen nach oben. Eine Lampe leuchtet die Wand hinter dem Balkon an. Genscher ist erst nicht erkennbar. Unruhe im Garten. Menschen reden durcheinander. Es hat sich herumgesprochen, dass jemand Wichtiges zu ihnen sprechen soll.
Dann die Stimme Genschers. Dieser gluggernde Singsang Hallescher Prägung. "Wir sind heute zu Ihnen gekommen..." - Pause, Stille im Garten, Genscher spricht weiter: "...um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise..." Der Rest geht im Jubel unter.
Es ist der Moment, der Genscher vom Außenminister der Bundesrepublik zu einer deutschen Legende gemacht hat.
Pour citer cette ressource :
1. April 2016 - Hans-Dietrich Genscher ist tot, La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), janvier 2016. Consulté le 24/11/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/revue-de-presse/archives-revue-de-presse-2016/1-april-2016-hans-dietrich-genscher-ist-tot