Saša Stanišic: «Wie der Soldat das Grammofon repariert»
Sasa Stanisic: Wie der Soldat das Grammofon repariert, Luchterhand Literaturverlag, München 2006, 320 Seiten. ISBN: 978-3-630-87242-1 Auch als Taschenbuch erhältlich: btb, ISBN: 978-3-442-73762-8
Und der Krieg?, fragte ich.
Der Krieg war uns auf den Fersen, hatte aber kein Visum für Italien, sagte Walross. (S. 99)
Im Text von Sasa Stanisic tritt der Krieg als eigene Figur auf. Er steht im Zentrum des Buches und dennoch weiß man wenig von ihm. In diesem Roman fällt besonders auf, dass die Figuren andauernd die Last des Krieges ertragen, nicht als abstrakte Bedrohung im Hintergrund, sondern in seiner alltäglichen Form: die Präsenz von Soldaten oder den Verboten, kyrillisch zu schreiben oder den Namen Titos auszusprechen.
Als der Krieg über die kleine Stadt Visegrad hereinbricht, in der die glückliche Kindheit von Aleksandar beginnt, muss die Familie fliehen. In der Fremde eines Landes, das weit entfernt von Bosnien liegt, erweist sich Aleksandars Fähigkeit, Geschichten zu erzählen als lebenswichtig. Denn so gelingt es ihm, sich in diesem merkwürdigen Land namens Deutschland zurechtzufinden und sich eine Heimat zu schaffen. Die Welt des kleinen Aleksandars ist einzigartig: Zwischen seinen phantasierten Geschichten und der Tragik seiner Situation schwankt der Leser immer zwischen der humoristischen und der traurigen Seite. Die Perspektive beschränkt sich auf die Augen des Kindes, was die Absurdität der Kriegshandlungen unterstreicht. Dank eines Zauberstabs, der ihm von seinem Großvater geschenkt wurde, kann er sich seine neue Welt erschaffen. Seine Phantasie holt das Verlorene wieder zurück. Die Geschichte Aleksandars ist auch diejenige eines verlorenen Paradieses, "die Zeit, als alles gut war".
Sasa Stanisic hat die erstaunliche Begabung, sich wieder in ein Kind hineinzuversetzen. Das Kind interpretiert die Geschichte, die Ereignisse. Als Erwachsene sind wir zunächst verloren in dieser Welt, in der die Logik und die lineare Realität einfach fehlen, dann gewöhnen wir uns daran, die Szene nur aus einem Blickwinkel zu beobachten, nur eine beschränkte Sicht auf das Ganze zu haben. Die Kohärenz muss rekonstruiert werden, bis man entdeckt, dass letztere nicht in der chronologischen Erzählung einer Kindheit liegt. Das ganze Buch enthält Ereignisse, wie eigenständige, zersplitterte Bilder, die das Kind beeindruckt haben: der Tod seines Großvaters im Fluss Drina oder die Kleidung des "Marienkäfers". Der Roman ist eine Chronik des Alltags, der durch Aleksandars Fabulierkunst beschönt wird. Man sieht, wie die Soldaten in das Leben einbrechen. Man hat aber keinen Gesamtblick über die Situation. Der Titel verrät, dass die Erzählung tatsächlich Einzelheiten fokussiert, weil das Grammofon für die Erwachsenen eigentlich nicht wesentlich ist!
Die Sprache ist auch ein wichtiges Instrument, mit der uns der Roman verzaubert. Sasa Stanisic schöpft die Möglichkeiten des Deutschen aus, um eine authentische Sprache zu kreieren, die zugleich humoristisch und realistisch klingt. Die Parallelen zu Die Asche meiner Mutter von Frank McCourt sind dabei augenfällig. Mit einem ähnlichen Ton verleiht die Sprache der Handlung einen heiteren Charakter und ermöglicht zugleich die Entwicklung eines Pathos, da Aleksandar ständig eine Diskrepanz zwischen sich und der Welt erlebt. Wie der kleine Frankie McCourt erfindet Aleksandar Geschichten und schafft mit seinen Wortbildungen burleske und tragikomische Situationen, die niemanden unberührt lassen.
Pour citer cette ressource :
Perynn Bleunven, "Saša Stanišic: «Wie der Soldat das Grammofon repariert»", La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), mars 2009. Consulté le 05/11/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/litterature/fiches-de-lecture/sa-a-stani-ic-wie-der-soldat-das-grammofon-repariert-