Ingo SCHULZE: « Adam und Evelyn» (2008)
Ingo Schulze: Adam und Evelyn, Berlin, Berlin Verlag, 2008, 320 Seiten. ISBN-13: 9783827008107
Ingo Schulze wurde 1962 in Dresden geboren. Nach dem Studium der klassischen Philologie und der Germanistik an der Universität Jena arbeitete er als Schauspieldramaturg im Landestheater Altenburg. Seit 1993 ist er als freier Schriftsteller in Berlin tätig. 1998 wurde er mit dem Roman Simple Storys. Ein Roman aus der ostdeutschen Provinz bekannt. Zehn Jahre später wurde er Stipendiat der Villa Massimo in Rom. Während dieses Aufenthalts entstand sein Roman Adam und Evelyn.
Sommer 1989. Adam und Evelyn, ein Paar in der DDR. Adam ist Damenschneider, Evelyn arbeitet als Kellnerin, obwohl sie lieber Kunstgeschichte studiert hätte. Ihren Traum gab sie nach zwei Absagen der Universität auf. Der Alltag der Beiden wird jedoch dadurch gestört, dass sie ein Visum für Ungarn bekommen, wo sie Urlaub machen wollen. Kurz vor der Abfahrt streiten sie sich aber, weil Evelyn Adam zusammen mit einer anderen Frau ertappt hat. Deswegen fahren sie letztenendes getrennt nach Ungarn. Nach der Fahrt und einem kurzen Abenteuer treffen sie sich schließlich am ungarischen See Palaton wieder. In diesem bei den DDR-Bürgern beliebten Ort stellt sich die Kernfrage des Romans: Wollen sie bzw. sollten sie in den Westen fliehen? Schon im Mai 1989 wurde nämlich die ungarische Grenze und damit der Eiserne Vorhang an dieser Stelle geöffnet. In dieser Szene stellt sich heraus, dass Evelyn einzig in der Hoffnung auf ein besseres Leben im Westen nach Ungarn wollte, und dass sie es immer vorgehabt hatte, gen Westen zu fliehen. Adam hingegen ist anderer Ansicht...
Wie schon der Titel Adam und Evelyn ahnen lässt, wird hier auf den biblischen Mythos und die Schöpfungsgeschichte angespielt. Die männliche Figur heißt übrigens nicht wirklich Adam sondern Lutz. Und Evelyn wird mit Spitznamen auch Eva genannt. Auf dem Bucheinband wurde ein wieder bearbeitetes Bild von Baselitz, Dr. Dumouchel und die Japanerin im Paradiese (2000), gedruckt. Dadurch wird von Anfang an klar, dass die Suche nach dem Paradies im Mittelpunkt der Handlung steht. Die zentralen Fragen könnten wie folgt lauten: Was ist überhaupt unter dem Wort Paradies zu verstehen? Wo ist es denn zu finden? In welchem Land? In welchem "Deutsch-Land"? In welchem System? Steckt es in der Arbeit? In den Liebeleien? In Adams Garten? Und auf welche Weise kann man sich dessen sicher sein? Und schließlich: Welche Unterschiede bestehen zwischen dem Westen und dem Osten? Adam und Evelyn besteht aus zahlreichen Fragen und dem Leser werden mehrere Schicksale erzählt, woraus er möglicherweise seine eigenen Antworten finden mag. Diese Fragestellungen können sowohl im historischen als auch aktuellen Zusammenhang verstanden werden. Alle Probleme und unter anderem die Wirtschaftskrise, die heutzutage unseren Alltag prägen, führen nämlich dazu, dass wir Lösungen in Alternativen suchen, dass wir uns in einem Raum zwischen den alten Zweifeln an die Zukunft und dem für uns besten Weg befinden, wie Adam. Im Roman folgt man der Geschichte menschlicher Figuren mit ihren eigenen Erfahrungen, Ängsten und Hoffnungen, die so vielfältig sind wie die der Menschheit. Wenn sich die Geschichte in das Leben der Einzelnen einmischt, wird die eigene Ordnung wieder in Frage gestellt. Entscheidungen führen plötzlich zu übergroßen Änderungen des Entscheidungsträgers und seiner Verwandten. Schulze möchte vor allem zeigen, wie sich Menschen in einer sich immer ändernden Welt zurechtfinden; wie sich Menschen zwischen ihren Gefühlen, ihrer Sehnsucht und der Wirklichkeit orientieren können. In einer Zeit, in der die Unterschiede zwischen der ehemaligen DDR und der BRD immer mehr verblassen, erinnert der Autor an die Erlebnisse und Eindrücke der DDR-Bürger, an ihre Ankunft in der BRD. So viele Details, die langsam in den Gedächtnissen verschwinden.
Stilistisch gesehen wirkt das Buch besonders lebensnah zum Beispiel durch die meist knappen Sätze. Der Roman ähnelt dabei auch einem Theaterstück, da er aus zahlreichen Dialogen besteht. Hier werden vor allem Fakten erzählt, die die Gefühle durchsickern lassen sollen. Dieser Roman ist einfach zu lesen, ohne dass der literarische Stil darunter leidet. Die Zeitsprünge beleben die Geschichte und machen sie noch spannender. Das Vokabular ist meist einfach, zugleich aber reich, und bezieht sich auf den Alltag. Die vielen Beschreibungen können für Übersetzungsübungen verwendet werden.
Das Interessante an Adam und Evelyn liegt sicherlich vor allem darin, dass es an der Kreuzung zwischen der Bibel, der Maueröffnung und einer gewöhnlichen Lebensgeschichte steht. Hier soll, so Schulze in einem Interview auf dem Radiosender France Culture (12.06.2010), eine Vergegenwärtigung der Sünden und des Paradieses inmitten der neueren deutschen Geschichte dargestellt werden.
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Pour en savoir plus
Adam und Evelyn und das Erbe der DDR-Literatur (Louise Sampagnay)
Ingo Schulze im Gespräch : cle.ens-lyon.fr
Offizielle Seite zum Autor: ingoschulze.com
Offizielle Seite zum Buch: adamundevelyn.de
Leseprobe: media.libri.de
Pour citer cette ressource :
Sibille Adam, "Ingo SCHULZE: « Adam und Evelyn» (2008)", La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), juillet 2011. Consulté le 11/10/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/litterature/fiches-de-lecture/ingo-schulze-adam-und-evelyn-2008-