9. November 2019 - 30 Jahre Mauerfall : DDR-Geschichten
Schmuckstücke im Kuchen
Ein Gastbeitrag von Konstanze Soch (Zeit Online, 04/11/2019)
Millionen Pakete überqueren die Grenze jedes Jahr in beide Richtungen. Nicht nur die DDR kontrolliert eifrig, was da so verschickt wird.
Im März 1951 wendet sich Ursula Geßler aus Bayern mit einem Brief an Jakob Kaiser, den Bundesminister für gesamtdeutsche Angelegenheiten. Sie möchte ihre Verwandten, die "in der Ostzone leben und infolge der Entwicklung der Dinge sehr bedürftig" sind, durch Lebensmittelpakete unterstützen. Allerdings seien ihre Päckchen wiederholt in der DDR beschlagnahmt worden. Das empfinde sie als ungerecht, denn "unserem Gefühl nach sind unsere Verwandten in der Ostzone Deutsche wie wir". Ursula Geßler insistiert: Die Behörden sollten "selbst bei Bestehen derartig widersinniger Zollvorschriften sehr großzügig verfahren".
Ihr Brief bezeugt das durchaus typische Gefühl der Zusammengehörigkeit, das Menschen in beiden Teilen Deutschlands verband. Die Menschen im Osten wie im Westen wollten durch den Versand von Paketen die Teilung überwinden.
30 Jahre Mauerfall: Der Handballer, der vom Vater bespitzelt wurde
Claudia Rey (Neue Zürcher Zeitung, 08/11/2019)
Wolfgang Böhme ist in der DDR ein Superstar. Dann wird er zum Staatsfeind erklärt, aus dem Handball-Nationalteam geschmissen, aus den Archiven gelöscht. 30 Jahre nach dem Mauerfall erinnert er sich.
Am 9. November 1989 soll in einer Turnhalle in Minden nahe Hannover in Westdeutschland ein Handballspiel stattfinden. Kurz vor Anpfiff schallt die Stimme des Speakers durch die Halle: «In Berlin ist die Mauer gefallen.» Die Leute jubeln. Mindens Trainer Wolfgang Böhme ist tief bewegt. Wenige Monate zuvor hat er die DDR verlassen, um im Westen in ein besseres Leben zu starten. Heute, 30 Jahre später, sagt Böhme: «Wenn ich gewusst hätte, dass die Mauer fällt, wäre ich geblieben.»
An einem Oktobertag 2019 kehrt Böhme zurück zum Tränenpalast, der ehemaligen Ausreisehalle des Bahnhofs Friedrichstrasse in Berlin. Es ist der Ort, an dem er 1989 gemeinsam mit seiner Frau in einen Zug nach Westberlin gestiegen ist. Der Tränenpalast ist heute ein Museum; Touristen machen Fotos. Böhme blickt auf das hellblaue Gebäude mit den grossen Fensterfronten: «Da auf der Seite sind wir rein. Mein Schwiegervater hat geweint. Ich habe ihn zum ersten Mal weinen sehen. Er wusste nicht, ob er seine Tochter wiedersieht.»
Generation Nachwendekinder: Identitätssuche und die Schweigespirale
Rayna Breuer (Deutsche Welle, 03/11/2019)
Sie waren auf der Welt, als die Mauer fiel, aber zu jung, um die Zukunft mitzugestalten. Sie sind die dritte Generation Ost, die Nachwendekinder. Aber wer sind sie wirklich und wie viele gibt es von ihnen?
1990 in Bonn, meine Einschulung. Vor einem Jahr ist die Mauer gefallen, in wenigen Wochen wird Deutschland wiedervereint. Schwarz-Rot-Gold, rosa Schultüte, heftige Bauchschmerzen. Meine Erinnerungen an diesen besonderen Tag im Leben sind genauso verklärt, wie an meine Kindheit vor der Wende - an meine Zeit im Osten. In der Volksrepublik Bulgarien geboren, in der DDR laufen gelernt.
Eins ist geblieben - die Geräusche jener Zeit, das Poltern des Umbruchs, die Gespräche am Küchentisch, das Tuscheln mit den Nachbarn, die Briefe an die Großeltern in Bulgarien, die Stimmen im Fernseher, gemischte Gefühle, Ungewissheit, im Großen und Ganzen optimistische Seufzer. Danach: Funkstille. Schweigen. Als ob die Generation unserer Eltern und Großeltern von heute auf morgen entschieden hätte, die Vergangenheit in eine Kiste zu stecken und in der dunkelsten Ecke des Dachbodens abzustellen. Eine Zeitlang blieb diese Kiste dort - unberührt von der Außenwelt.
Wie viel Geschichte verträgt der Mensch?
Annette Ramelsberger (Süddeutsche Zeitung, 7. November 2019)
Das letzte Jahr der DDR erlebte unsere Autorin als Korrespondentin der Nachrichtenagentur AP in Ost-Berlin. Bis die Menschen auf der Mauer tanzten, deutete kaum etwas auf den Untergang des Regimes hin. Ein Rückblick.
Das Gebäude war zehn Etagen hoch, 22 Meter breit und 145 Meter lang. Es war das Außenministerium der DDR, der größten DDR der Welt, wie die eigenen Bürger spotteten. Ich war dort dreimal in meinem Leben. Das erste Mal Anfang 1989, als ich meine Akkreditierung als Korrespondentin der amerikanischen Nachrichtenagentur AP in der DDR abholte. Ein wichtiger Posten, aber anbiedern wollte ich mich nicht: Ich fuhr mit meinem alten Fiat vor, angerostet und mit hängendem Auspuff.
Und ich trug das, was ich sonst auch trug: rote Stiefel und gestreifte Hosen. Die für mich zuständige Dame zog die Augenbrauen hoch und übergab mir die Akkreditierung, verbunden mit der strengen Aufforderung, unvoreingenommen und fair über die DDR zu berichten.
Die Heckert-Kinder
Beatrice Behn, Sonja Hartl, Maria Wiesner, René Gebhardt (FAZ, 04/11/2019)
Die Kinder des Fritz-Heckert-Gebiets in Chemnitz wuchsen in der sozialistischen Plattenbauutopie auf. Hier erzählen sechs, wie sie die DDR, die Wende und die Umbrüche danach erlebten.
Roter Lehm lag auf den Wegen, als die ersten Elfgeschosser im Süden von Chemnitz sich in den Himmel reckten. Hier entstand Ende der siebziger Jahre das drittgrößte Plattenbaugebiet der DDR. Chemnitz hieß damals noch Karl-Marx-Stadt und das große Neubauviertel bekam den Namen des Kommunisten Fritz Heckert verliehen. Durch die fast schon kollektive Wohnform des Plattenbaus sollte eine sozialistische Gemeinschaft geformt werden, so die Theorie. Die Kinder, die hier aufwuchsen, erinnern sich bis heute an den roten Lehm, der an ihren Schuhen klebte, wenn sie zur Schule gingen. Und sie erinnern sich an eine idyllische Kindheit mit vielen Freunden, die Freiheit, stundenlang draußen herumzustreifen, und an Mutproben auf den Dächern der Hochhäuser. Den Bruch brachte der Mauerfall.
Für die Kinder des Heckert-Gebiets war er ein Einschnitt, der sich nicht so sehr am Datum selbst festmachen lässt. Vielmehr waren es die Ereignisse, die danach folgten, die alles verändern sollten: In den neunziger Jahren kam die Arbeitslosigkeit nach Chemnitz, Fabriken und Betriebe wurden geschlossen, jeder Fünfte verlor den Job. Für manche wie Kathrin Günther bedeutete die Wende den Verlust der besten Freunde, für andere wie Sven Eisenhauer brach eine Zeit voller Abenteuer an. Mit dem Mauerfall kam aber auch die Entwertung des Plattenbaus. Die Wohnungen standen leer, um die Jahrtausendwende begann der Abriss. Der Chemnitzer Rapper Trettmann malt ein düsteres Bild, wenn er in „Grauer Beton” über seine Heimat singt: „Seelenfänger schleichen um den Block und machen Geschäft mit der Hoffnung. Fast hinter jeder Tür lauert’n Abgrund. Nur damit du weißt, wo ich herkomm’”.