20. Februar 2019 - Die 69. Berlinale
Berlinale 2019: Alles, was Sie wissen müssen
Jochen Kürten (Deutsche Welle, 04/02/2019)
Die Berliner Filmfestspiele stehen vor der Tür und die Kinowelt blickt auf die deutsche Hauptstadt. Die letzte Berlinale unter der Leitung des langjährigen Chefs Dieter Kosslick könnte eine der Frauen werden.
1. Der Eröffnungsfilm
Die dänische Regisseurin Lone Scherfig macht den Auftakt: Als Eröffnungsfilm der 69. Berlinale (7.2.-17.2.2019) wird "The Kindness of Strangers" gezeigt, der von der Begegnung von vier Menschen in einem kalten New Yorker Winter erzählt. In der dänisch-kanadischen Co-Produktion spielen unter anderem Zoe Kazan, Tahar Rahim, Andrea Riseborough und Bill Nighy mit. Die 2001 bereits mit einem Silbernen Berlinale-Bären ausgezeichnete Lone Scherfig ist eine von sieben Regisseurinnen im diesjährigen Berlinale-Wettbewerb. Dieter Kosslick verspricht einen "wunderbaren Festivalauftakt". Die Filmemacherin habe "Gespür für Charaktere, große Emotionen und subtilen Humor".
Wie hat MeToo die Berlinale verändert?
Helena Davenport (der Tagesspiegel, 11/02/2019)
2018 sprachen auf dem Festival alle über MeToo. Ein Jahr später hat sich einiges getan, mit so vielen Regisseurinnen im Wettbewerb wie nie zuvor.
Während der letztjährigen Berlinale erlebte die MeToo-Debatte in Deutschland gerade einen Höhepunkt. Kurz zuvor waren Vorwürfe gegen den deutschen Regisseur Dieter Wedel bekannt geworden. Auf dem Festival stellten sich Initiativen vor, Arbeitsgruppen bildeten sich, zahlreiche Veranstaltungen fanden statt. Besserung wurde gelobt. Wie aber sieht es ein Jahr später aus? Hat die breite Diskussion bereits Veränderungen für Frauen im Filmgeschäft bewirkt? Und wie begleitet das Festival die anhaltende Debatte?
„Man könnte sagen, dass wir es in diesem Jahr mit einer Frauen-Berlinale zu tun haben“, sagt die Fotografin und Dokumentarfilmerin Barbara Rohm, nicht ohne ein Lachen. Rein numerisch hat sich recht. 37 Prozent der Filme im Programm stammen von Regisseurinnen, im Rennen um die Bären führen bei sieben von 17 Filmen Frauen Regie. Zum Vergleich: 2018 waren von den 18 Wettbewerbsfilmen nur vier von Frauen. Betrachtet man Gewerke wie Kamera oder Produktion, sinkt der Anteil, auch im diesjährigen Wettbewerb. Hier gibt es zum Beispiel nur zwei Kamerafrauen. Dennoch hat sich etwas getan, wenngleich die 50 Prozent, die der Verein ProQuote Film fordert, in dessen Vorstand Rohm sitzt, noch lange nicht erreicht sind.
Politik trifft Kino auf der Berlinale
Jochen Kürten (Deutsche Welle, 12/02/2019)
"Das Private ist politisch" - so lautet das Motto der Berliner Filmfestspiele 2019. Nicht nur private Dramen, die einen politischen Hintergrund haben, sind damit gemeint. Im Wettbewerb läuft auch knallhartes Polit-Kino.
Drei Filme, dreimal Politik im Kino bei den Berliner Filmfestspielen 2019. Die Berlinale galt schon immer als das politischste unter den großen Filmfestivals weltweit. Das hat seinen Grund unter anderem in der Historie: Lange war die Berlinale das Festival, das West und Ost miteinander verband. Zu Zeiten des Kalten Krieges, als die Mauer noch stand, schlugen die Berlinale und die dort gezeigten Filme kulturelle Brücken für Filmschaffende und für das Publikum.
Politisches Festival auch in der globalisierten Welt von heute
Den Ruf hat das Festival verteidigt, auch wenn sich das Weltgeschehen inzwischen verändert hat. In den Nebenreihen der Berlinale, in Forum und Panorama, werden traditionell viele politische Filme gezeigt, vor allem auch Dokumentationen. Doch auch im Wettbewerb finden sich immer wieder Filme, die Politik und Zeithistorie in Augenschein nehmen. Das ist auch in diesem Jahr so.
"Selbstbestimmt": Berlinale-Retrospektive zeigt Filme von Frauen
Jochen Kürten (Deutsche Welle, 13/02/2019)
"Die Ungerechtigkeit hat nicht aufgehört", sagt Filmexperte Reiner Rother im DW-Interview. Aber es hat sich etwas entwickelt. Die Berlinale- Retrospektive 2019 blickt auf weibliches Filmschaffen in Ost und West.
Deutsche Welle: Seit knapp zwei Jahren ist die Geschlechtergerechtigkeit im Film ein großes Thema. War das der Grund, in der Retrospektive 2019 auf die Regisseurinnen zu schauen?
Reiner Rother: Nein, der Ausgangspunkt war unsere Retrospektive von 2016: "Deutschland 1966 - Filmische Perspektiven in Ost und West". Damals haben sich ja zwei Wege getrennt: Die Defa-Produktion (in der DDR) wird in diesen Jahren zum großen Teil verboten, der "Neue Deutsche Film" in der Bundesrepublik wird international erfolgreich. Damals - 2016 - haben wir die ersten Filme von Frauen gezeigt, die an den Filmhochschulen studiert haben: Ulla Stöckl, Helke Sander, Janine Meerapfel. Das war der Ausgangspunkt. Jetzt wollten wir bei "Selbstbestimmt. Perspektiven von Filmemacherinnen" den Bogen spannen bis ins Jahr 1999, um die beiden ersten Generationen von Regisseurinnen - und zwar auch wieder in der DDR und der Bundesrepublik - mit ihrem Schaffen vorstellen zu können.
Tausche "Terminator" gegen Tisch
Maria Wiesner (FAZ, 14/02/2019)
Auf der Berlinale wird ein Konzept zur Frauenförderung unterschrieben. Die Starproduzentin Gale Anne Hurd ermutigt ihre Kolleginnen. Und Dieter Kosslick wagt einen „witzigen“ Spruch.
Eigentlich sollte die kommerziell wie künstlerisch sehr erfolgreiche Filmproduzentin Gale Anne Hurd im Rahmen der Veranstaltung „Gender, Genre, and Big Budgets“ des Frauenverbandes Wift (Women in Film and Television) auf der Berlinale darüber sprechen, wie sie es geschafft hatte, sich in Hollywood durchzusetzen und Filme wie „Terminator“, „Aliens“ oder die Erfolgsserie „The Walking Dead“ zu produzieren. Seit Jahren fordert sie Quoten für Frauen in Führungspositionen. Es schien also nur folgerichtig, dass der Diskussion mit ihr die offizielle Unterzeichnung des „5050x2020“-Versprechens durch Festivaldirektor Dieter Kosslick vorausgehen sollte, das ankündigt, „bis 2020 die Leitungen und Auswahlgremien paritätisch zu besetzen sowie Zahlen zur Geschlechterverteilung bei Filmeinreichungen und -auswahl zu veröffentlichen“.
Im Gefängnis wird der rote Teppich ausgerollt
Verena Mayer (Süddeutsche Zeitung, 15/02/2019)
Die Berlinale hat diesmal einen ungewöhnlichen Spielort: die JVA Plötzensee. Die Insassen müssen auch während der Kinovorstellung hinter Gittern und dicken Mauern bleiben, aber sie sehen Kunst, die sie im Innern berührt.
Um zur Filmvorführung bei der Berlinale zu kommen, muss man erst durch eine schwere Gittertür. Man muss den Personalausweis zeigen, Taschen und Handy abgeben und wird von oben bis unten abgetastet. Dann geht es durch noch mehr schwere Türen, bis in eine Halle mit Leinwand, deren Fenster vergittert sind. Denn das hier ist kein normaler Kinosaal, sondern ein Gefängnis. Die Justizvollzugsanstalt in Berlin-Plötzensee nämlich, einem Viertel im Nordwesten der Hauptstadt, in dem sich Mauern und Stacheldraht über ganze Straßenzüge ziehen, und dazwischen reiht sich ein Klotz an den nächsten, Männergefängnis, offener Vollzug, Haftkrankenhaus, Jugendstrafanstalt. Hunderte Menschen sind hier eingesperrt.
Es ist später Nachmittag, im Gefängnis endet bereits der Tag. Es ist Zeit für den "Verschluss", die Gefangenen werden von der Arbeit zurück in ihre Zellen gebracht. Doch zwei Dutzend von ihnen gehen jetzt zur Berlinale. In einer Reihe, flankiert von mehreren Justizvollzugsbeamten. Es sind Männer, die betrogen oder gestohlen haben, die mit Drogen gehandelt oder jemanden schwer verletzt haben. Sie müssen hinter den schweren Türen warten. Aufstellen, durchzählen, dann werden sie zum Kinosaal geführt, in dem schon die Leute von draußen sitzen. Das typische Berlinale-Publikum, Kulturbegeisterte, Kritiker, Filmleute.
Die Welt läuft falsch
Jürgen Kaube (FAZ, 16/02/2019)
Bruno Ganz ist gestorben, mit 77 Jahren, zu Hause in Zürich. Zum Schauspielen benötigte der größte deutschsprachige Mime seiner Generation kaum etwas anderes als sein Gesicht, seinen Blick und seine Stimme.
Seit Mitte der sechziger Jahre schon war Bruno Ganz berühmt, als zentraler männlicher Darsteller an der Berliner Schaubühne. Seinen Tasso, seinen Prinzen von Homburg, seinen Schalimow aus den „Sommergästen“, alles unter der Regie von Peter Stein, kannten wir nur von den filmischen Aufzeichnungen, aber auch so war das Gesicht des oft wie konzentriert neben sich stehenden, hochgenau neben sich sprechenden Ganz’ ein Ereignis. Umso mehr auf der Bühne.
Der richtige Film gewinnt den Goldenen Bären
Andreas Busche (der Tagesspiegel, 17/02/2019)
Die Berlinale-Jury unter Juliette Binoche setzt mit ihren Auszeichnungen die richtigen Zeichen. Ein schwacher Jahrgang endet damit noch versöhnlich.
Ein besseres Ende für das Drehbuch der 18-jährigen Ära Dieter Kosslicks lässt sich kaum denken. Mit Angela Schanelec und Nora Fingscheidt standen zwei deutsche Regisseurinnen im Wettbewerb der 69. Berlinale, beide zeichnete die Jury unter Leitung von Juliette Binoche bei der Bären-Gala im Berlinale Palast aus. Schanelec, die nach Filmemachern wie Christian Petzold oder Maren Ade als letzte Vertreterin der sogenannten Berliner Schule endlich am Wettbewerb teilnahm, erhielt den Silbernen Bären für „Ich war zuhause, aber …“. Fingscheidt wurde für ihr Spielfilmdebüt „Systemsprenger“ mit dem Alfred-Bauer-Preis geehrt, er geht an Produktionen, die „neue Perspektiven der Filmkunst eröffnen“. Es ist das versöhnliche Finale eines – trotz nur 16 Filmen – mitunter zähen Wettbewerbs, der sich seine Höhepunkte bis zum Schluss aufhob.
Zum Beispiel Nadav Lapids Siegerfilm „Synonymes“, der hochverdient den Goldenen Bären erhält. Oder Wang Xiaoshuais dreistündiges Familiendrama „So Long, My Son“, der einzige Wettbewerbsbeitrag aus China, nach dem Abzug von Zhang Yimous „One Second“ – offenbar wegen Verschärfung der Filmfreigabe in der Volksrepublik. Die Schauspielerpreise gingen an Wang Jingchun und Yong Mei für ihre Darstellung eines Ehepaars, das über einen Zeitraum von 30 Jahren den Verlust seines Kindes zu verarbeiten versucht. Die beiden Filme könnten stilistisch kaum unterschiedlicher ausfallen, sie vermessen die erzählerische Bandbreite des Wettbewerbs.
Am Ende gewinnt tatsächlich der beste Film
David Steinitz (Süddeutsche Zeitung, 17/02/2019)
Viel wurde auf dieser Berlinale diskutiert, ob Netflix-Produktionen in den Wettbewerb gehören. Doch dann ging der Goldene Bär verdient an den klassischen Kinofilm "Synonymes".
Die Sexszene mit dem Tintenfisch ist einer der Momente, der von dieser Berlinale in Erinnerung bleiben wird. Gedreht hat die Sequenz die katalanische Regisseurin Isabel Coixet für ihr Liebesdrama "Elisa y Marcela", das mit 15 anderen Filmen im Wettbewerb um den Goldenen Bären konkurrierte. Darin geht es um zwei junge Frauen, die sich Ende des 19. Jahrhunderts in einer galizischen Klosterschule kennenlernen, ineinander verlieben und eine Beziehung beginnen - ein Skandal für die erzkatholische Landbevölkerung.
Jedenfalls zieht eines der Mädchen beim Liebesspiel plötzlich einen toten, glitschigen Tintenfisch aus der Wanne und klemmt ihn zwischen sich und ihre Partnerin, während sie sich gegenseitig die Brüste streicheln. Das ist einer dieser typischen Festivalmomente, die es, neben vielen guten Filmen, auch auf der Berlinale jedes Jahr wieder gibt: Eine Regisseurin oder ein Regisseur schießt beherzt übers Ziel hinaus und die Kinozuschauer wissen nicht mehr, ob sie lachen oder vor Fremdscham in ihren Sesseln versinken sollen.