9. November 2018 - 100 Jahre deutsche Republik
"Eine tiefgreifende Zäsur in der deutschen Geschichte"
Steinmeiers Rede im Wortlaut (Süddeutsche Zeitung, 9/11/2018)
Mit der Novemberrevolution entsteht vor 100 Jahren Deutschlands erste Demokratie. Der Bundespräsident nennt sie einen Aufbruch in die Moderne. Seine Bundestagsrede im Wortlaut.
"Es lebe die deutsche Republik!"
Was war das für ein gewaltiger Umbruch, den Philipp Scheidemann am 9. November 1918 den Menschen auf den Straßen Berlins verkündete, hier an diesem Ort, von einem Fenster des Reichstages aus: der Zusammenbruch des Kaiserreichs, das Ende einer jahrhundertealten monarchischen Ordnung, der Beginn einer demokratischen Zukunft für Deutschland!
Was für ein Ausruf in den letzten Tagen des Weltkrieges! Welche Botschaft für müde, ausgemergelte Männer und Frauen, für ein vom Krieg gezeichnetes Land, für die Städte, Kasernen, Betriebe, in denen Meutereien und Massenstreiks wie ein Lauffeuer um sich griffen, in dieser explosiven Stimmung aus Protest, Hunger, Ungewissheit.
Endlich Frieden, endlich politische Selbstbestimmung und soziale Gerechtigkeit - das war die Verheißung jener Worte. Ein Lichtblick an einem trüben Novembertag!
Als die deutsche Republik doppelt ausgerufen wurde
Barbara Galaktionow (Süddeutsche Zeitung, 9/11/2018)
"Ich danke nicht ab", sagt Kaiser Wilhelm II. vor 100 Jahren trotzig. Am 9. November 1918 wird er gestürzt - und das ist nur der Anfang gewaltiger Umwälzungen. Bilder einer stürmischen Zeit.
Kaiser unter Druck
Im Herbst 1918 ist das Deutsche Reich am Ende - militärisch und moralisch. Der Erste Weltkrieg ist verloren, die Versorgungslage im Reich kritisch und die politischen Spannungen sind enorm. Der deutsche Kaiser und König von Preußen will das allerdings nicht wahrhaben. "Ich danke nicht ab", bekräftigt Wilhelm II. noch am 1. November 1918. "Meine Abdankung würde der Anfang vom Ende aller deutschen Monarchien sein." Nur wenige Tage später, am 9. November 1918, verkündet Reichskanzler Max von Baden Wilhelms Thronverzicht. Wilhelm flieht in die Niederlande und dankt dort später ab.
Als der Traum Wirklichkeit wurde
Kommentar von Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung, 9/11/2018)
Vor 100 Jahren wurde in Deutschland die Republik ausgerufen. Es ist zusammen mit dem Mauerfall ein Tag zum Feiern - allen Katastrophen zum Trotz, die auch auf diesen 9. November fallen.
Vor hundert Jahren ging ein Traum in Erfüllung. Es war der Traum der frühen deutschen Demokraten, es war ein Traum, den ein Mann wie Friedrich Hecker träumte und von dem das Heckerlied singt. Dieses Lied war einst eine deutsche Marseillaise, eine Revolutionshymne gegen die Unterdrückung. Heute ist es vergessen, so vergessen wie der Mann, dessen Namen es trägt: Friedrich Hecker, Rechtsanwalt, Politiker, gescheiterter Revolutionär von 1848; er war seinerzeit die Ikone des Aufstands gegen die Monarchen, der Kämpfer für die Rechte des Volks. Er floh, wie viele revolutionäre deutsche Demokraten, in die Vereinigten Staaten von Amerika, von denen er dann rühmend schrieb, dass es dort keine Fürsten gibt und "jeder Esel Präsident sein kann".
Die Revolution, die steckenblieb
Christian F. Trippe (Deutsche Welle, 8/11/2018)
Franzosen, Amerikaner, Russen haben eine; Kuba, Mexiko und Iran ebenfalls. Auch die Deutschen könnten auf eine zurückblicken, aber im eigenen Land ist sie fast vergessen: Die demokratische Revolution vom November 1918.
Das soll sich jetzt ändern. Nicht mit einer History-App oder im Museum, sondern ganz im Stil von damals: "Mitzubringen sind: vier rote Fahnen und acht Plakate, je vier Mal 'Nieder mit dem Krieg!' und 'Freie Wahlen!' sowie 120 rote Armbinden." So die Requisitenliste der Aktion "Die Revolution rollt". Anfang November bewegt sie sich quer durch Deutschland zu den Schauplätzen des Umbruchs von 1918, veranstaltet vom Verein "Weimarer Republik".
Zu den Aktionen auf Straßen und Plätzen der einstigen Revolutionsstädte geht es mit der Eisenbahn. So wie die Bahn auch damals die Revolution innerhalb weniger Tage ins ganze Land streute. Insgesamt sollen 47 Bahnhöfe abgefahren werden, an jedem Halt sollen dann "15minütige Flashmobs mit Schauspielern und Komparsen" aufgeführt werden, "die einen Eindruck davon geben, wie vor 100 Jahren die Demokratie erkämpft wurde", so der Veranstalter.
Novemberpogrome: Die Welt schaute zu
Sarah Judith Hofmann (Deutsche Welle, 9/11/2018)
In der Nacht des 9. Novembers 1938 werden überall in Deutschland Synagogen, Geschäfte, Wohnungen zerstört. Juden werden gedemütigt und misshandelt - vor den Augen der Deutschen und der Welt.
"Ich kann mich noch sehr gut an den Morgen des 10. Novembers erinnern", sagt W. Michael Blumenthal. "Mein Vater wurde am frühen Morgen verhaftet. Inmitten der allgemeinen Aufregung und trotz des Verbots meiner Mutter konnte ich unbemerkt auf die Straße laufen. Ich sah die eingeschlagenen Schaufenster am Kurfürstendamm und die noch rauchende, aber nicht mehr brennende Synagoge in der Fasanenstraße." Blumenthal war damals gerade einmal zwölf Jahre alt. 75 Jahre später, 2013, war er wieder in Berlin, als Direktor des Jüdischen Museums. Und als Amerikaner, der einmal Deutscher war.
Die Republik behauptet sich
Bernhard Schulz (der Tagesspiegel, 5/11/2018)
Die deutsche Revolution im November 1918 verlief ohne Plan. Und doch führte sie zu den Errungenschaften der modernen Demokratie.
Walter Rathenau nannte die Ereignisse eine „Revolution aus Versehen“. Sie sei „kein Produkt des Willens, sondern ein Ergebnis des Widerwillens“ gewesen: „Es gab nicht einmal eine revolutionäre Sehnsucht.“
So zitiert Gerd Krumeich den späteren Reichsaußenminister in seinem Buch „Die unbewältigte Niederlage“, eine der herausragenden Veröffentlichungen zum Jubiläum der Deutschen Revolution. Der Düsseldorfer Historiker unternimmt den Versuch, die Geschichte der Weimarer Republik nicht von ihrem Ende der Machtergreifung Hitlers her zu erzählen, sondern von ihrem Anfang unter dem furchtbaren Eindruck des verlorenen Krieges. Krumeich versucht „zu zeigen, dass es tatsächlich eine Art kollektives Trauma gegeben hat, das die Republik beherrschte“.
100 Jahre nach der Novemberrevolution fremdeln die Deutschen wieder mit der Demokratie
Michael Brackmann (Handelsblatt, 30/10/2018)
Am 9. November 1918 rief Philipp Scheidemann die Republik aus. Die Demokratie scheiterte damals. Was sich daraus lernen lässt, beschreiben drei Bücher.
Bonn. Unter Hurrarufen waren sie in den Ersten Weltkrieg gezogen. Siegreich werde das „gute deutsche Schwert“ aus dem Kampf hervorgehen, hatte Kaiser Wilhelm II. seinen Soldaten Anfang August 1914 versichert. Doch schon nach wenigen Wochen ging der deutsche Angriff an der Westfront in einen erbitterten Stellungskrieg über. Wilhelms Propaganda vom ritterlichen Kampf verpuffte im Labyrinth der Schützengräben.
Auch an der „Heimatfront“ schlug die anfängliche Kriegslust in immer stärkere Unlust um. Seit dem Hungerwinter 1916/17 schickten Frauen massenhaft „Jammerbriefe“ ins Feld, es gab Antikriegsstreiks. Im Herbst 1918 erreichte die Friedenssehnsucht den Siedepunkt: In Wilhelmshaven leiteten Matrosen in der Nacht zum 30. Oktober das Ende der Monarchie ein. Sie weigerten sich, zum „Endkampf“ gegen England in den Ärmelkanal auszulaufen. Der Funke der Meuterei sprang auf Kiel über und weitete sich zum Flächenbrand aus.