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07. September 2018 - Unruhen in Chemnitz

Publié par Cécilia Fernandez le 07/09/2018

Ist das Party oder Protest?

Johanna Dürrholz und Sebastian Eder (FAZ, 03/09/2018)

Schätzungsweise 65.000 Menschen aus ganz Deutschland kommen zum „Wirsindmehr“-Konzert nach Chemnitz. Die Besucher brüllen „Nazis raus“. Doch auch Rechte sind auf der Straße präsent.

„Und wir singen im Atomschutzbunker. Hurra, die Welt geht unter!“ Im Regionalzug nach Chemnitz ist die Stimmung am Montagnachmittag ausgelassen. Es ist voll, stickig, eng, junge Leute stehen dicht gedrängt auf dem schmalen Gang neben den Sechserabteilen. Durch die verschmierten Scheiben der Bahn sieht man graue Wolken und Nieselregen, an der Wand daneben klebt ein Sticker: „Ganz Bingen hasst die AfD“. Als das „Hurra“ aus dem K.I.Z.-Lied „Die Welt geht unter“ ertönt, stimmen die ersten ein, und „die Welt geht unter“ grölen dann alle mit. Es wird am offenen Fenster im Gang geraucht, beerenrote Alkopops werden getrunken, es herrscht Festivalatmosphäre. Fröhlich im Regionalzug dem Weltuntergang entgegen. Aber warum feiern heute alle?

Julia Syndram feiert nicht, sie sitzt ganz ruhig in einem der Abteile. Aber auch ihr Ziel ist das #wirsindmehr-Konzert, das die Band „Kraftklub“ organisiert hat, um nach den Ausschreitungen der vergangenen Woche in Chemnitz ein Zeichen gegen Rassismus zu setzen. Ein 35 Jahre alter Deutscher war beim Stadtfest durch eine Messerattacke getötet wurde. Ein Iraker und ein Syrer sind tatverdächtig, bei Demonstrationen von Rechten und Gegendemonstranten war es danach zu Krawallen gekommen. Julia Syndram ist erst 19 Jahre alt, hat aber schon mit 15 Jahren das erste Mal gegen Pegida in Dresden demonstriert. Und sie war auch am Samstag in Chemnitz, als es bei den Demonstrationen Verletzte gab.

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Nach dem Sturm

Johanna Dürrholz (FAZ, 05/09/2018)

Chemnitz habe sich nach den Unruhen verändert, heißt es allenthalben. Aber die Stadt hatte auch schon vorher Probleme – und die bleiben.

Nancy ist 23 Jahre alt, arbeitet bei der Telekom. Sie isst jeden Mittag in der Unimensa, denn eine eigene Kantine haben sie bei der Telekom nicht. Am Montagabend waren viele Menschen in Nancys Alter beim Konzert „Wir sind mehr“, auch Freunde von ihr. Sie selbst ist zu Hause geblieben. „Es ist ein Mensch gestorben.“ Sie findet es eigentlich nicht gut, dann eine Party zu veranstalten. Nancy stammt aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Chemnitz und lebt seit einigen Jahren in der Stadt. Auch sie findet die Ereignisse vom Montag vergangener Woche furchtbar. „Aber ich kann verstehen, dass die Leute aufgestanden sind und Aufruhr gemacht haben“, sagt sie. Als junge Frau fühle sie sich in der Innenstadt nicht mehr wohl und nicht mehr sicher. Viele Bars und Clubs haben zugemacht. Die jungen Leute fahren zum Feiern nach Dresden oder Leipzig. In Chemnitz sei gar nichts mehr los. Das sei früher anders gewesen.

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65 000 sind mehr

Antonie Rietzschel und Ulrike Nimz (SZ, 03/09/2018)

Die Ausschreitungen in Chemnitz sind eine gute Woche her, da laden Rocker und Rapper zu einem Konzert gegen den rechten Hass. Sogar aus Österreich kommen Besucher.

Es ist schwer, Zehntausende Menschen zum Schweigen zu bringen. Doch an diesem Abend gelingt es. Kurz nach 17 Uhr stehen sie dicht gedrängt auf dem Platz vor der Johanniskirche mitten in der Chemnitzer Innenstadt. Über den Platz weht nur das Geklingel der Straßenbahn auf ihrer Fahrt nach Gablenz. Nicht ganz 60 Sekunden währt die Schweigeminute für Daniel H., der am 26. August nach einer Messerattacke starb. Wiederholt ist die Stadt seitdem zum Aufmarschgebiet von Rechtsextremen, Hooligans und "besorgten Bürgern" geworden. An diesem Tag nun will Chemnitz sein anderes Gesicht zeigen, mit einem gigantischen Konzert unter dem Motto "Wir sind mehr".

Die Chemnitzer Stadthalle hat schon viele Künstler kommen und gehen sehen, Hansi Hinterseer, die Tage der erzgebirgischen Folklore, die Krone der Volksmusik. Am frühen Nachmittag sitzen hier Felix Brummer, Sänger der Chemnitzer Band Kraftklub, Campino von den Toten Hosen, Jan "Monchi" Gorkow von Feine Sahne Fischfilet. In einer Pressekonferenz erläutern die Künstler das Wie, Wann und Wo. Vor allem aber: das Warum.

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Wer überrascht ist, der hebe den rechten Arm

Max Czollek (Gastbeitrag) (Zeit Online, 03/09/2018)

Deutschland sei ein geläutertes Land, rechtes Denken habe hier keinen Platz: Das Schlimmste an diesem Selbstbild ist, dass viele Deutsche wirklich daran geglaubt haben.

Was folgt aus den Ausschreitungen in Chemnitz? Der Lyriker und Essayist Max Czollek über das Selbstbild der Deutschen.

Das rechte Narrativ der Auseinandersetzungen in Chemnitz lautet: Ein Deutscher wurde von zwei Ausländern abgestochen, weil er eine deutsche Frau vor sexuellen Übergriffen schützen wollte. Auch wenn die Polizei den Tathergang noch nicht genau rekonstruieren kann, ist klar: Das stimmt so nicht. Der Verstorbene, den sich die Rechten als ihren aktuellen Horst Wessel auserkoren haben, ist ein Deutsch-Kubaner, der sich laut Facebook-Profil eher dem linken politischen Spektrum zugehörig fühlte. Wie nebenbei klären die Rechten damit also die Frage, wann man als Bindestrichdeutscher eigentlich zu Deutschland gehört. Antwort: Wenn man von einem Iraker und einem Syrer umgebracht wird. Gut, dass da nun Klarheit herrscht.

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"Sachsen tickt mehr wie Polen oder Ungarn"

Markus C. Schulte von Drach (Interview) (SZ, 29/08/2018)

Woher kommt der Hass der Menschen, die in Chemnitz demonstrieren? Der ehemalige Direktor der Sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung, Frank Richter, versucht zu erklären - ohne zu rechtfertigen.

Der Theologe und ehemalige Direktor der Sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung Frank Richter ist der breiten Öffentlichkeit bekannt geworden durch sein Bemühen, zwischen Gegnern und Anhängern von Pegida in Dresden zu vermitteln. Er tritt als parteiloser Kandidat bei der der Oberbürgermeister-Wahl im sächsischen Meißen an. Richter hält es für wichtig, zu verstehen, woher die Wut der rechten Demonstranten wie jetzt in Chemnitz kommt - ohne sie zu rechtfertigen oder zu entschuldigen.

SZ: Es wird Ihnen nachgesagt, ein "Versteher" zu sein. Verstehen Sie, was in Chemnitz passiert ist? Wie es zu so einer Eskalation kommen konnte?

Frank Richter: Zuerst muss ich klarstellen, dass der tragische Todesfall ein Einzelfall ist, den Polizei und Staatsanwaltschaft aufklären müssen. Es ist wichtig, dass das schnell und konsequent geschieht.

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Lummerschland ist abgebrannt

Dieter Schnaas (WiWo, 01/09/2018)

Politik gegen AfD und Linke, das bedeutete in Sachsen: Politik gegen das halbe Bundesland. Daran kann auch die Wirtschaft kein Interesse haben. Was tun?

Menschen über 30 werden sich noch erinnern: Deutschland hat sich mal gut angefühlt. Als die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ein Allzeittief erreicht hatte. Als das Land 4,5 Millionen Arbeitslose zählte. Zwölf Jahre ist das jetzt her.

Der Sommer 2006 war nicht ganz so sonnenreich wie der Sommer 2018. Aber die Fußball-Nationalmannschaft holte WM-Bronze, noch dazu im eigenen Land, und viele Deutsche jubelten schwarz-rot-gold, ohne dass einem dabei gleich mulmig zumute wurde.

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