29. September 2016 - "Frantz" von François Ozon
Andreas Kilb (FAZ)
29. September 2016
Großes französisches Kino aus Deutschland: „Frantz“ ist im ersten Weltkrieg gefallen, doch François Ozon und ein plötzlich auftauchender Fremder machen ihn für seine Verlobte wieder lebendig.
Vor genau hundertzwanzig Jahren hatte der französische Filmregisseur Georges Méliès eine seltsame Offenbarung. Er nahm den Straßenverkehr auf einem Pariser Platz auf, als seine Kamera einen Augenblick stockte und dann weiterlief. Als er den Film belichtete, sah er, wie sich ein Omnibus umstandslos in einen Leichenwagen verwandelte. Aus männlichen Passanten wurde eine Gruppe Frauen. Méliès hatte das Stop-Motion-Verfahren entdeckt, mit dem man vor der Kamera jedes Ding durch ein anderes ersetzen kann. Es wurde zum wichtigsten Stilmittel seiner gut fünfhundert Filme.
Noch wichtiger aber als der Trick, durch den Méliès zum eigentlichen Begründer des Erzählkinos wurde – seine Vorgänger, die Brüder Lumière, hatten sich auf dokumentarische Aufnahmen beschränkt –, ist die Einsicht in das Wesen des Filmischen, die daraus folgt. Vor der Kamera, das zeigt die Verschmelzung von Bus und Leichenwagen, ist alles gleich real, sei es eine Straßenszene oder ein wilder Traum. Es gibt keine klare Unterscheidung zwischen Konjunktiv und Indikativ, zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte. Spätere Filmemacher haben sich diese Erkenntnis auf ihre eigene Weise zunutze gemacht, am radikalsten vielleicht Akira Kurosawa in „Rashomon“, wo die Geschichte eines Raubmords aus vier verschiedenen Perspektiven erzählt wird, ohne dass man am Ende wüsste, welche die wahre und richtige ist. Im Kino, das haben die letzten hundertzwanzig Jahre bewiesen, ist nur eines wahr: alles, was wir dafür halten.
François Ozons neuer Film „Frantz“ beginnt mit dem Schwarzweißbild einer Stadtsilhouette. Darunter steht „Quedlinburg, 1919“. Man sieht Marktstände, eine Kapelle spielt „Die Wacht am Rhein“, eine junge Frau, von zwei Kriegsversehrten gierig beäugt, läuft zum Kirchhof. Auf dem Grab, das sie pflegt, liegt ein Strauß weißer Margeriten. Er ist nicht von ihr. „Muss der Fremde gewesen sein“, sagt der Friedhofsdiener. Auf die Frage der Frau, ob er etwas über den Mann wisse, holt er eine Zwei-Francs-Münze aus der Tasche und spuckt verächtlich aus.
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Liebe, grenzenlos
Christian Buß (Spiegel Online)
26. September 2016
In "Frantz" erzählt François Ozon von einer deutsch-französischen Annäherung nach dem Ersten Weltkrieg. Ein filmisches Meisterwerk über die Kunst des Verzeihens - und die Kunst der Lüge.
"Haben Sie keine Angst, uns glücklich zu machen." Das sagt der deutsche Vater, der im Krieg seinen Sohn verloren hat, dem ehemaligen französischen Soldaten, der im Krieg Deutsche getötet hat. Ein ungeheuerlicher Satz im Frühjahr 1919, als im Friedensvertrag von Versailles die Bedingungen für eine Neuordnung Europas ausgehandelt wurden, die von den meisten Deutschen als Demütigung empfunden wurden. Ein Franzose, der einen Deutschen glücklich machen soll? Unvorstellbar.
Und doch erfüllt der junge Franzose dem alten Deutschen und dessen Frau einen Wunsch: Er spielt auf der Geige des toten Sohnes und erweckt ihn damit für einen kurzen Moment in der engen guten Stube des Elternhauses wieder zum Leben. So ein kleiner Raum, so viel Liebe darin.
Doch was der französische Regie-Star François Ozon ("8 Frauen") am Anfang seines Filmes "Frantz" als Bild der deutsch-französischen Annäherungen in Szene setzt, ist mehr als ein erster Salut auf dem langen, langen Weg zur europäischen Einigung. Ozon, der Meister der Doppelcodierungen, Umdeutungen und Travestien, verlässt schon bald die offiziellen Versöhnungsstrang und macht einen Subplot unterschiedlichster, einander ergänzender, überlagernder, widersprechender Erzählungen auf.
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Das Grauen, das uns verbindet: "Frantz" von François Ozon
Peter Zander (Berliner Morgenpost)
29. September 2016
Wider Fremdenfeindlichkeit und Schwarzweißdenken: „Frantz“ ist trotz seines historischen Stoffes ein Film mit sehr aktuellen Themen
Es ist eine Krux, über diesen Film zu sprechen. Wer sich überraschen lassen will, der sollte am besten gar nicht weiterlesen. Dem muss genügen, dass Kultregisseur François Ozon einen neuen Film gedreht hat. Manche Filme aber lassen sich nicht erklären, nicht mal anreißen, wenn man nicht zumindest einen kleinen Fingerzeig gibt. Doch schon wer mit der Fingerkuppe winkt, geht eigentlich zu weit. Es ist wirklich eine Krux.
Beginnen wir ganz klassisch. Mit dem Anfang. Eine junge Witwe ist verwirrt. Eines Tages sieht Anna (Paula Beer, die für diesen Part beim Filmfestival von Venedig als beste Nachwuchsdarstellerin ausgezeichnet wurde) Blumen am Grab ihres gefallenen Verlobten. Am nächsten Tag steht ein junger Mann dort. Am übernächsten auch. Schließlich spricht sie den Fremden an. Und ist noch verwirrter. Es ist ein Franzose. Das ist, so kurz nach dem Ersten Weltkrieg, keine Selbstverständlichkeit. Ein Franzose gilt noch immer als Feind.
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Versöhnen, sagt sie
Christiane Peitz (der Tagesspiegel)
29. September 2016
Ein Melodram vom Ende des Ersten Weltkriegs: François Ozons „Frantz“ findet Trost in der Lüge.
Wie beschaulich, dieses Städtchen. Es ist ruhig in den Gassen, nur manchmal torkeln zu später Stunde aus der Kneipe ein paar grölende Vaterlandsverteidiger aufs Kopfsteinpflaster. Anna (Paula Beer) geht zum Friedhof und wieder zurück zum Haus der Schwiegereltern, sie geht langsam und kerzengerade, die Kamera begleitet ihre aufrechte Gestalt. Regisseur François Ozon sagt, er filmt gerne diese Wege und Gänge, auch die Spaziergänge ins Umland, die seinen Film rhythmisieren. Der Erste Weltkrieg ist vorbei, Annas Verlobter ist in Frankreich gefallen. Vom Krieg ist nichts zu sehen.
Ein trügerisches Idyll. Deutschland wurde nicht zerstört, aber da ist auch der Schmerz von Frantz’ Eltern (Marie Gruber, Ernst Stötzner), sie wissen nicht, wohin mit ihrer Trauer über den verlorenen Sohn, wie so viele damals. Bis Adrien (Pierre Niney) auftaucht, ein scheuer, junger Franzose, der Blumen auf Frantz’ Grab legt, sich erklären will – und bald erzählt, er sei mit Frantz befreundet gewesen. Sie hätten den Louvre besucht und das Geigespielen geprobt, in ihrer Zeit in Paris. Und der Film macht kurze Rückblenden draus.
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In der Vergangenheit hausen
Janis El-Bira (perlentaucher.de)
28. September 2016
Einen deutsch-französischen Totentanz inszeniert François Ozon mit seinem schönen Lubitsch-Remake "Frantz".
Das moderne Grauen hat den Bildern die Farbe genommen, ihnen jenes historische Schwarzweiß angezogen, das einen Großteil der jüngeren Vergangenheit kleidet, seit wir durch Fotografie und Film auf sie zurückblicken. Doch im Wald vor den Toren des Harzstädtchens Quedlinburg wippt im Jahr 1919 noch der matte Gruß aus anderen Zeiten im Wind. Einen einzelnen Zweig in Farbe malt sich François Ozons Film "Frantz" in seine erste Einstellung, bevor im Ort die an Leib und Seele Versehrten die Straßen überqueren. Gliedmaßen fehlen ihnen, die Gesichter sind furchig vernarbt. Im Wirtshaus stimmen sie noch immer trotzig die "Wacht am Rhein" an, als sei nicht schon alles verloren. Auf dem Friedhof besuchen sie leere Gräber mit den Namen junger Männer, deren Leichname fern der Heimat in Massengräbern liegen.
"Man kann einen Raum nicht erzählen, sondern nur zur Anschauung bringen", schreibt der Historiker Karl Schlögel in seinem Buch "Im Raume lesen wir die Zeit": "Ortsbeschreibung muss dem Nebeneinander entsprechen, nicht dem Nacheinander." Ozons neuer Film, ein Remake von Ernst Lubitschs "Broken Lullaby" (1931) und wie jener lose basierend auf einem Drama Maurice Rostands, ist eine Ortsbeschreibung im Modus dieses Nebeneinanders: Deutschland und Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg, mikrokosmisch gestaucht auf die Größe von Quedlinburg und später Paris. Auf dem Papier, das in Versailles unterzeichnet wird, sind das keine Kriegsgegner mehr, in den Köpfen aber noch immer Erbfeinde. Und auch hier ist es vor allem die aufdringliche Anwesenheit der Toten, die das sortierte Nacheinander historisch-politischer Meistererzählungen aufbricht und den Lebenden keine Ruhe, kein Ankommen in der neuen Zeit gönnt.
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Rätsel um Farbsequenzen in einem Schwarz-Weiß-Film
Video-Kritik von Susan Vahabzadeh (SZ)
30. September 2016
Regisseur François Ozon erzählt das deutsch-französische Verhältnis nach dem Ersten Weltkrieg an einem zauberhaften Paar. Ganz nebenbei kommt Quedlinburg zu filmischem Ruhm.
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Pour citer cette ressource :
29. September 2016 - "Frantz" von François Ozon, La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), septembre 2016. Consulté le 26/12/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/revue-de-presse/archives-revue-de-presse-2016/29-september-2016-frantz-von-francois-ozon