14. Oktober 2016 - Wie die deutschen Krankenkassen schummeln
Dyrk Scherff (FAZ)
09. Oktober 2016
Der Chef der größten gesetzlichen Krankenversicherung gibt zu: Kassen und Ärzte machen Patienten auf dem Papier kränker, als sie sind. Ein Interview mit Jens Baas.
Die private Krankenversicherung erhöht die Beiträge um satte zehn Prozent. Droht das bei den gesetzlichen Kassen auch?
Eigentlich müssten auch bei den Kassen die Beiträge im nächsten Jahr, 2018 und 2019 steigen, von heute 15,7 Prozent um jeweils etwa 0,1 bis 0,2 Prozentpunkte. Denn überall wachsen die Ausgaben: bei den Honoraren der Ärzte, in den Krankenhäusern, bei den Medikamenten – übrigens auch durch teure Gesetze. Doch weil Wahljahr ist, wird die Regierung versuchen, zumindest 2017 die Beiträge stabil zu halten. Und sie weiß auch schon, wie: Sie will den Kassen aus den Reserven des Gesundheitsfonds 1,5 Milliarden Euro überweisen. Begründet wird das mit den Kosten für die Behandlung von Flüchtlingen.
So viel kostet die?
Nein. Die Flüchtlinge sind ein vorgeschobener Grund. Das ist unverantwortlich, weil es unnötig Ressentiments gegenüber den Migranten schürt. Wir Kassen haben noch fast keine Zusatzkosten, weil die meisten Flüchtlinge noch im Asylverfahren stecken. Dann tragen die Kommunen die Aufwendungen. Danach werden die Ausgaben vielleicht erst einmal steigen, auch wegen möglicher Gesundheitsprobleme durch die monatelange Flucht. Aber vermutlich nicht in immense Höhen.
Es gibt in der Politik Forderungen, den Zusatzbeitrag nicht nur von den Bürgern, sondern auch von den Arbeitgebern finanzieren zu lassen. Fänden Sie das gut?
Es ist unrealistisch, dass alle Kostensteigerungen der Zukunft immer nur der Versicherte zahlt. Das wird man in der nächsten Legislaturperiode sicher genauer anschauen. Aber man muss auch sehen, dass der Arbeitnehmer den größeren Anteil trägt, weil der Arbeitgeber im Krankheitsfall den Lohn weiter zahlt.
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"Krankenkassen verpulvern Geld für Drückerkolonnen"
Britta Beeger (FAZ)
12. Oktober 2016
Je kränker ein Patient auf dem Papier, desto mehr Geld erhält die Krankenkasse. Die gesetzlichen Kassen sollen deshalb Diagnosen manipuliert haben. Einige bestreiten diese Vorwürfe.
In der gesetzlichen Krankenversicherung galt lange Zeit ein klares Kalkül: Als attraktiv galten besonders die jungen und gesunden Versicherten, denn diese verursachen die geringsten Kosten. Doch seit einiger Zeit scheint dieses Prinzip ausgehebelt. Da können die Versicherten gar nicht krank genug sein, zumindest auf dem Papier. Woran das liegt? Natürlich am Geld.
Besonders unverblümt hat das gerade Jens Baas zugegeben, der Chef der Techniker Krankenkasse. Im Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung bezichtigte er seine eigene und andere gesetzliche Krankenkassen, aus diesem Grund sogar Diagnosen von Patienten zu manipulieren. Die Kassen versuchten die Ärzte dazu zu bringen, für die Patienten möglichst viele Diagnosen zu dokumentieren, sagte Baas. „Aus einem leichten Bluthochdruck wird ein schwerer. Aus einer depressiven Stimmung eine echte Depression, das bringt 1000 Euro mehr im Jahr pro Fall.“
Für ältere und chronisch kranke Patienten gibt es mehr Geld
Um das zu verstehen, muss man sich mit dem Risikostrukturausgleich des Gesundheitsfonds auseinandersetzen. Seit 2009 führen die Krankenkassen ihre gesamten Beitragseinnahmen an diesen Fonds ab, insgesamt rund 200 Milliarden Euro. Dieses Geld wird dann umverteilt: Welche Kasse wie viel bekommt, hängt davon ab, wie hoch die Kosten sind, die ihre Versicherten verursachen. Für Ältere gibt es mehr als für Jüngere, auch chronisch Kranke und Bezieher von Erwerbsminderungsrenten werden besonders bedacht.
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Wettbewerb mit falschen Kranken
Bastian Brauns (Zeit Online)
11. Oktober 2016
Es ist ein System, an dem Ärzte wie Krankenkassen verdienen: Je schlimmer die Diagnose ausfällt, desto lukrativer ist es. So werden wir kränker gerechnet als wir sind.
Der Geschäftsführer der Techniker Krankenkasse Jens Baas wirft den gesetzlichen Krankenkassen und damit auch seinem eigenen Unternehmen vor, ihre Mitglieder planmäßig kränker einstufen zu lassen, als sie eigentlich sind. Das geschehe mithilfe von Ärzten, die ihre Patienten eingruppieren und ebenfalls an der Schwere der Krankheiten mitverdienen. Grund für diese illegalen Praktiken sei ein skandalöser Wettbewerb um Ausgleichszahlungen aus dem Gesundheitsfonds zwischen den gesetzlichen Kassen. Das System müsse unbedingt "manipulationsresistent" gemacht werden, sagte Baas in einem Interview der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Was ist dran an dem angeblichen Skandal?
Insgesamt geht es bei dem Streit um die Verteilung von satten 250 Milliarden Euro, dem Geld aller gesetzlich Krankenversicherten in Deutschland. Gerade für das Gesundheitssystem, das ständig von extremen Ausgabensteigerungen betroffen ist, sind die Betrugsvorwürfe besonders heikel. Schließlich könnte durch illegales Verhalten von Krankenkassen und Ärzten eine Kostenspirale entstanden sein, die alle Versicherten mit höheren Beiträgen bezahlen müssen.
Die drängendsten Fragen im Überblick:
1. Fordern Krankenkassen nicht eigentlich geringere Gesundheitskosten?
Müssen Krankenkassen für immer häufigere und teurere Behandlungen ihrer erkrankten Mitglieder zahlen, stellt sie das vor wirtschaftliche Probleme. Je mehr kranke, alte oder bedürftige Mitglieder sie haben, desto schwieriger lassen sich die Ausgaben durch die Einnahmen der Krankenkassenbeiträge decken. Deshalb liegt es im natürlichen Interesse der Krankenkassen (übrigens auch der privaten Krankenversicherungen), die Kosten so niedrig wie möglich zu halten.
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Erste Anzeige gegen Krankenkassen
Kim Björn Becker (SZ)
11. Oktober 2016
- Nach den vom Chef der Techniker Krankenkasse erhobenen Manipulationsvorwürfen ist nun eine erste Strafanzeige gegen die größte deutsche Kasse eingegangen.
- Die Staatsanwaltschaft in Hamburg prüft die Vorwürfe nun und könnte gegebenenfalls ein Verfahren einleiten.
- Derweil bestreiten Ärztevereinigungen, sich systematisch und gezielt an den Mauscheleien beteiligt zu haben, mit den Patienten systematisch kränker diagnostiziert worden sein sollen als nötig.
Nach dem öffentlichen Eingeständnis des Chefs der Techniker Krankenkasse (TK), dass seine und auch andere gesetzliche Kassen sich angeblich systematisch mittels Manipulationen aus dem Gesundheitsfonds bereichert haben, beschäftigen sich bereits die Ermittlungsbehörden mit dem Fall. Am Montag hatte die Deutsche Stiftung Patientenschutz bekannt gegeben, dass sie Strafanzeige gegen die größte deutsche Krankenkasse sowie gegen weitere Kassen erstattet habe. Eine Sprecherin der Hamburger Staatsanwaltschaft bestätigte am Dienstag, dass eine entsprechende Anzeige eingegangen ist.
Die Ermittler kündigten an, diese zu prüfen. Der Chef der TK, Jens Baas, hatte am Wochenende in einem Zeitungsinterview von Manipulationen gesprochen. Mehrere Kassen, darunter auch seine eigene, würden Ärzte mittels Honorarverträgen dazu bringen, dass sie Versicherte auf dem Papier im Zweifelsfall eher kränker als gesünder aussehen lassen. Dann erhalte die Kasse höhere Zuwendungen aus dem Gesundheitsfonds, der alle Beiträge der gesetzlich Versicherten nach einem komplizierten Muster verteilt. In diesem Zusammenhang hatte der Kassen-Chef mehrere "Ärztevereinigungen" bezichtigt, sich durch den Abschluss von Verträgen an den Manipulationen zu beteiligen. Dabei geht es offenbar um sogenannte Betreuungsstrukturverträge, die jeweils zwischen der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) einer Region und einer oder mehreren Krankenkassen geschlossen werden.
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Wie krank ist Deutschland wirklich?
Britta Beeger (FAZ)
14. Oktober 2016
Glaubt man den jährlichen Studien der großen gesetzlichen Krankenkassen, ist es um den Gesundheitszustand der Deutschen schlecht bestellt: Das Volk hat nicht nur Rücken, sondern fühlt sich auch gestresst und leidet zunehmend unter psychischen Krankheiten wie Depressionen. Die Frage ist nur: Kann man solchen Aussagen überhaupt noch trauen?
Anlass zum Zweifeln liefert ausgerechnet der Chef der Techniker Krankenkasse Jens Baas, der größten gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland. Baas bezichtigte kürzlich in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung seine eigene und andere gesetzliche Krankenkassen, Patienten auf dem Papier kränker zu machen, als sie sind. Denn so bekommen sie mehr Geld aus dem mit 200 Milliarden Euro jährlich gefüllten Gesundheitsfonds. „Aus einem leichten Bluthochdruck wird ein schwerer. Aus einer depressiven Stimmung eine echte Depression, das bringt 1000 Euro mehr im Jahr pro Fall“, sagte Baas.
Krank auf dem Papier ist nicht gleich krank in der Realität
Es ist nicht das erste Mal, dass man sich verwundert die Augen reibt. Hält sich denn keiner mehr an die Regeln? Erst in der vergangenen Woche haben Flugbegleiter und Piloten mit mehr als 500 Krankmeldungen die Fluggesellschaft TUI fly am Boden gehalten. Der Verdacht liegt nahe, dass sie sich absprachen, um Druck auf ihren Arbeitgeber auszuüben. Schließlich wurden gleichzeitig Pläne bekannt, TUI fly in eine Ferienflugholding mit der Air-Berlin-Tochtergesellschaft Niki einzubringen.
Pour citer cette ressource :
14. Oktober 2016 - Wie die deutschen Krankenkassen schummeln, La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), octobre 2016. Consulté le 21/11/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/revue-de-presse/archives-revue-de-presse-2016/14-oktober-2016-wie-die-deutschen-krankenkassen-schummeln