„Sie sind, wie Sie wissen, in die herrschaftlichen Dienste aufgenommen“ - Von der Aufgabe des Lesers
Lire : dans le carnet de route de l’écrivain, on ne s’étonne pas de trouver des aveux de ce genre : « Toujours cette angoisse au moment d’écrire... », et quand Lomazzo nous parle de l’effroi qui saisissait Léonard, chaque fois qu’il voulait peindre, cela, aussi, nous le comprenons, nous pressentons que nous pourrions le comprendre.
Mais un homme qui nous confierait: « Toujours anxieux au moment de lire » [...]Maurice Blanchot, L’espace littéraire
Die Romantik liebäugelte – neben der Universalpoesie – mit einem alles enthaltenden, absoluten Buch. Schwer zugänglich zwar liegt tief im Inneren, im Dunkel des Berges für Novalis’ angehenden Dichter Heinrich von Ofterdingen das ihn betreffende und allwissende Buch bereit, ein Lebensbuch, in dem dieses mit all seinen Geheimnissen verwahrt ist. Buchinnern, dem er hier im Berginnern als staunender und noch nicht ganz herangereifter Leser seiner selbst gegenübertritt. Ein Buch, in dem nicht nur die Vergangenheit und die Gegenwart, sondern auch die Zukunft – wenngleich ohne Schluss – schon geschrieben steht, in einer fernen, noch unleserlichen Sprache, ergänzt um vielsagende Bilder. Aber Heinrich ist zum Erlernen dieser Sprache, die nicht nur eine vergangene, sondern auch eine zukünftige ist, zum Erlernen der Dichtersprache berufen. Auf die Erwartung, so der von Novalis für die erste Buchhälfte seines Romans Heinrich von Ofterdingen (1802) vorgesehene Titel, sollte die Erfüllung, die zweite, unvollständig gebliebene Hälfte, folgen.
Das alt-neue Bergbuch, das die Geschichte eines Dichters wiederholend erzählt und dessen Ursprungsort Novalis nach Jerusalem verlegt, liegt bereit, verborgen, tief im Inneren, schreibt mit, schreibt das Leben mit, schreibt vor, hat schon geschrieben, dabei geduldig auf seinen heranreifenden Leser wartend. Auf seinen Leser, seinen mündigen Leser, das heißt hier auch: den zum Dichter gewordenen. Goethes angehendem Meister Wilhelm wird seinerseits, nach erfolgreich absolvierten Lehrjahren, ein Lehrbrief überreicht, der alle Irrwege und Zweifel aufzeichnete, die – dort festgehalten – nachlesbar geworden sind und seine Lehrjahre beendigen. Der Lehrbrief wird dem damit Erwachsenen feierlich überreicht. Die Bibliothek der Turmgesellschaft besteht aus Büchern, die die Lehrjahre eines jeden enthalten. Mit Übergabe des Lehrbriefes scheint Wilhelm gar erlöst, freigesprochen zu werden: „Die Natur hat dich losgesprochen.“ (Goethe,1974, 520).
Das Lesen seiner Lehrjahre wird für Wilhelm zu einer Begegnung mit sich selbst:
[…] und wenn er gleich das Pergament mit einiger Hast aufrollte, so ward er doch immer ruhiger, je weiter er las. Er fand die umständliche Geschichte seines Lebens in großen, scharfen Zügen geschildert; weder einzelne Begebenheiten noch beschränkte Empfindungen verwirrten seinen Blick, allgemeine liebevolle Betrachtungen gaben ihm Fingerzeige, ohne ihn zu beschämen, und er sah zum erstenmal sein Bild außer sich, zwar nicht wie im Spiegel ein zweites Selbst, sondern wie im Porträt ein anderes Selbst [...] (Goethe, 1974, 528).
Der Leser dieser Texte, selbst Novalis und Goethe in den Händen haltend, und – wie die Meister- und Dichterhelden – dadurch dazu berufen, ein Leser zu werden, kann von fern, durch das sich verlängernde Echo dieses bildenden Leseaktes, den er seinerseits neu vollziehen muss, auch selbst diese Berufung hören, diese große Aufgabe, durch das Lesen, Lesenlernen, zu Bildung, Dichtkunst, Meisterschaft und Erfüllung zu gelangen.
Im 20. Jahrhundert scheint die Möglichkeit, es mit solch erlösend-verwandelnden Texten aufzunehmen, zu ihren Lesern und Dichtern zu werden, sich durch sie zu erkennen, ihre Sprache zu erlernen nicht mehr so leicht von statten zu gehen, Rilke stellt zu Beginn des Jahrhunderts fest, „dass wir nicht sehr verlässlich zu Haus sind in der gedeuteten Welt“ (1987, I, 685). Die Erinnerung an so ein mündig machendes, freisprechendes Lesen, zieht sich als unmögliches Erbe oder verlockende Hoffnung – als Frage – durch das 20. Jahrhundert, in dem die Bibliothek, seit Borges, nun nicht mehr nur der Ort ist, an dem alles gefunden, sondern an dem auch alles, und das besser als anderswo, verloren werden kann. Hesses Morgenlandfahrern (1932) etwa scheinen mit dem verlorenen „Urbrief“ auch die Reise und die Möglichkeit des Erzählens verloren zu gehen, die Reise scheint nun (vorerst...) in umgekehrter Richtung von sich zu gehen: von der Erfüllung zur Erwartung, von der Poesie zum Verstummen. Dem ehemaligen Morgenlandfahrer und in Verlegenheit geratenen Erzähler stehen gar alle Archive offen, doch der Bundesbrief ist unleserlich, unverständlich geworden und die Reise lässt sich nicht mehr schreiben, nicht mehr erleben, seine Geschichte ist eine „unerzählbare Geschichte“ (Hesse, 1982, 46). Das Durchstehen dieser Sprachnot, die auch Lebensnot ist, die Erfahrung der Abwesenheit der geistigen Fahrtbewegung ist zugleich jedoch auch der Schlüssel für den Erzähler, die verlorene Reise wieder aufzunehmen und nun vollends in ihr aufzugehen. Aufgehen, das in der Sprachlosigkeit des Buchendes geschieht. In Bin oder die Reise nach Peking (1944) schickt Max Frisch seinen (an Bin...) schreiben wollenden Helden aus dem vielsagenden „Weggiswil“, nun auf der Flucht vor der eigenen Identität, mit einer nahezu unverständlichen und lästigen Rolle auf die Reise – Reminiszenz, könnte man meinen, an den Goetheschen Lehrbrief. Diese Rolle enthält Hausentwürfe, soviel zumindest wissen wir. Rapunzel, die Frau des Erzählers, lässt auf eine Herkunft aus dem Rapunzelturm schließen (Goethes Turm war Sinnbild der geistigen Erhebung, bei Frisch scheint es eher um märchenhafte Verblendung, Elfenbeinturm und Gefangenschaft zu gehen). Wir treffen hier also eine geheimnisvolle Rolle an, von der man nun nicht mehr weiß, wozu sie taugt: gilt es, mehr Angst vor dem Besitz oder vor dem Verlust, dem Lesen oder dem Vergessen dieser doch irgendwie nach Identität, Herkunft und Geschichte riechenden Rolle zu haben? Diese ins Stocken geratenen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, nun länger, mühsamer auf dem Weg zum Schlüssigen, kommen, in Ermangelung der Fähigkeit aufklärende Lehrbriefe verabreichen oder zu sich nehmen zu können, auf die Frage nach dem Leser zurück und stellen diese große, geerbte Frage neu: Was heißt lesen?
I. „Da zeigte es sich gleich, dass ich es nicht konnte“
Rainer Maria Rilke lässt in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910) seinen angehenden Dichter Malte über die Kindheit und die Erinnerung an das Lesen sprechen: „damals in jenen Ferien auf Ulsgaard, als ich so plötzlich ins Lesen geriet.“ Weiter heißt es: „Da zeigte es sich gleich, dass ich es nicht konnte.“ (1987, VI, 892). Nicht lesen können? Malte, der sich als angehender Schriftsteller – wie Rilke – auf den schweren Weg zur Sprache machen soll, spricht über seine Leseerfahrungen als Erfahrungen einer Unfähigkeit, Unzulänglichkeit, einer Überforderung. Das Lesen erscheint dem Kind auf dem Weg ins Erwachsenenalter als eine Aufgabe, die zu groß ist, lebensgroß, überlebensgroß, unzeitgemäß, nicht mit der Zeit zu vereinbaren, nicht zu bewältigen. Auch die Unmöglichkeit zum Leser des absoluten Buchs, zum Leser aller Bücher zu werden, klingt an:
Was ich später so oft empfunden habe, das ahnte ich damals irgendwie voraus: dass man nicht das Recht hatte, ein Buch aufzuschlagen, wenn man sich nicht verpflichtete, alle zu lesen. Mit jeder Zeile brach man die Welt an. Vor den Büchern war sie heil und vielleicht wieder ganz dahinter. Wie aber sollte ich, der nicht lesen konnte, es mit allen aufnehmen? Da standen sie, selbst in diesem bescheidenen Bücherzimmer, in so aussichtsloser Überzahl und hielten zusammen. Ich stürzte mich trotzig und verzweifelt von Buch zu Buch und schlug mich durch die Seiten durch wie einer, der etwas Unverhältnismäßiges zu leisten hat. (1987, VI, 893).
Das Lesen wird in Rilkes Aufzeichnungen zu einer Art Krankheit („Lesefieber“), die den Leser in diese merkwürdige, unsichere Situation versetzt, in der er zugleich Absonderung von der Welt („Leseschlaf“), Versäumnis der Welt erlebt („und ich konnte nicht begreifen, wie man es über sich brachte, soviel Welt zu versäumen“) und Anbruch, Aufbruch der Welt („mit jeder Zeile brach man die Welt an“). Fortgang und Hingang. Kampf. Widerstand. Möglichkeit der Niederlage. Das Lesen birgt die Gefahr einer Öffnung, etwas wird geöffnet und lässt sich möglicherweise nicht wieder schließen, man wird damit nicht fertig, man kann es nicht wieder abschließen. Lesen heißt: offen bleiben. So offen wie bei einer in einer anderen Szene geschilderten Krankheit. Lesen ist die Erfahrung einer Umstellung: „doch seine Züge, die geordnet waren, blieben für immer umgestellt“, heißt es in Rilkes Gedicht "Der Leser" (1987, I, 637).
Und dennoch: die Eintrittskarte zur Bibliothek, die der nahezu obdachlose Ausländer Malte nun in Paris in den Händen hält, rettet ihn immerhin davor zu den „Fortgeworfenen“ zu gehören. Malte, dieser „junge, belanglose Ausländer“, der sich nun hinsetzen muss, schreiben muss, obwohl er „durchaus nicht der Geeignetste“ ist, aber „es ist eben kein anderer da“ (1987, VI, 728), setzt sich in dieser seiner dürftigen Zeit mit seiner (Lese-)Vergangenheit auseinander. Rilke versetzt uns in eine Zeit, in der nicht nur die wenigsten „einen Dichter haben“, sondern in der auch die Möglichkeit zu erzählen – Möglichkeit des neu gesprochenen, verlebendigten Wortes – in der Vergangenheit zu liegen scheint. Abelone, die jüngere Schwester von Maltes Mutter, die nicht erzählen konnte, erzählt Malte von dem alten Grafen Brahe, der das Erzählen noch gekonnt haben soll, und der, vor Wut schreiend, der Nachwelt eine donnernde, schwere Erbschaft hinterließ. Die Erzählung, heißt es, sei nicht in den Büchern enthalten, sondern „im Blut“: „Die Bücher sind leer.“ (1987, VI, 848).
„Er war wie einer, der eine herrliche Sprache hört und fiebernd sich vornimmt, in ihr zu dichten. Noch stand ihm die Bestürzung bevor, zu erfahren, wie schwer diese Sprache sei“ (VI, 943). Maltes Aufzeichnungen sind die Versuche eines Lernenden, eines Anfängers, eines Ausländers, sind der Versuch, zur Sprache zu kommen, ein Versuch, der das Nachdenken über die Sprachlosigkeit in einen Ausgangspunkt verwandelt, so dass das „noch nicht“ – die letzten Worte der Aufzeichnungen – nicht mehr bloß Zeugnis der Unzulänglichkeit, des Unvermögens, des Unerreichten, des Scheiterns, der Abwesenheit der Liebe Gottes ist, sondern im Stillen, im Anklingen der großen, neu aufgezeigten Sprachnot schon als Versprechen, als Hoffnung gelten kann für ein mögliches, und göttliches, Zukünftiges. Als Öffnung.
Bei Novalis ist das Gespräch die Seele der Welt und es ist die Liebe, die die „blöden Lippen“ (1975, 149) des Dichters aufzuschließen vermag und die Heinrich in Mathilde findet. Auch Rilke lässt lesen lernen und lieben lernen zusammenfallen. In den Leseszenen mit Abelone taucht ein junger Malte auf, der noch nichts von Lieben und Lesen versteht, dem aber, beim gemeinsamen Lesen von „Bettinens Briefen“, so ist, „als würde [ihm] feierlich versprochen, dieses alles einmal einzusehen“ (Rilke, VI, 896). Nachdem Malte aufgrund seines schlechten Lesens von Abelone unterbrochen wurde, liest sie ihm die Briefe vor, mit der nun fast zum Gesang werdenden Stimme der Versöhnung. Zweigeteilt wie Novalis’ Werk sind auch die Aufzeichnungen, in deren Mitte Rilke eine doppelte Begegnung, Begegnungsmöglichkeit verortet: Maltes Besuch im Musée de Cluny und das Entdecken der Teppiche der Dame à la licorne (insbesondere: der Teppich des Sehens mit der Spiegelszene) sowie die Begegnung zwischen dem berichtenden Dichterlehrling Malte und der fernen Briefeleserin und Adressatin Abelone, Begegnung, die hier auch auf die allgemeinere Ebene einer Ich-Du-Ansprache gehoben ist. Malte schildert sein Initiationserlebnis, in dem es um ein mögliches Erkennen – durch den Anderen sehen lernen – und um ein Verständnis von Ich und Du, Verständnis auch von Sprecher und Leser geht: „Abelone, ich bilde mir ein, du bist da. Begreifst du, Abelone? Ich denke, du musst begreifen.“ (VI, 829).
II. „Sie sind, wie Sie wissen, in die herrschaftlichen Dienste aufgenommen“
In einer der wenigen von Kafka geschilderten Liebesszenen wird dieser Augenblick nicht zu einem Aufschließen der „blöden Lippen“, des Findens der Poesie, nicht zu einer versöhnenden Begegnung mit dem Anderen. Inmitten der Zweisamkeit macht sich im Gegenteil das Gefühl auswegloser Verirrung und Angst vor dem Ersticken breit:
Dort vergingen Stunden, Stunden gemeinsamen Atmens, gemeinsamen Herzschlags, Stunden, in denen K. immerfort das Gefühl hatte, er verirre sich oder er sei soweit in der Fremde, wie vor ihm noch kein Mensch, eine Fremde, in der selbst die Luft keinen Bestandteil der Heimatluft habe, in der man vor Fremdheit ersticken müsse und in deren unsinnigen Verlockungen man doch nichts tun könne als weiter gehen, weiter sich verirren. (Kafka, 1993, 53).
Folgt man der Interpretation Marthe Roberts, dann begegnet uns in Kafkas Landvermesser K. auch ein „Arpenteur des livres“ (1967, 200), arpenteur de l’espace littéraire, schreibt Maurice Blanchot weiter, ein Büchervermesser, ein Leselandvermesser, also ein Leser. Ein Leser im Kampf mit den verblassenden, entrückten Bedeutungen, Bedeutungsresten dieser großen europäischen Bücherwelt, ein Leser, der unaufhörlich Lektüre um Lektüre anlegt, ohne sich dabei einen Zugang zur Welt – zum Schloss, zum Schlüssigen – erschließen zu können. Wer sind eigentlich diese „alten Gehilfen“? Sind sie alt? Das heißt bekannt? Heißt das bekannt? Mit welchen Werkzeugen arbeitet denn dieser Landvermesser, der wie ein abgebrannter Landstreicher auftritt? Der namenlose K.: das ist ein Leser, der sich in dieser nun ganz weiß und damit ganz deutungsunsicher gewordenen Landschaft mühselig vorarbeiten will.
Auch wenn Kafkas Werk um die Suche nach dem Bedeutungszugang kreist, um die Frage nach der Lesbarkeit der Welt, zeichnen sich seine Figuren gerade dadurch aus, dass sie höchst selten ausdrücklich Bücher oder Schriftstücke lesen. Der junge Verschollene Karl ist bei seiner Abschiebung in die „neue Welt“ nur mit einer Taschenbibel und einem Familienfoto ausgestattet, Foto, auf dem sein Vater bezeichnenderweise ein aufgeschlagenes Buch unter seiner zur Faust geballten Hand unter Verschluss hält. Die alte und die neue Welt, das Buch und der Vater: geht es in dieser Geste um die Frage nach der Autorität, der Deutungsmacht? Um eine Unterdrückung und Unerreichbarkeit der Schrift, ihren Verlust? Um eine sprachlose Abreise, Abreise ins Sprachlose? Gegen Ende des Romans treffen wir einen Leser an. Es ist ein Student, den Kafka nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich an den Rand drängt: seine nächtlichen Studierstunden finden auf dem Balkon eines Hauses statt, das so hoch ist, dass der Blick nach unten auf die Straße, auf der immerhin Wahlen stattfinden, Richter gewählt werden, nicht mehr möglich ist. Bei diesem seltenen Anblick erinnert sich Karl daran, dass er „schon so lange kein Buch mehr gelesen“ hatte. „Ich wollte auch studieren“ (1956, 219), gibt dieser junge Verschollene bei zunehmendem Verblassen der Erinnerungen an Heimat, Herkunft und den alten Kontinent zu Protokoll, Verschollener, dem außer der Lektüre eines Lehrbuchs der englischen Handelskorrespondenz kein weiteres Leseerlebnis erhalten geblieben ist, aber den Kafka, nicht wie später ins umrisslose, unterschiedslose Weiß, zunächst ins alles aufnehmende, überbedeutungsvolle Schwarz schicken wird: als Negro verliert sich Karl auf dem Weg ins Naturtheater, das jeden willkommen heißt.
„Jeder ist willkommen“ (1956, 223). Das hatte Karl auf einem Plakat gelesen. Lesevorgang, den Kafka näher betrachtet. Der Lesevorgang ist Deutungsvorgang und fragt nach dem Betroffensein, nach dem Geltungsbereich, nach dem Einbezogensein, nach dem Angesprochenwerden, dem Dazugehören, der Aufnahme: „Jeder ist willkommen“. Wie ist das zu lesen? „Jeder, also auch Karl.“ (1956, 223). Jeder: also auch Karl? Jeder: also auch Karl! Das ist Kafkas große Frage nach der Aufnahme des Lesers. Wird er aufgenommen? Wohin wird er aufgenommen? Was heißt aufgenommen werden? Heißt lesen aufgenommen werden? Heißt lesen gerettet werden? Was heißt lesen?
Um die Frage nach der Aufnahme geht es im Schloss auch für K., dem man in dieser Welt, in der er nicht so recht Fuß fassen kann, in der er auf eine Berufung, eine Anstellung wartet, einen Brief überreicht. Fern ist wieder der aufklärende Lehrbrief, unerreichbar die Schlossgesellschaft: K. macht sich ans Lesen. Das Lesen bereitet Schwierigkeiten. Wie ist der Brief zu verstehen? Die Erfahrung des Lesens wird zu einem Erkennen von Widersprüchen und Uneindeutigkeit, denn es stellt sich heraus, dass der Brief „nicht einheitlich“ (Kafka, 1993, 31) geschrieben ist.
Lesen, das ist hier ein Vorgang, der womöglich über Freiheit oder Verschwinden entscheidet: „es gab Stellen, wo mit ihm wie mit einem Freien gesprochen wurde, dessen eigenen Willen man anerkennt […]. Es gab aber wieder Stellen, wo er offen oder versteckt als ein kleiner vom Sitz jenes Vorstandes kaum bemerkbarer Arbeiter behandelt wurde“. (1993, 31). Über Herrschaft und Dienerschaft: „herrschaftliche Dienste“. Dem Leser wird diese übergroße Aufgabe des Verstehens aufgebürdet: „es war ihm überlassen, was er aus den Anordnungen des Briefes machen wollte“. (1993, 32).
„Sie sind, wie Sie wissen, in die herrschaftlichen Dienste aufgenommen.“ (1993, 30). Die Möglichkeit der Freiheit und der Unfreiheit ansprechend wird die Deutung dem Leser überlassen: „wie Sie wissen“. Aber was weiß er denn? Wie, woher kann er denn wissen? Und wenn er eigentlich gar nichts weiß? Hat denn die Schrift gar keine Autorität? Kann man denn tatsächlich damit machen, was man will? Wie soll Lesen und Leben hier zusammenpassen? Welche Auswirkung hat das Lesen, die Deutung, auf das Leben? Gibt es denn durch den Brief im Leben die Möglichkeit einer Aufnahme? Spricht die Schrift wirklich vom Leben? Kann sie – richtig gelesen – das Leben lebhaft werden lassen, einen Platz in der Welt verschaffen? Kann sie richtig gelesen werden?
K.s Schlossreise lässt ihn immer und immer wieder um diesen undurchdringlichen Punkt der Deutung kreisen. So kommt auch der letzte Satz, den der Leser vor Augen hat und ihn damit selbst das Steckenbleiben in der Sprache wie in Schnee spüren lässt, auf die Frage zurück, ob Sprache hinüberreicht, Brücke, Weg ist. Der letzte Satz, der das unvollendet gebliebene Werk in meisterhafter Weise ab- oder aufschließt (wie Sie wissen), kommt auf die Frage nach der Sprache zurück, auf die Frage nach ihrem Leiten, ihrem Geleiten, der Möglichkeit des Hinüberreichens zum Anderen, dem Leser. Frage, die er stellt, indem er das Verb sagen wie in der Schwebe zeigt zwischen einer transitiven und intransitiven Verwendung. In dem dunklen, nur vom Feuer erleuchteten und erwärmten Zimmer lauscht K. – und der Leser – dem Sprechen einer alten Frau: „[…], aber was sie sagte “. (1993, 394). Dieser Satz, der zugleich auf das Vorhandensein des Sagens hinweist (dass sie sagte), aber über Gehalt und Richtung des Sagens im Unklaren lässt (was sie sagte, wem sie sagte), der dieses Sagen durch das erste Wort („aber“) schon als Schwierigkeit, als Hürde laut werden lässt, vor der wir nach diesen vier Worten wieder stehen, dieser Satz trägt diese Frage auch in die Begegnung Buch-Leser hinein. Leser, der wie K. nun dem Weiß ins Auge sehen muss. Der Satz lässt diese Frage nach der Sprachmacht zudem auch zu einer Frage werden, die sich an der Grenze, am Übergang, an der Begegnung, am Zusammenhang zwischen Schriftsprache und gesprochener Sprache stellt. Denn uns gegenüber steht geschrieben das Wort sagen.
III. „Hatte ich zu Gambetti gesagt“
Thomas Bernhards mehrere hundert Seiten lange Auslöschung (1986) wählt als Standpunkt für ein Erzählen, das sich zugleich nach Abrechnung mit der Vergangenheit bis hin zur Auslöschung und nach Weitergabe an den italienisch-fremdländischen (Lehrer-)Schüler Gambetti sehnt, eben diese Haltung der ständigen doppelten Ansprache: schriftlich einerseits (die Arbeit an der Auslöschung), mündlich andererseits (das Sprechen mit Gambetti). Immer und immer wieder lesen wir: „hatte ich zu Gambetti gesagt“. Während das Schreiben auf Auslöschung zielt, eine Art des Loswerdens zu sein scheint, kann der sprachliche Austausch mit Gambetti (oft: das Sprechen über Literatur, Sprache und Gesellschaft) als Suche nach Erkenntnis und Verständnis gelten. Auch in einem gefilmten Interview spricht Bernhard über diesen Gegensatz von gesprochenem und geschriebenem Wort:
[...] aber eher zum gesprochenen, denn das lebt. Das Wort, das am Papier steht ist ja auch längst tot, das ist im Grunde auch nichts wert. Aber nur das können sie meistens verkaufen, weil die Welt betrogen sein will, nicht? Ein Papier ist meistens nur Betrug, während ein lebendes Wort, mit der ganzen Vibration, nicht, […] das ist das Wertvolle, Unwiederbringliche, Unbezahlbare natürlich. (ORF, 1994).
Dieser immer und immer wieder angesprochene Fremde mit dem klangvollen Namen bleibt zugleich auch der Abwesende und Vermisste: es sind die Erinnerungen an die Begegnungen mit ihm, die erwähnt werden, die möglichen Fortsetzungen des Austauschs. Das Buch wendet sich diesem geliebten, zum Freund gewordenen Fremden zu, es zählt auf seine ferne Anwesenheit, sein Hören, um zu erzählen, es braucht ihn zum Erzählen: nicht zum schreibenden, loswerdenden Erzählen, sondern zur lebendigen Ansprache, zum Austausch. Können wir in dieser Figur nicht auch eine andere, neue Identifikationsfigur für den Leser sehen, dem vielleicht nicht nur die Aufgabe obliegt, sich diese schriftlichen Zeugnisse zu Gemüte zu führen und in die Bibliothek zu stellen, sondern für den auch die Hoffnung bestehen soll, dass er zu einem Gambetti wird?
Das Verhältnis von Erzähler und Zuhörer, Lehrer und Schüler, Muttersprachler und Fremdsprachenlerner erreicht bei Bernhard sogar einen bemerkenswerten „Idealzustand“, in dem alle Bedrückungen einem harmonischen Geben und Nehmen, Lernen und Lehren Platz machen, dessen Gesetze letztendlich wohl im Dunkeln bleiben müssen:
Ich lerne von Gambetti wenigstens ebenso viel, wie Gambetti von mir. Unser Verhältnis ist das ideale, denn einmal bin ich der Lehrer Gambettis und er ist mein Schüler, dann wieder ist Gambetti mein Lehrer und ich bin sein Schüler, und sehr oft ist es der Fall, daß wir beide nicht wissen, ist jetzt Gambetti der Schüler und bin ich der Lehrer oder umgekehrt. Dann ist unser Idealzustand eingetreten. (1986, 10).
Dieser Fremde, der zur gesprochenen Weitergabe des Wortes beiträgt und dieses überhaupt erst in seinem Gegenüber weckt, kann uns schließlich auch an Novalis erinnern. Denn Heinrichs Dichterlaufbahn, die auf ein wiederzuerlangendes Ge-spräch zielt, wird in den ersten Zeilen des Buches durch abendliche Erzählungen angestoßen: durch die Erzählungen… eines Fremden.
Überlassen wir das (stille) Schluss-Wort Anselm Kiefer, dessen Werk ganz vom Rätsel des Buches durchdrungen ist und der die Frage nach dem Buch, nach dem Leser auf großartige Weise dargestellt hat. In diesem wunderbaren Buch mit Flügeln, das die beiden Seiten des Buches sichtbar werden lässt: eine bleischwere und untragbar-unerträgliche und eine andere, die geflügelt-beflügelnde.
Bibliografie
BERNHARD, Thomas. 1986. Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
"Das war Thomas Bernhard". 1994. ORF.
GOETHE, Johann Wolfgang v. 1974 (1795-96). Wilhelm Meisters Lehrjahre. Berlin und Weimar: Aufbau Verlag.
HESSE, Hermann. 1982. Die Morgenlandfahrt. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
KAFKA, Franz. 1993. Das Schloss. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.
KAFKA, Franz. 1956. Amerika [Der Verschollene]. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.
NOVALIS. 1975. Heinrich von Ofterdingen. Leipzig: Reclam.
RILKE, Rainer Maria. 1987. Erich Zinn (Hrsg.) Sämtliche Werke, Werke I und VI. Frankfurt am Main: Insel Verlag.
ROBERT, Marthe. 1967. L'Ancien et le nouveau. Paris: Payot.
Pour citer cette ressource :
Susanne Kruse, "„Sie sind, wie Sie wissen, in die herrschaftlichen Dienste aufgenommen“ - Von der Aufgabe des Lesers ", La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), février 2020. Consulté le 06/10/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/litterature/von-der-aufgabe-des-lesers