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Versuch über Jan Wagners "versuch über mücken"

Par Jochen Thermann : lecteur - ENS de Lyon
Publié par Cécilia Fernandez le 20/05/2021

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Analyse de texte

 

versuch über mücken

 

als hätten sich alle buchstaben

auf einmal aus der zeitung gelöst

und stünden als schwarm in der luft;

 

stehen als schwarm in der luft,

bringen von all den schlechten nachrichten

keine, dürftige musen, dürre

 

pegasusse, summen sich selbst nur ins ohr;

geschaffen aus dem letzten faden

von rauch, wenn die kerze erlischt,

 

so leicht, daß sich kaum sagen lässt: sie sind,

erscheinen sie fast als schatten,

die man aus einer anderen welt

 

in die unsere wirft; sie tanzen,

dünner als mit bleistift gezeichnet

die glieder; winzige sphinxenleiber;

 

der stein von rosetta, ohne den stein.

                                                Jan Wagner

 

Jan Wagner, Regentonnenvariationen.  München : Carl Hanser Verlag 2014.

 

Ein Versuch ist ein Verfahren und zugleich eine Form der Anordnung, Versuche gibt es bei Jan Wagner einige. So bezieht sich auch die vorliegende Interpretation auf ein Gedicht, mit dem Jan Wagner in Lyon eine Lesung in der Villa Gillet eröffnet hat und das den Titel trägt: „versuch über mücken“. ((Jan WAGNER, Jan.  2014. Regentonnenvariationen. München : Carl Hanser Verlag, S. 21.))

Es ist zunächst eine Geste der Bescheidenheit. Anderes, Besseres könnte über Mücken gesagt werden. Vielleicht wird das Gedicht, den Mücken nicht gerecht; schließlich wird beim Versuch das Scheitern stets mitbedacht. Beim Hochsprung, beim Kugelstoßen hat man ja auch drei Versuche. Vielleicht ist der Versuch also gar nicht der beste. Als Titel für ein Gedicht heißt das auch, dass weniger das Resultat im Mittelpunkt steht, als das Versuchen an sich.

Der Versuch ist nämlich zugleich auch ein Verfahren. Er ist experimentell, er probiert etwas aus, er geht an Grenzen, um einen Punkt zu erreichen, an dem etwas umschlägt, kollabiert oder explodiert, an dem etwas zu schwingen beginnt oder abhebt.

Und so ist es bei aller Bescheidenheit auch nicht wenig, was das Gedicht versucht. Der „versuch über mücken“ probiert, den Tanz der Mücken als eine Geheimschrift zu entziffern. Dass dieser Versuch sein komplexes Verhältnis zur Wirklichkeit sehr deutlich reflektiert, drückt gleich der Beginn im Konjunktiv II aus: „als hätten sich alle buchstaben// auf einmal aus der zeitung gelöst// und stünden als schwarm in der luft.“ (V.1-3)

Der Schein, den die Mücken erzeugen, wird klar als Irrealität markiert. Die Hoffnung auf ihre Mitteilungskraft ist den Mücken somit einerseits auf der Ebene, wie sie wahrgenommen werden, eingeschrieben, erscheinen sie doch als herausgelöste Buchstaben einer Zeitung, als Elemente einer Schrift, einer Neuigkeit, ja, präzise wäre zu sagen: einer Sensation – im doppelten Sinne einer Sinneswahrnehmung und einer unerhörten Nachricht. Andererseits aber scheinen sie eben nur als Bestandteile einer Zeitung, sie haben sich also aus den Zusammenhängen herausgelöst und bilden wenn dann auch nur einen potentiellen Text.

Um die sensationelle Mitteilungspotenz der Mücken geht es aber dennoch. In der zweiten Strophe wird zunächst einmal indikativ bekräftigt, dass sie „in der luft [stehen]“ (V.4), um sogleich ihre mediale Durchschlagskraft zurückzunehmen: Denn sie „bringen von all den schlechten nachrichten//keine“ (V.5-6). Und doch schleicht sich ein neuer Bedeutungsschimmer ein, könnten sie doch vielleicht eine gute Nachricht, ja vielleicht sogar keine Nachricht, sondern eine poetische Bedeutung zu uns tragen. Dies nun aber wird durch einen Zug ihrer physischen Erscheinung erschwert. Die Mücken huschen nicht nur schnell durch die Luft, es sind „dürftige musen, dürre// pegasusse“ (V.6-7). Ihr Mitteilungsbedürfnis ist gekappt: sie „summen sich selbst nur ins ohr“ (V.7).

Erneut wird mit der Enttäuschung ihrer Aussagekraft diese nicht vollständig getilgt, gehorchen sie mit der Verweigerung der Kommunikationsfunktion doch durchaus noch der Idee einer poesie pure, einer Kunstautonomie, die nicht als Nachricht, nicht als Information gesendet und empfangen wird, sondern der poetischen Funktion der Sprache entsprechend, autoreferentiell verstanden werden kann. ((Vgl. KÜPER, Christoph. 2017. Sprache und Metrum. Semiotik und Linguistik des Verses. Tübingen: Walter de Gruyter, S. 14-15.)) Die poetische Sprache verweist auf sich selbt, sie summt „sich selbst nur ins Ohr“.

Diese Grenze des Mitteilens, letztlich auch des Verifizierbaren lässt an jenen Grenzwert des Versuchs als Umschlagpunkt in der Ausführung einer experimentellen Anordnung zurückdenken. In den weiteren Versen nun wird in diesem Sinne das Motiv der Schwelle von Wahrnehmung und Schein, von Nachricht und ihrem Entzug weiter variiert und erweitert: die Pegasus-Mücken sind „geschaffen aus dem letzten faden// von rauch, wenn die kerze erlischt“. Die Komposition des Gedichts verschränkt den sinnlich-situativen Vorstellungskreis eines Sommerabends auf der Terrasse mit Kerzenlicht und Mückenschwarm mit dem in der erlöschenden Kerze mitschwingenden Semantik des erlöschenden Lebenslichts. Somit bewegen sich die Mücken nicht mehr nur auf der Schwelle von Schein und Sein, von Mitteilung und Nicht-Mitteilung, sondern auch auf der von Leben und Tod, sind sie doch selbst aus diesem stofflichen Element, das für die Schwelle von Licht und Dunkel steht.

Diese eigenartig schwebende Existenz, durch die sie als „so leicht“ erscheinen, „dass sich kaum sagen lässt: sie sind“, wird noch einmal in der folgenden Terzine betont. Sie werden zu Botschaftern eines Zwischenreichs zwischen Leben und Tod, Diesseits und Jenseits: „als schatten, die man aus einer anderen welt// in die unsere wirft“ (V.11-12).

Die poetische Evokation der nichtigen Mücken steuert auf ihren finalen Höhepunkt zu: Noch einmal, dabei einen Bogen zum Anfang zurückwerfend, begegnen sie vor dem Auge des Lesers in ihrer alltäglichen Wahrnehmung als tanzend – wie Musen können wir nun V.5 aufgreifend ergänzen – und ähnlich wie zu Beginn, sind ihre „glieder“ nicht nur „dünner als mit bleistift gezeichnet“, – hier wird übrigens auch das Schwarzgrau der Zeitungslettern und des Rauchfadens aufgenommen und fortgeführt – es sind auch „winzige sphinxenleiber“: Träger eines Rätsels, das sie uns nicht explizit mitteilen, indirekt über das Gedicht aber nun doch: Ob sie nicht eine Geheimschrift aus einer anderen Welt bilden, die ihrer Entzifferung harrt, weil sie so klein und unlesbar und vor allen Dingen schwerelos ist, dass ihr das fehlt, was ein Medium benötigt, nämlich ein materieller Träger. Sie ähneln Hieroglyphen. Beim Stein von Rosetta, wo die Hieroglyphen zunächst unlesbar erschienen, gelang es Jean-Francois Champollion, sie zu entziffern und damit weitere Hieroglyphen lesbar zu machen. Die Mückenschrift aber hat eine Besonderheit, sie erscheint als „stein von rosetta, ohne den stein“. 

Die Hieroglyphen sind in die Luft geschrieben, ihre Rätselhaftigkeit ist potenziert, eine Vorstellung, die das Gedicht durch die Anordnung von Möglichkeiten und Gewissheiten mit aller Leichtigkeit als einen Gedankenversuch hervorruft. Zur Versuchsanordnung gehört konstitutiv die Wahrnehmung der Schwelle, der Zwischenposition rationaler Gewissheit und poetischer Möglichkeit. Erst in dieser Engführung erscheint der Punkt, an dem der Sinn der Verse flackert und stets vom Sinnlich-Konkreten ins Imaginär-Jenseitige umschlägt, an dem eine von Hofmannsthal beschriebene und von Benjamin praktizierte Fähigkeit entsteht: „was nie geschrieben wurde, lesen.“ Jan Wagners Gedicht „Versuch über Mücken“ lädt den Leser dazu ein, genau das zu versuchen, und weist so über sich selbst hinaus.

Notes

Pour aller plus loin

Jan Wagner lit le poème "versuch über mücken" à partir de 4'25

Pour citer cette ressource :

Jochen Thermann, "Versuch über Jan Wagners "versuch über mücken"", La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), mai 2021. Consulté le 12/10/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/litterature/litterature-contemporaine/versuch-uber-jan-wagners-versuch-uber-mucken

  Couverture du recueil de poèmes de Jan Wagner. Entrelacs de feuilles nervurées dans des nuances de gris

Jan Wagner, Regentonnenvariationen.  München : Carl Hanser Verlag 2014. 112 Seiten