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Reinhard JIRGL: «Die Unvollendeten» (2003)

Publié par mduran02 le 14/09/2011

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Reinhard Jirgl: Die Unvollendeten, München, Carl Hanser Verlag, 2003, 256 Seiten. ISBN 3446202714

Reinhard Jirgl, geboren 1953 in Ost-Berlin, studierte nach einer Lehre als Elektromechaniker Elektronik an der Humboldt Universität zu Berlin. Parallel dazu begann er in den siebziger Jahren zu schreiben. In der DDR-Zeit wurden seine Texte allerdings nie veröffentlicht, weil sie mit der Ideologie der Partei nicht übereinstimmten. Neben dieser Tätigkeit verdiente Jirgl seinen Lebensunterhalt als Techniker an der Volksbühne. Vor der Wende hatte er schon mehrere Manuskripte verfasst, die erst in den neunziger Jahren erscheinen durften. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Berlin und ist seit 2009 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Sein Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, vom Alfred-Döblin-Preis 1993 bis zum Georg-Büchner-Preis 2010. Dies ist ein Zeichen dafür, dass Jirgl Anerkennung in der Literaturwelt und bei den Literaturkritikern fand.
Bildnis von Reinhard Jirgl

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

In seinem 2003 erschienenen Werk Die Unvollendeten erzählt er die Geschichte einer Familie vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts. Oder genauer gesagt, die Geschichte von vier Frauen, die als einzige in der Familie den Krieg überlebt haben: die Großmutter Johanna, die zwei Töchter Maria und Hanna sowie deren siebzehnjährige Tochter Anna. Sie lebten im Sudentenland und wurden im Sommer 1945 ins neue "doitsche" Land vertrieben. Jirgl erzählt ohne jede Spur von Melodramatik und ohne Partei für die Vertriebenen oder die Einheimischen zu ergreifen, was den Leser umso mehr rührt. Er gibt diesen Deutschen, die in der Nachkriegszeit im Exil leben mussten, eine Stimme: der Schock des langen Transports, die Hürden bei der Suche eines Ortes, wo sie sich niederlassen könnten, das Immer-weiter-fahren-müssen, die Schwierigkeit, sich einzuleben und von den anderen akzeptiert zu werden. "1 Mal Flüchtling immer Flüchtling".

Die ganze Geschichte wird aus der Perspektive der Figuren betrachtet. Ihre Moral, ihre Lebensanschauung ist der Punkt, woran sie sich in ihrer Vertreibung immer festhalten können, das einzige, was weiterhin bestehen kann und deswegen auch bestehen muss. Eine Spur von Stabilität, die Basis einer neuen Zukunft, die Hoffnung, sich selbst nicht verlieren zu müssen. "Wer seiner Familie den Rücken kehrt, der taugt Nichts". Wie dieser immer wieder kehrende Satz zeigt, spielt die Familie eine besondere Rolle für die Figuren, vor allem für die Mutter Hanna. Schwer erweist es sich allerdings, die materiellen Bedürfnisse zu decken, ohne die Verwandten zu vernachlässigen. Ein ständiges Hin und Her, das Hanna hin- und herreißt. Die Heimat wird lange hoffnungsvoll gesucht und die Rückkehr gewünscht. Das Ziel eines Lebens, das die Figuren weitertreibt. Bis keine Hoffnung mehr besteht. Nach einem ersten Teil, in dem die Vertreibung und deren Folgen erzählt werden, wird im zweiten Teil die Familie in die "DeDeR" hineinversetzt. Die Verwandten, die Toten, das Vergangene, die Fehler der nun erwachsenen Tochter Anna und dazu noch die Partei, ihre Prinzipien beeinflussen ihr ganzes Leben, ohne dass die Stigmata des Exils vergessen werden können.

Die Unvollendeten enthält zahlreiche autobiographische Elemente: Jirgl selbst kommt aus einer aus dem Sudentenland vertriebenen Familie, lebte jahrelang bei seiner Großmutter, wie der Sohn Annas, und seine eigene Mutter war auch Dolmetscherin. Im dritten und letzten Teil ist Enkel Reiner der Ich-Erzähler, er erzählt seine Suche nach sich selbst als Teil der Familie der Unvollendeten, deren Mitglieder es immer an etwas fehlt, seitdem sie ihre Heimat verloren haben. Und dies überträgt sich auf Generationen, das Exil streckt sich selbst über diejenigen weiter, die die Vertreibung nicht miterlebt haben...  "FÜR = IMMER" Dem Enkel fehlt die Lebenskraft. Er konnte sie weder in seiner Tätigkeit als Zahnarzt noch in seiner Leidenschaft für Bücher finden, da er schnell von der Realität der wirtschaftlichen Welt eingeholt wurde. Krebs kommt noch dazu, aber im Endstadium fühlt sich Reiner damit beauftragt, den Werdegang seiner Familie niederzuschreiben. Die gleiche Geschichte, aber auch eine andere durch die neue Perspektive und das Weitertragen eigener Erinnerungen sowie dieser seiner Vorfahren. "Es geht weiter", ohne Schlusspunkt. Jirgl beschreibt Momente dieser Familiengeschichte detailreich, genau und sehr lebendig. Er spielt mit der Sprache, wie hier schon in einigen Zitaten aufgezeigt wurde: So verwendet er alle Möglichkeiten, die ihm in der Schrift zur Verfügung stehen und schreibt einmal kursiv, einmal ganze Wörter oder gar Absätze groß, unterstreicht andere. Auf diese Weise werden Collagen eingefügt. Gedankenstriche werden häufiger verwendet als es sich normalerweise gehört und die Interpunktion taucht an unüblichen Stellen auf; zum Beispiel finden sich Ausrufezeichen vor dem betonten Begriff und Fragezeichen nie am Ende vom Satz. Die Konjunktion und wird entweder abgekürzt u. oder durch das Zeichen & wiedergegeben. Lautmalereien und gesprochene Sprache finden hier ebenfalls einen Platz. Ein solcher Stil kann den Leser am Anfang ins Stolpern bringen. Wenn man sich aber daran gewöhnt hat, wird es wie eine andere Sprache, deren Besonderheiten man leicht genießen kann. Eine gewisse Anpassungsfähigkeit wird dabei vorausgesetzt. Ein Absatz über den Krebs kann dies sicherlich gut darstellen:

[...] !Daraus schöpfen Sie Ihre Hoffnung Kopf !hoch, sagte der Henker Chemo-Terra-=Es-geht-weiter & so gehen die-Menschen=voller Enttäuschung um !Ich hab scheißende Angst Das sag ich=!frei heraus Keinenacht schlaf ich vor Dieserangst: Jetz ist Es soweit !Jetz gehen DIE SCHMERZEN los DIE hören nie wieder auf !Niewieder - O ES TUT SO WEH Aufgemacht-&-gleichwieder-zugenäht [...] (S. 213)

In einem im Juli 2010 von der Berliner Literaturkritik geführten Interview erklärt Jirgl bezüglich seiner Sprachkunst:

Es ist nicht schwierig, es ist nur zeitaufwendig. Es ist einfach so, dass Sprache nicht nur ein Instrument ist, um Inhalte zu transportieren. Sprache selbst hat ja auch ein Material und einen Kunstwert. Sprache selbst hat auch eine Geschichte und wenn man die aufbricht, dann sieht man, woher die Buchstaben kommen, was in den Buchstaben stecken könnte - nämlich Körper- und Charaktersignale.

Das Buch Die Unvollendeten wurde 2007 zum ersten Roman Jirgls, der ins Französische unter dem Titel Les Inachevés übertragen und bei Quidam Editeurs veröffentlicht wurde.

 

Pour citer cette ressource :

Reinhard JIRGL: Die Unvollendeten (2003), La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), septembre 2011. Consulté le 27/12/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/litterature/fiches-de-lecture/reinhard-jirgl-die-unvollendeten-2003-

Zum Autor

lekti-ecriture.com

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