Interview mit Klaus P. Hansen: Über Kollektive, Pauschalurteile und Stereotype
Prof. Dr. Klaus P. Hansen lehrte 23 Jahre lang an der Universität Passau Amerikanistik und Kulturtheorie. Heute gilt er dank seiner zahlreichen Vorträge und Schriften als einer der führenden Kulturwissenschaftler Deutschlands.
Seit 2003 widmet er sich dem noch wenig beachteten Forschungsgebiet der menschlichen Kollektivität, für deren Grundlagenforschung er im selben Jahr eine Stiftung, die Hansen Stiftung, ins Leben rief. Sie fördert Aktivitäten, insbesondere Promotionen, im Bereich der Kollektivwissenschaft.
2013 schloss die Stiftung einen Kooperationsvertrag mit der Universität Regensburg. Herzstück dieses Vertrags ist die beidseitige Finanzierung einer Forschungsstelle und einer Professur für Kollektivwissenschaft. Solange diese noch nicht besetzt ist, wird sie von Prof. Hansen vertreten.
L'interview du Prof. Dr. Klaus P. Hansen a été réalisée par Andrea Klinger, lectrice à l'ENS de Lyon.
Andrea Klinger: Warum ist für Sie der Begriff Kollektiv so wichtig?
Prof. Dr. Klaus P. Hansen: Nehmen wir eine alltägliche Aussage: „Bayern München hat gestern schlecht gespielt.“ Was heißt das genau? Dass alle Spieler schlecht waren? Oder die Mehrheit der Spieler? Lag es an der Gruppendynamik, am taktischen Zusammenspiel? Die Aussage ist ein Pauschalurteil, das die Wirklichkeit glättet. Ich spreche von Homogenisierung, Vereinheitlichung oder Angleichung. Man lässt das Unterscheidende, die Heterogenität weg. Dass Lothar Müller gut spielte, fällt der Homogenität zum Opfer. Trotz dieser Lücke ist die Aussage für den Alltagsdiskurs am Tresen in Ordnung.
Andrea Klinger: Und wann wäre sie nicht in Ordnung?
Prof. Dr. Klaus P. Hansen: Der Türsteher vor der Disko lässt die eine Gruppe nicht rein, aber die andere. Wie kommt er dazu? Er schließt vom Äußeren auf das Innere. Er schließt von aggressiver Kleidung auf den Charakter. Er pauschaliert, d.h. er homogenisiert Äußeres und Inneres. Er gleicht es an. Damit kann er falsch liegen und den Betroffenen Unrecht tun. Dennoch hat sich die Institution Türsteher bewährt. Obwohl er genau genommen die Funktion hat, zu diskriminieren.
Andrea Klinger: Sind Pauschalurteile also immer schlecht?
Prof. Dr. Klaus P. Hansen: Nein. Den Führerschein kann man erst ab 18 erwerben. Dahinter steckt die Pauschalierung, dass der jugendliche Mensch ab diesem Lebensjahr reif genug ist, ein Fahrzeug zu führen. Dem 15 Jährigen, der schon früher reif ist, geschieht Unrecht, und auch dem unreifen 19 Jährigen geschieht sozusagen positives Unrecht. Für die Mehrheit trifft die Regelung aber zu, was statistisch belegt ist. Für den Senior allerdings gilt eine andere Regelung, die nicht pauschaliert. Er muss, wenn er ein bestimmtes Alter erreicht hat, eine erneute Fahrprüfung ablegen. Hier geht man korrekt vom Einzelfall aus und pauschaliert nicht.
Andrea Klinger: Sind nationale Vorurteile auch Pauschalierungen?
Prof. Dr. Klaus P. Hansen: Sie meinen Feststellungen wie „Deutsche sind pünktlich“ und „Schotten geizig“? Hier muss man nach der Art des Urteils unterscheiden. Handelt es sich um ein Universalurteil, ein Mehrheitsurteil, ein Pauschalurteil oder eine bloße Zuschreibung. Ein auf wirklich alle Angehörigen zutreffende Beschreibung wie „Afrikaner sind dunkelhäutig“ bezeichne ich als Universalurteile. „Männer haben Bartwuchs“ wäre ein weiteres dieser Universalurteile, die meistens langweilig sind und keinen Erkenntnisgewinn ergeben. „Deutsche sind pünktlich“ hört sich an wie ein Universalurteil, dabei ist es ein pauschaliertes Mehrheitsurteil, wenn ich es statistisch überprüft habe. – Das hat noch keiner getan, dabei wäre es so einfach: Ich kaufe mir eine Uhr und verabrede mich mit einem repräsentativen Schnitt durch die Bevölkerung. Dabei würde höchst wahrscheinlich herauskommen: Die Alten sind pünktlicher als die Jungen. Das wären differenziertere Kollektiv-Urteile.
Andrea Klinger: Was sind Stereotype?
Prof. Dr. Klaus P. Hansen: Meistens sind sie nationale oder berufsbezogene Vorurteile wie „Beamte sind faul“, die unüberprüft und uralt sind. Im besten Fall sind es Mehrheitsurteile; im schlechtesten unzutreffende Zuschreibungen. Zum Stereotyp, „Schwaben sind geizig“, kann man nichts sagen, denn es ist nicht überprüft. Wenn man dieses Urteil aber mit dem Einspruch kontert, das ist ein bloßes Stereotyp, was kritisiert man damit eigentlich? Warum hat man nicht gesagt: Das ist ein Fehlurteil! Meinte man mit Stereotyp die Pauschalierung oder den fehlenden Beweis? Könnte man den erbringen, sodass es ein gesichertes Mehrheitsurteil würde, nach dem Muster 51% der Schwaben sparsam sind. Stereotyp heißt aber auch, dass das Urteil diskriminiert. Dennoch benutzen wir sie heute noch, allerdings ironisch gebrochen. So würde ein Journalist aktuell etwa schreiben: „Dass der neue Bahnhof Stuttgart gar so viel kostet, muss einem Schwaben besonders weh tun.“ Wir benutzen die klassischen Stereotypen weiterhin, allerdings mit schlechtem Gewissen. Wir machen klar, dass wir um den Stereotypencharakter wissen.
Andrea Klinger: Lieber Prof. Hansen, ich bedanke mich für diese kleine Kostprobe aus ihrer Arbeit. Was würden Sie dem empfehlen, der Appetit auf mehr hat?
Prof. Dr. Klaus P. Hansen: Der lese meinen UTB Band Kultur und Kulturwissenschaft (4. Auflage).
Pour citer cette ressource :
Klaus P. Hansen, Andrea Klinger, "Interview mit Klaus P. Hansen: Über Kollektive, Pauschalurteile und Stereotype", La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), mai 2020. Consulté le 09/10/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/civilisation/civilisation/interview-mit-klaus-p-hansen-uber-kollektiv-pauschalurteile-und-stereotype