Julia Franck: «Die Mittagsfrau»
ENS de Lyon
Julia Franck: Die Mittagsfrau, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 1. Auflage 2007, 5. Auflage, 430 Seiten. ISBN: 978-3-596-17552-9
Deutscher Buchpreis 2007.
Die Mittagsfrau ist der bislang letzte Roman der 1970 geborenen Schriftstellerin Julia Franck. Für ihren im September 2007 erschienenen Roman erhielt sie den Deutschen Buchpreis 2007. 1997 veröffentlichte sie ihren Debütroman, Der neue Koch. Im Jahr 1999 folgten der Roman Liebediener, 2000 der Erzählband Bauchlandung. Geschichten zum Anfassen und im Herbst 2003 erschien der Roman Lagerfeuer. Ihre Romane sind auch außerhalb Deutschlands bekannt.
Der Roman beginnt im Jahr 1945, acht Wochen nach dem Kriegsende. Eine Krankenschwester hat die Absicht, mit ihrem siebenjährigen Sohn aus Stettin zu flüchten. Doch verlässt sie ihn, allein mit seinem kleinen ochsenblutfarbenen Koffer. Der Roman ist der Versuch, dieser von vornherein unverständlichen Tat - wenn irgend möglich - auf den Grund zu gehen.
Der Leser wird in die Zeit unmittelbar vor Kriegsbeginn versetzt. Helene - die Mutter im Prolog - lebt in Bautzen in der Lausitz mit ihrer großen Schwester Martha, ihrem liebevollen Vater und ihrer jüdischen, verwirrten, öfters in Wut ausbrechenden Mutter. Helene ist offensichtlich begabt und sehnt sich danach, wie Martha Krankenschwester zu werden. Mit Martha siedelt sie nach Berlin über und erlebt die goldenen, wilden Zwanziger, zusammen mit ihrer altvertrauten Freundin Leontine. Ihre erste Liebe, Carl, stirbt kurz vor der Verlobung: Für Helene wird sich das Leben zum Überleben entwickeln. Sie begegnet einem anderen Mann, einem nazistischen Ingenieur. Sie ziehen nach Stettin, wo die Geburt ihres Sohnes alles völlig verändert.
Julia Franck erzählt "ein Leben, das in die Mühlen eines furchtbaren Jahrhunderts gerät" (Fischerverlag.de). Sie schneidet unzählige Themen an, wie die Liebe und ihre Qualen, der Tod, Gott, die Philosophie, die Homosexualität, die Blutschande, die Droge, der Krieg und seine Grauen, der Nationalsozialismus und der Judenhass, die Verantwortung der Menschen - jedoch ohne dass diese Fülle bedrückend wirkt. Sie schildert die Figuren in all ihren Widersprüchlichkeiten, so dass man in den Mühlen der Erzählung gefangen ist.
Die Mittagsfrau ist zwar eine historische Darstellung, aber auch das psychologische Portrait einer Figur, Helene. "Die Mutter sei am Herzen erblindet, das hatte Martha einmal gesagt" (Seite 119). Genau diese Blindheit erschreckt Helene: "Helene spürte die alte Furcht in sich aufkommen, sie könne eines Tages erblinden wie diese Mutter" (Seite 122). Bevor sie den Zug nach Berlin nimmt, wird ein Korb Zitronen erwähnt: Es könnte als vorwegnehmendes Symbol der Bitterkeit des Lebens Helenes fungieren. Helene, alias Engelchen oder Goldblatt, erlebt nämlich ein eher tragisches Dasein. "Alles ist möglich, Engel, die Welt steht uns offen", behauptet Martha. Obgleich es irgendwie unecht wirkt, hat diese Aussage den Vorzug, den Kern des Romans zu treffen: Die Mittagsfrau erzählt vom Leben, von den Geschenken, die es einem beschert oder verweigert.
Pour citer cette ressource :
Catherine Dolt, "Julia Franck: «Die Mittagsfrau»", La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), mai 2016. Consulté le 05/11/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/bibliotheque/julia-franck-die-mittagsfrau-