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Wir brauchen eine andere Geschichte über uns selbst

Par Prof. Dr. Harald Welzer : Psychosociologue et directeur de recherches en psychologie sociale - Université Witten/Herdecke
Publié par mduran02 le 06/01/2013

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Dans le cadre du festival d'idées Mode d'emploi organisé par la Villa Gillet à Lyon du 20.11 au 2.12.2012, Harald Welzer a participé au débat intitulé "Changement climatique, épuisement des ressources : comment habiter la planète de demain ?". La Clé des langues propose ici sa contribution en allemand.

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Die Nachhaltigkeits- und Klimaschutzbewegung hat keine Geschichte zu erzählen. Sie hat lediglich zu sagen, dass alles sofort anders werden muss, damit es bleibt, wie es ist. Da es aber ohnehin ist, wie es ist, bleibt solche Rhetorik völlig wirkungslos. Es ist daher nötig, eine neue Geschichte über uns selbst zu erzählen. Und darüber, wie wir in Zukunft sein wollen.

Eine solche Geschichte muss eine gute Geschichte sein – eine von den Möglichkeiten eines besseren, gerechteren, qualitätvolleren Lebens, das nicht die einen auf Kosten der anderen führen. Die Nachhaltigkeits- und Klimaschutzbewegung argumentiert katastrophisch: Fünf vor zwölf ist es andauernd, man habe keine Zeit, müsse gleichwohl sofort die Welt retten, und zwar die ganze, ansonsten drohten Desaster – Extremwetterereignisse, Dürren, Überschwemmungen, Hurrikans –, die Tod und Verderben für die Menschheit bringen. Darunter macht man es gewöhnlich nicht: immer geht es um die ganze Welt, die ganze Menschheit und die sofortige, zu allem entschlossene Rettung des Planeten. Das ist falsch und ideologisch. Falsch ist es deswegen, weil das alles zwar gesagt, aber nie eingelöst werden kann. Weder gibt es eine Weltgemeinschaft, die sich für die Rettung der Erde zuständig fühlt, noch wird es sie auf absehbare Zeit geben: Gerade der Klimawandel teilt die Welt in Gewinner und Verlierer. Das Ergebnis wird, wie Lars Clausen richtig gesagt hat, eine „failed globalisation“ mit unabsehbaren Folgen sein (Clausen 2010: 102). Der Anspruch auf Weltrettung ist darüber hinaus ideologisch: Wer auf den Müllhalden der Megacities der Dritten Welt lebt, kann an der Weltrettung nicht interessiert sein; ihm würde die Rettung seines Kindes vor dem Verhungern schon genügen. Und dass man diese Rettung nicht stellvertretend übernehmen kann, das wissen wir seit den totalitären Verirrungen der Studentenbewegung 1968. Andere aus der Komfortzone heraus verbal vor Elend und Erniedrigung zu schützen, das war damals schon ideologisch und ist es heute umso mehr – wissen wir doch, dass ihr Elend die Kehrseite unseres Komforts ist, und zwar in jeder Hinsicht.

Davon abgesehen ist die Rede von der Weltrettung nicht nur überheblich, sondern auch völlig untauglich, Menschen zu motivieren, sich um die Welt auch nur zu kümmern. Wenn man von vornherein weiß, dass etwas nicht in der eigenen Macht steht, gibt es psychologisch auch kein Motiv, es überhaupt erst zu versuchen. Veränderung geschieht nicht vor dem Hintergrund von Katastrophenszenarien; sie benötigt ein positives Ziel, und zwar eines, das mit der eigenen Identität und mit der Person, die man sein möchte, in Verbindung gebracht werden kann. Niemand rettet etwas abstrakt, sondern immer nur konkret: Es muss benennbar und erfahrbar sein, wofür man sich einzusetzen bereit ist. Dafür taugen der Klimawandel, das CO2 und die ganze naturwissenschaftlich grundierte Apokalyptik nicht. Dafür braucht es positive, anschauliche, lebenswirkliche Ziele: so etwas wie eine Stadt ohne Autos, ein Bildungssystem, in dem das Lernen Spaß macht, Formen von Gemeinschaftlichkeit, die Sinn und Bedeutung anders definieren als allein über Konsum. All das wäre auch dann wünschenswert, wenn es gar keinen Klimawandel gäbe.

Zur Entwicklung von Strategien für ein besseres Leben gehört auch die Sichtung dessen, worauf man aufbauen und worauf man in Zukunft ohne Not verzichten kann. Das zunächst im europäischen Westen und in Nordamerika entstandene System einer kapitalistischen Wirtschaft, die auf der Nutzung fossiler Energien und der damit verbundenen unablässigen Produktivitäts- und Mehrwertsteigerung beruht, hat ja nicht nur brutale Schäden am Ökosystem mit sich gebracht, sondern ungeheure, im historischen Maßstab ganz einzigartige zivilisatorische Fortschritte ermöglicht: allgemeine Bildung, Gesundheitsversorgung, Existenzsicherung, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Wohlstand – das sind alles Errungenschaften, die in vormodernen Gesellschaften undenkbar waren. Man wird das auch in Zukunft nicht preisgeben wollen. Allerdings wird man dafür eine gänzlich veränderte Grundlage benötigen. Denn die fossil angetriebene Zivilisationsmaschine, die solche sozialen Fortschritte ermöglichte, hat die längste Zeit nur einen sehr kleinen Teil der Welt beliefert. Den großen Rest der Welt hat sie als Reservoir betrachtet, aus dem man jeglichen Treibstoff für die Erfüllung aller Bedürfnisse dieses zivilisatorischen Modells beziehen konnte. Das ist vorbei.

Schon die Schäden, die dieses Modell dem Erd- und Klimasystem zufügen konnte, als es noch partikular war, waren gigantisch. Inzwischen aber ist es eben nicht mehr partikular, sondern globalisiert, und wenn mittlerweile nicht mehr nur der kleinste, sondern der größte Teil der Weltgesellschaften dem Prinzip der unbegrenzten Ressourcenübernutzung folgt, wächst die Ausbeutung und Verschmutzung der Welt exponentiell. Eine globale Wachstumswirtschaft zerstört die Voraussetzungen, auf die sie gebaut ist, in kürzester Zeit.

Die Phase des höchsten Materialverbrauchs und der größten Emissionssteigerung liegt spät nach den Anfängen der Industrialisierung: Sie begann so recht erst in der Nachkriegszeit und entfesselte ihre Zerstörungskraft vollends nach dem Fall des Ostblocks und dem Aufstieg der Schwellenländer – also in der Transformation von der bipolaren zur multipolaren Weltordnung. Die Geschwindigkeit der Zerstörung wächst von Jahr zu Jahr.
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(Abb. 1: Materialaufwand pro Kopf im Vergleich zum Energieverbrauch, Quelle: Krausmann u.a. 2009)

Lebens- und Überlebenskunst

Eine künftige Lebens- und Überlebenskunst kann nur darin bestehen, das erreichte zivilisatorische Niveau in Sachen Bildung, Gesundheit, Sicherheit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit zu halten, gleichzeitig aber den Ressourcenverbrauch radikal abzusenken. Das Paradigma heißt Kultivierung, nicht Wachstum. Im Moment ist es beliebt, von „qualitativem Wachstum“ zu sprechen, das mittels einer „Entkoppelung“ von Materialverbrauch und Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu erreichen sei. Aber bei den zur Begründung herangezogenen Daten zur gesteigerten Energieproduktivität je Einheit des BIP handelt es sich wohl um nicht mehr als um jene Effizienzgewinne, die die technologische Entwicklung seit je ermöglicht. Wenn trotzdem jedes Jahr die Verbrauchsmengen und die Emissionen ansteigen, zeigt das klar, dass das Wirtschaftswachstum die Effizienzgewinne überkompensiert. Wenn überhaupt, kann es nur zu einer relativen Entkoppelung kommen; absolut steigen mit wachsender ökonomischer Aktivität Ressourcenverbrauch und Emissionen weiter an.

Dass man den bisherigen Lebensstil fortschreiben, dabei aber weniger Ressourcen verbrauchen könne, ist also ein Märchen, das alle, leider auch die Grünen, erzählen. Es ist bebildert mit Windrädern, Elektroautos und Bio-Supermärkten – wie eine gigantische Rama-Frühstückswerbelandschaft voller glücklicher, von solarer Energie befeuerter Menschen, die ansonsten aber derselben Konsumkultur frönen, dasselbe Mobilitätsverhalten aufweisen und denselben technischen Fremdversorgungen vertrauen wie heute. Die grüne Utopie heißt: „Wie jetzt, nur besser.“

Wenn man aber die Fehlentwicklungen zurücknehmen will, die mit der kapitalistischen Kultur und vor allem der Wachstumswirtschaft einhergehen, muss man eine andere Utopie denken können als die Werbeindustrie: Eine zukunftsfähige Welt wird weniger, nicht mehr Produkte bieten; weniger, nicht mehr Mobilität bereitstellen; sie wird keine Kultur der chronischen Verfügbarkeit von allem sein. Darüber nun kann eine ganz neue Geschichte erzählt werden: die Geschichte einer reduktiven Moderne, in der intelligent mit Ressourcen umgegangen und dabei eine ganz neue Lebensqualität in ökologischer wie in sozialer Hinsicht gewonnen wird.

Bibliografie

Welzer, Harald et al. : KlimaKulturen: Soziale Wirklichkeiten im Klimawandel, Frankfurt am Main, Campus Verlag.

 

Pour citer cette ressource :

Prof. Dr. Harald Welzer, "Wir brauchen eine andere Geschichte über uns selbst", La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), janvier 2013. Consulté le 28/04/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/civilisation/civilisation/environnement-et-developpement-durable/wir-brauchen-eine-andere-geschichte-yber-uns-selbst