11. November 2016 - Die Dichterin Ilse Aichinger ist gestorben
dpa (Zeit Online)
11. November 2016
Wien (dpa) - Eine immerwährende Todessehnsucht hat sich durch das Leben der Schriftstellerin Ilse Aichinger gezogen. Der Holocaust und private Schicksalsschläge prägten die zurückhaltende und medienscheue Autorin. Sie kapselte sich über die Jahrzehnte immer mehr von der Welt ab.
Mit ihren dunklen Erfahrungen, die sie in geheimnisvoller Sprache zu Papier brachte, wurde die Wienerin zu einer der wichtigsten Vertreterinnen der Nachkriegsliteratur. Ihr Gesamtwerk ist überschaubar, aber umso gewichtiger. Nun ist die Autorin mit 95 Jahren gestorben.
Besonders gezeichnet hat die Lyrikerin mit jüdischen Wurzeln die Zeit des Zweiten Weltkriegs in Wien. Dabei sei nicht das Grauen des Hitler-Regimes das Schlimmste gewesen. "Der Krieg war meine glücklichste Zeit", sagte Aichinger einmal der Wochenzeitung "Die Zeit". Die Hoffnung habe da noch gelebt, das böse Erwachen sei erst später gekommen.
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Bloß keine Verschönerung, bloß keine Lügen
Paul Jandl (Welt)
11. November 2016
Als Kind einer jüdischen Mutter überstand sie die Nazi-Herrschaft in Wien. Was sie dabei sah, vergaß sie dem Leben nie – und wurde zur großen Pessimistin der Literatur. Zum Tod von Ilse Aichinger.
Radikaler als sie kann man der Welt und dem Leben nicht abschwören: Im berühmten „FAZ“-Fragebogen antwortet Ilse Aichinger 1994 auf die Frage „Was ist für Sie das größte Unglück?“: „Die Genesis“. Als Lebensmotto gibt sie an: „Vivere non necesse est.“ Zu leben, ist nicht nötig.
Unter den österreichischen Schriftstellern ihrer Generation war Aichinger die Anarchistin. Die politischen Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend hat die Tochter einer jüdischen Ärztin dem Leben nie verziehen, so wenig, dass sie immer wieder darüber schreiben musste. Offen oder in schonungslosen Metaphern. Sie war die zarte Grande Dame der Menschenfreundlichkeit und der Weltverachtung.
„Wir müssen vom Ende her und auf das Ende hin erzählen“, schreibt Aichinger 1951, und dieser Satz muss im Zusammenhang mit ihrem Leben und ihrem Werk erst einmal ausgelotet werden. Es ist ein eminent politischer Satz, der sechs Jahre nach der politischen Apokalypse geschrieben ist, in die sich die Landsleute der Schriftstellerin sehenden Auges und voll Rassenhass hineingeritten haben, und es ist zugleich ein Satz vom Tod.
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Kunst des Verschwindens, letzter Akt
Klaus Kastberger (Zeit Online)
12. November 2016
Ihr sanfter Spott auf alles Höhere, ihr Lächeln aus Zorn auf die Welt. Die Schriftstellerin Ilse Aichinger ist nun in Wien verstorben. Ein Nachruf
Sie war da. Aber stets irgendwie so, als wäre sie nicht da. Symptomatisch dafür war eine Lesung Ilse Aichingers, zu der sie knapp nach ihrer Rückübersiedlung nach Wien Anfang der neunziger Jahre in den Hörsaal eins des Neuen Institutsgebäudes eingeladen war. Für die Wiener Avantgarde bedeutet dieser Ort historischen Boden. Ende der sechziger Jahre fand an ihm das statt, wofür der Wiener Boulevard die schöne und bleibende Bezeichnung "Uni-Ferkelei" fand. Oswald Wiener, Peter Weibel, Günter Brus und andere Exponenten der Wiener Aktionskunst nutzen eine vermeintliche Diskussionsveranstaltung zum Thema "Kunst und Revolution" für eine Performance, in der bürgerliche Tischmanieren grotesk übertrieben wurden. Es wurde öffentlich uriniert und gekotet, die Exponenten wurden verurteilt und des Landes verwiesen.
Zwanzig Jahre später betrat Ilse Aichinger mit einem Lächeln den Raum, um aus ihrem soeben erschienenem Buch Kleist Moos Fasane (im Titel stecken drei Wiener Straßennamen) zu lesen. Unter heftigem Willkommensapplaus des randvoll gefüllten Saals mit seinen steil aufragenden Sitzbänken betrat die Autorin das Podium. Ging hinter den langen Katheder, stolperte, stürzte und war plötzlich verschwunden. Im Saal war es augenblicklich still. Eine Stille, die so lange anhielt, bis sich Aichinger, gestützt von einem herbeigeeiltem Helfer, wieder aufgerappelt hatte und sich mit dem haarscharf gleichen Lächeln wie zuvor wieder über dem Pult zeigte.
_______________Schamanin, Heilerin, Dichterin
Michael Krüger (FAZ)
12. November 2016
Ein schmales, schönes Werk auch der großen Ungeheuerlichkeiten: Eine Erinnerung des Verlegers und Schriftstellers Michael Krüger an seine verstorbene Freundin Ilse Aichinger.
Ilse Aichinger war eine Spezialistin für Zaubersprüche. Wenn alles nicht half, mussten Pillen her. Ich habe mehrere Male erlebt, dass Bauern auf dem Traktor vor dem Haus hielten und laut nach Pillen riefen, die Ilse dort aufbewahrte, wo andere ihre Kräuterdosen hatten. Jeder normale Mensch musste in der Gegend der deutsch-österreichischen Grenze, wo Ilse mit ihrem Mann Günter Eich und den zwei Kindern lebte, von den Fallwinden heftige Kopfschmerzen kriegen, aber Ilses Kopfschmerzen hatten auch noch tiefere Gründe. Sie konnte in Sphären schalten und walten, die anderen unzugänglich waren.
Als wir ihr im Engadin, in einem alten Castell, den Petrarca-Preis verliehen, ging plötzlich das Licht aus. Tiefe Dunkelheit. Mazzino Montinari, der Nietzsche-Herausgeber und als solcher mit den Problemen von Hell und Dunkel vertraut, kam mit einer flackernden Kerze aus der Küche ins Festzimmer, andere zogen heftig an ihren Zigaretten, um etwas Licht zu verbreiten.
Es ist kurios, dass eine Buchpreisrunde mit einer fußballmetaphernhaltigen Verleihung endet. Aber erst die wichtigen Dinge. Bodo Kirchhoff hat am Montagabend im Kaisersaal des Frankfurter Römers den mit 25.000 Euro dotierten Deutschen Buchpreis zugesprochen bekommen.
Der Deutsche Buchpreis zeichnet den „Besten Roman“ eines Jahrgangs aus, „Widerfahrnis“ ist eine Novelle, aber Kirchhoff mendelte sich beim fortschreitenden großen Lesen zunehmend als Favorit unter den letzten sechs der Nominierten heraus – der vielleicht noch am häufigsten genannte Mitfavorit Thomas Melle hat äußerst gezielt gar keine Fiktion geschrieben, so viel dazu.
– Quelle: http://www.berliner-zeitung.de/24932162 ©2016_______________
Ilse Aichinger, die Jahrhundertzeugin
Simone Fässler (Tagesspiegel)
11. November 2016
Die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger ist tot. Sie starb wenige Tage nach ihrem 95. Geburtstag in Wien. Ein Nachruf.
Ilse Aichinger, eine der wichtigsten und widerständigsten Stimmen der deutschsprachigen Literatur nach 1945, hat immer unterschieden zwischen „leben“ und „existieren“: Die meisten Menschen leben und gehen ihren Geschäften nach, aber sie existieren nicht. Umgekehrt gibt es „Präsenzen, die nicht vergehen, sich nach dem Tod sogar noch verstärken“. Das ist weder abstrakte Spekulation noch wohlfeiler Trost. Es ist trotzige Erfahrung eines Menschen, der den Tod vor dem Leben kennen lernte. 1921 mit einer Zwillingsschwester in Wien geboren, fiel Ilse Aichingers Jugend in die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Während sie selbst als „Mischling 1. Grades“ zwar „zwangsverpflichtet“, aber vor Deportation geschützt war, wurden ihre jüdischen Verwandten 1942 in Minsk ermordet.
Die eigene Existenz hatte für Ilse Aichinger nur in der Kindheit klare Konturen, als die Küche der Großmutter über der Wiener Verbindungsbahn und die stillen Gänge der Klosterschulen für das Glück einstanden. Und dann noch einmal in der Zeit der Verfolgung. Wenn jeder Tag der letzte und jeder Abschied endgültig sein kann, erhält der Augenblick sein Recht. Und die Sprache schwingt sich auf zum hohen Ton, in dem Ilse Aichinger in ihrem frühen Roman „Die größere Hoffnung“ (1948) von einer Gruppe jüdischer Kinder erzählt, die während des Krieges gegen Angst und Verzweiflung, gegen Ausgrenzung und Deportation ihre innere Freiheit behaupten.
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Voller Sehnsucht nach dem Verschwinden
Kristina Maidt-Zinke (Welt)
11. November 2016
Ilse Aichinger war eine Ikone der Nachkriegsliteratur, wollte aber nie Erwartungen erfüllen. Zum Tode einer Schriftstellerin, die die Verneinung liebte.
Sie besaß diese wunderbare Kraft der Verneinung, die heute fremdartiger anmutet als alles andere. Ihr Motto lautete "Vivere non necesse est", Leben ist unnötig, und sie nutzte jede Gelegenheit, um ihren Gesprächspartnern mitzuteilen, dass sie es für die bessere Alternative halte, nicht auf der Welt zu sein, und für ein bewundernswertes Talent, das Dasein überhaupt durchzustehen. Auch das Schreiben, die Tätigkeit also, durch die sie zum Mythos wurde, zur Ikone der Nachkriegsliteratur, definierte sie von der Negation her, indem sie behauptete, das Nicht-Schreiben sei "der schwierigere und längere Teil dieses Berufes".
Es klang keineswegs kokett, wenn Ilse Aichinger sagte, es müsse von dem, was sie geschrieben habe, für die Nachgeborenen "gar nichts bleiben". Sie wolle keine Spur hinterlassen, erklärte sie noch zuletzt. Das allerdings wird ihr nicht gelingen.
Ilse Aichinger, berühmt und umraunt seit den Fünfzigerjahren, war eine Gegenfigur zum Literaturbetrieb, die lebende Antithese schriftstellerischer Eitelkeiten. Aber sie war deshalb weder schlecht gelaunt noch verbittert oder ostentativ todessüchtig. Das Einzige, womit sie haderte, war die Gewissheit, nach dem Sterben den Triumph des "Wegseins" nicht mehr auskosten zu können, also das Glück des Verschwindens, auf das sie hinlebte und zumindest phasenweise hinschrieb, nicht mehr bewusst zu erfahren.
Pour citer cette ressource :
11. November 2016 - Die Dichterin Ilse Aichinger ist gestorben, La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), décembre 2016. Consulté le 22/11/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/revue-de-presse/archives-revue-de-presse-2016/11-november-2016-die-dichterin-ilse-aichinger-ist-gestorben