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Alain Claude Sulzer über das Geheimnis

Par Alain Claude Sulzer
Publié par mduran02 le 21/06/2013

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In fast jedem Roman steckt ein Geheimnis, es ist mal größer, mal kleiner, mal über-zeugend, mal weniger, mal überraschend neu, mal alles andere als das. Aber natürlich ist das Geheimnis nicht das Privileg des Romans, es ist keine literarische Erfindung wie das Gedicht oder die Novelle. Es gehört zum Leben. Vor allem ist es etwas, worüber hartnä-ckig geschwiegen werden muß, will es seinen Namen verdienen. Ohne Geheimnisträger kein Geheimnis. Zwei sind mindestens nötig, die darüber nicht sprechen, weil das für sie gefährlich werden könnte. Einer allein genügt den Anforderungen an das Geheimnis nicht. Geheimnisse sind zutiefst menschlich. Tiere, die voreinander Geheimnisse haben, sind mir nicht bekannt.

vignetteportraitsulzer2_1371834984932-jpgAlain Claude Sulzer est né en 1953 à Riehen, près de Bâle. Après une formation de bibliothécaire, il travaille comme journaliste et commence à écrire dans les années 1980. Il est l'auteur de neuf romans (dont trois sont traduits en français), de nouvelles, d'essais et de pièces radiophoniques. Il est aussi traducteur depuis le français.

Les éditions Christian Bourgois publieront en novembre 2013 un recueil en français des textes écrits à l'occasion des Assises du roman.

In fast jedem Roman steckt ein Geheimnis, es ist mal größer, mal kleiner, mal überzeugend, mal weniger, mal überraschend neu, mal alles andere als das. Aber natürlich ist das Geheimnis nicht das Privileg des Romans, es ist keine literarische Erfindung wie das Gedicht oder die Novelle. Es gehört zum Leben. Vor allem ist es etwas, worüber hartnäckig geschwiegen werden muß, will es seinen Namen verdienen. Ohne Geheimnisträger kein Geheimnis. Zwei sind mindestens nötig, die darüber nicht sprechen, weil das für sie gefährlich werden könnte. Einer allein genügt den Anforderungen an das Geheimnis nicht. Geheimnisse sind zutiefst menschlich. Tiere, die voreinander Geheimnisse haben, sind mir nicht bekannt.

Was es in der Literatur gibt, gab es zuallererst in der Wirklichkeit. Ohne Leben kommt die Literatur nicht in Gang, sie genügt sich nicht selbst und schreibt sich nicht von allein. Historisch gesehen gelangte das Geheimnis über den Weg der gelebten Erfahrung und mündlichen Erzählung in die Literatur, als Ingredienz, als Mittel zur Erhöhung der Spannung, als Medium, als Ablenkung vom Wesentlichen, als Wesentliches. Die Auflösung des Geheimnisses – durch absichtlichen Verrat oder aufgrund zufälliger Entdeckung (man weiß nicht, was schlimmer ist) – hat fast immer dieselbe Wirkung. Wenn auch nicht immer eine Katharsis, so findet doch nach der Auflösung jeweils eine Entspannung statt. Manchmal auch eine Enttäuschung. Das am meisten variierte Geheimnis in der Literatur – und wohl auch im Leben – ist der eheliche Seitensprung. Er muß allerdings ausgeführt werden. Untreue in Gedanken in Ehren, aber ein Geheimnis kann man sie nicht nennen.

Was verraten ist, läßt sich nicht zurücknehmen. Was nicht mehr gehütet werden kann, gehört allen und verliert an Brisanz. Einmal draußen läßt sich das Geheimnis nicht wieder in den Schrank sperren. Wer erkannt hat, welche Mühen darauf verwendet werden, um Geheimnisse vor der Welt zu verbergen, deutet Zeichen, die auf ein Geheimnis hinweisen könnten, anders als ein Kind, das sich mit dem äußeren Schein zufriedengibt. Das fremde Frauenhaar auf dem Mantel des Ehemanns macht uns, wenn wir ihm bei der Lektüre begegnen, ebenso stutzig wie in unseren eigenen vier Wänden. Wer es einmal entdeckt hat, wird nicht müde werden, der Sache auf die Spur zu kommen.

So kann der Literatur auch die Funktion eines Ratgebers zufallen. Sie handelt nicht nur von Geheimnissen, sie kann uns auch lehren, wie man diese besser hüten kann. So mancher real begangene Seitensprung wurde durch den literarischen Ehebruch angeregt. Kein Wunder, daß im neunzehnten Jahrhundert das Lesen von Romanen als verderblich galt, und man insbesondere Frauen davon abhalten wollte, sich dieser Dienstmädchensucht hinzugeben.

Doch kehren wir zur Literatur zurück, die uns nur dadurch von der Güte eines Geheimnisses zu überzeugen vermag, indem es aufgelöst wird, wodurch es allerdings den Anspruch darauf verliert, ein Geheimnis zu sein. In der Literatur muß der Nebel sich lichten. Das Leben ist seltener um Auflösung bemüht. Ist es damit der Literatur überlegen? Die meisten Geheimnisse – große wie kleine – werden zeitlebens gehütet und gehen nicht selten mit ihren Bewahrern ins Grab. Die wahren Geheimnisse sind jene, die das Licht der Welt so scheuen, daß sie es nie erblicken werden.

Geheimnis ist Mangel an Wissen (der Mehrheit) oder anders gesagt: Geheimnis ist Wissen, das aus Selbstschutz und Eigennutz zurückgehalten wird. Daß es manchmal schiefgeht, ist die Kehrseite derselben Medaille: Wüßte Romeo, was Julia mit Pater Lorenzo ausgeheckt hat, um den Verfolgungen durch die verfeindeten Familien zu entgehen, würden beide überleben. Das Glück wäre vollkommen, aber uns fehlte ein Stück Literatur. Glück aber paßt zum Geheimnis nur partiell. Glück – oftmals vermischt mit Schuldgefühlen – ist auf jene Dauer begrenzt, in der das Geheimnis nur den Beteiligten gehört. Wenn ihm die Luft ausgegangen ist, ist es nichts weiter als ein geplatzter Luftballon. Man wirft es weg.

Alain Claude Sulzer

 

Pour citer cette ressource :

Alain Claude Sulzer, "Alain Claude Sulzer über das Geheimnis", La Clé des Langues [en ligne], Lyon, ENS de LYON/DGESCO (ISSN 2107-7029), juin 2013. Consulté le 19/04/2024. URL: https://cle.ens-lyon.fr/allemand/litterature/litterature-contemporaine/entretiens/alain-claude-sulzer-yber-das-geheimnis